Tochter des Kaufmanns
Julius Max K. (1882-1915) und dessen zweiter Ehefrau Bertha (eigentl.: Berta), geb. Frank (1878-1943). Der in Heidelberg geborene Vater entstammte einer Familie mit rabbinischen Traditionen in Landau/Pfalz und hatte sich mit einem Geschäft für Leder- und Textilwaren in Ffm. niedergelassen. Julius K. war seit 1910 mit der in Schwetzingen geborenen Anna K., geb. Frank (1884-1911), verheiratet, die wenige Monate nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Liselotte (seit 1938 verh. Frenk, 1910-1962) starb. Am 17.7.1913 heiratete der verwitwete Julius K. in Ffm. die ältere Schwester seiner ersten Frau. Einziges Kind aus dieser Ehe war Emma K. Deren Großeltern (Vater und Stiefmutter von Julius K.) waren der Kaufmann Oskar K. (1848/49-1918) und seine zweite Ehefrau Friederike, geb. Levy (1854-1942), die spätestens seit 1910 ebenfalls in Ffm. (Wolfsgangstraße 76) lebten.
K. entstammte einem bürgerlich-assimilierten jüdischen Elternhaus. Nach dem frühen Tod des Vaters 1915 wuchs sie zusammen mit ihrer älteren Halbschwester Liselotte bei ihrer Mutter in einer Fünf-Zimmer-Wohnung im Ffter Westend (Wiesenau 58) auf. Da der Vater Schulden hinterlassen hatte, ging die Mutter – sie hatte in Heidelberg an einem Lehrerinnenseminar studiert und engagierte sich in der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit – als Fremdsprachensekretärin arbeiten und musste zwei Zimmer untervermieten.
K. besuchte ab Ostern 1923 die Viktoriaschule (heute: Bettinaschule), wo sie 1933 die Reifeprüfung bestand. Ihr Vorhaben, Soziologie und Volkswirtschaftslehre zu studieren, um Journalistin zu werden, gab sie angesichts der NS-Bedrohungen auf. Stattdessen machte sie zunächst ein Praktikum bei einer Ffter Bank und emigrierte im September 1933 als 19-Jährige nach England. Dort musste sie für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen. Sie lebte zunächst als Au-pair-Schülerin in einer Boarding-School in Brighton, an der sie als Ffter Schülerin während eines mehrwöchigen Auslandsaufenthalts im Vorjahr Englisch gelernt hatte, und arbeitete anschließend als Sprachlehrerin in Sussex und London. 1935 besuchte sie ihre Schwester, die bereits seit 1928 in den Niederlanden lebte und als Chefsekretärin in Rotterdam arbeitete. Mit Hilfe der Schwester bekam K. ab April 1936 eine Stelle als kaufmännische Angestellte in Antwerpen. Als sie zu Weihnachten 1936 ihre noch in Ffm. lebende Mutter besuchen wollte, war sie bereits ausgebürgert worden und durfte nicht mehr nach Deutschland einreisen. 1937 beantragte sie einen belgischen Staatenlosen-Pass, mit dem sie im Mai 1940, bei Einmarsch der deutschen Armee in Belgien, nach Frankreich floh. Dort kam K. nach der deutschen Besetzung des Landes für einen Monat in das Internierungslager Gurs. Nach ihrer Entlassung lebte sie weiter in Südfrankreich, bis sie 1942 von Marseille über Casablanca nach Kuba auswanderte, wo sie als feindliche Ausländerin ebenfalