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Rajewsky, Boris

Boris Rajewsky

Boris Rajewsky
Fotografie von Alexander Bopp (spätestens 1966).

© Institut für Stadtgeschichte, Ffm. (Sign. S7P Nr. 11372).
Rajewsky (auch: Rajewski), Boris. Prof. Dr. phil. nat. Dr. h. c. mult. Biophysiker und Radiologe. * 19.7.1893 Tschigirin (Russisches Kaiserreich, heute Ukraine), Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.† 22.11.1974 Ffm.-Höchst, begraben auf dem Südfriedhof in Ffm.
Sohn von Nikolaus R. (1838-1907), einem höheren Staatsbeamten im zaristischen Russland, und dessen Ehefrau Julia, geb. Orlowsky (1863-?), die aus einer Familie von russischen Staatsbeamten und Gutsbesitzern stammte. R.s Großvater väterlicherseits, Iwan R., war griechisch-katholischer Priester, die Großmutter, Olympiada Magerowsky, war Tochter eines griechisch-katholischen Priesters.
Boris R., selbst griechisch-katholisch, war verheiratet (seit 1931) mit der evangelischen Olga Henriette Johanna R., geb. Kromm (1904-1967), die aus einer russischen Kaufmannsfamilie kam. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Manfred R. (1934-2013), Zellbiologe und Krebsforscher, Klaus R. (* 1936), Immunologe, und Xenia R. (1939-2011), Soziologin. Sohn von Klaus R. aus dessen Ehe mit der Politikwissenschaftlerin und Friedensforscherin Christiane R. (1935-1993) ist der Systembiologe Nikolaus R. (* 1968).
Abitur und (ab 1912) Studium der Mathematik und Physik in Kiew. 1918 Promotion. Assistent am physikalischen Institut der Universität Kiew. In der russischen Revolution kämpfte R. 1918/19 als Offizier der Armee des Hauptmanns Skoropadsky, dann als Freiwilligenführer bei den deutschen Kolonisten in Taurien und 1919/20 in der Weißen Armee gegen die Kommunisten. Flucht nach Bulgarien. Dort Lehrer für Mathematik und Physik am russischen Gymnasium. 1923 Emigration nach Deutschland. Außerplanmäßiger Assistent am Institut für physikalische Grundlagen der Medizin in Ffm. Dieses durch eine Stiftung Henry Oswalts an die Universität angegliederte Institut war 1921 von Friedrich Dessauer gegründet worden und befand sich in Räumen am Theodor-Stern-Kai in unmittelbarer Nähe des Städtischen Krankenhauses, das seit 1914 zum Universitätsklinikum gehörte. 1929 erneute Promotion R.s mit einer Arbeit über „Dispersion elektrischer Wellen im Dielektrium“. Ab 1929 planmäßiger Assistent im Beamtenverhältnis am Institut. Nach der erzwungenen Emigration Dessauers stieg R. 1934 zum Leiter des Instituts für physikalische Grundlagen der Medizin auf und wurde zum ordentlichen Professor in der Naturwissenschaftlichen Fakultät ernannt. R., seit 1931 deutscher Staatsbürger, trat 1933 der SA und 1934 der NS-Reichsdozentenschaft bei und galt als „Vertrauensmann zwischen Universität und NSDAP“. Von 1936 bis 1937 Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, dann (ab 1937) Prorektor der Universität. Im Rapport des Ffter Dozentenbundes wurde 1937 R. ausdrücklich als „ganz ausgezeichneter Nationalsozialist“ genannt. Seit 1.5.1937 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 4.376.688).
R. war aktiv daran beteiligt, das frühere Dessauer’sche Institut für die physikalischen Grundlagen der Medizin in ein Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Biophysik umzuwandeln, und schlug die Villa Beit von Speyer in Ffm.-Sachsenhausen (Forsthausstraße 70, heute: Kennedyallee 70) als dessen Sitz vor. Die Stadt Ffm. erwarb das Grundstück 1937 zu einem weit unter Wert liegenden Preis von den emigrierten Erben und stellte es dem KWI für Biophysik zur Verfügung, das dort nach Umbauarbeiten 1939 seine Arbeit aufnahm. Das Institut akquirierte unter R.s Leitung kriegswichtige Aufträge und war ab 1942 vollständig auf Wehrmachtsaufträge zu Strahlung und Strahlenwaffen umgestellt. Ab 1942 wurde hinter der Villa ein Strahlenbunker zum Betrieb einer Drei-Megavolt-Strahlenquelle errichtet; nur das Gebäude wurde fertig, während die Strahlenanlage noch vor ihrer Installation der sowjetischen Armee in die Hände fiel und nach Moskau transportiert wurde. In der Außenstelle Oberschlema/Erzgebirge des KWI für Biophysik fanden bis 1945 Strahlenversuche an Patienten unter dem Vorwand therapeutischer Behandlungen statt. Die in Tierversuchen in Ffm. ermittelten Strahlungsreaktionen sollten dort an Menschen überprüft werden.
Nach Beschädigungen der Ffter Institutsgebäude bei Bombenangriffen verlegte R. 1944 das Institut nach Ockstadt bei Friedberg. Dort wurde er 1945 von der US-Armee verhaftet und für acht Monate interniert. In mehreren Spruchkammerverfahren nach dem Krieg wurde R. zunächst als „Mitläufer“, dann als „entlastet“ eingestuft. Er gab an, in die SA nur zum Schutz Dessauers eingetreten und in die NSDAP gegen seinen Willen aufgenommen worden zu sein. Sämtliche von der Verteidigung benannten Zeugen attestierten R. eine Opposition zur nationalsozialistischen Bewegung. R. selbst beteiligte sich an „Persilscheinen“ für den Rassenmediziner Otmar von Verschuer und den Aufsichtsratsvorsitzenden der IG Farben und Wehrwirtschaftsführer Carl Krauch (1887-1968). Beide konnten ihre Karrieren fortsetzen.
1949 wurde R. Direktor des in Max-Planck-Institut für Biophysik umbenannten Instituts, das die Strahlenforschung nach Beseitigung der Kriegsschäden am alten Standort fortsetzte. Im gleichen Jahr (1949) avancierte R. zum Rektor der Ffter Universität (bis 1951). Im Strahlenbunker, der in den Kriegszeiten ohne Strahlenquelle geblieben war, wurde 1957 ein 35-Megavolt-Betatron installiert und für Therapiezwecke und Forschung genutzt. R. war ab 1955 Berater der Atomkommission und wurde 1956 Vorsitzender des vom Bundestag eingesetzten Sonderausschusses Radioaktivität. 1961 emeritiert, blieb R. mit mehrfachen Verlängerungen bis 1966 kommissarischer Direktor des MPI für Biophysik.
Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Ffm., zeitweise (1955-70) als deren Präsident.
R. gilt als Begründer des Begriffs „Biophysik“ (vgl. u. a. seine zweibändige Publikation mit diesem Titel, 1948). Sein wissenschaftliches Werk kreiste um die Erforschung der Wirkung von Strahlung auf biologische Systeme. Er konnte den Zusammenhang von Krebserkrankungen der Arbeiter in den Uranminen im Erzgebirge mit der aufgenommenen Strahlung belegen und war an der Festlegung erster Grenzwerte beteiligt. Sein Buch „Strahlendosis und Strahlenwirkung“ (1. Aufl. 1954) gilt als Standardwerk. R. engagierte sich auch für die Popularisierung seiner Disziplin; so drehte er Filme zu der Frage „Was ist Biophysik?“, in denen er selbst mitspielte.
Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften, u. a. Goetheplakette der Stadt Ffm. (1951), Goethe-Plakette des Landes Hessen (1958), Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (1963) und Lenin-Medaille in Gold (1970) sowie Ehrendoktorate der Universitäten in Berlin, Gießen, Hannover, Innsbruck, Neapel und Turin.
Unter R.s Nachfolgern in der Direktion verlegte das MPI für Biophysik sein Tätigkeitsgebiet von der Strahlen- auf die Membranforschung. Das 35-Megavolt-Betratron war noch bis 1992 im Strahlenbunker im Einsatz, ab 1966 in Zuständigkeit der Deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz; heute wird das Betatron im Deutschen Röntgen-Museum in Remscheid gezeigt. Nach dem Umzug des MPI für Biophysik auf den Campus Riedberg verkaufte die Stadt Ffm. 2003 dessen früheren Sitz in der Kennedyallee 70 an einen Investor; auf dem Sachsenhäuser Anwesen wird seit 2006 das Hotel „Villa Kennedy“ betrieben.
Zum 25. Jubiläum des MPI für Biophysik wurde 1962 die Boris-R.-Preisstiftung durch das Land Hessen und den Magistrat der Stadt Ffm. eingerichtet, die den „Boris-R.-Preis für Biophysik“ vergab. 2012 wurde die Stiftung aufgehoben und das Vermögen auf die Oswalt-Stiftung übertragen; die Tradition des Preises wird seitdem durch die Verleihung des „Ffter Biophysik-Preises“ weitergeführt.
Der Vorschlag, die in der Nähe zum langjährigen Sitz des MPI für Biophysik in Sachsenhausen liegende Victor-Schmieden-Straße in Boris-R.-Straße umzubenennen, scheiterte 1993/94 im Ortsbeirat am Einspruch der SPD-Fraktion, die auf die nationalsozialistische Vergangenheit R.s hinwies. In Oberschlema gibt es dagegen eine Prof.-Boris-R.-Straße, in der das Gebäude der früheren Außenstelle des KWI für Biophysik steht.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Dieter Wesp.
Artikel in: Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 165f., verfasst von: Christopher Henkel.

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Internet: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Boris_RajewskyWikipedia, 6.10.2017.

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Empfohlene Zitierweise: Wesp, Dieter: Rajewsky, Boris. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/822

Stand des Artikels: 27.2.2019
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 10.2017.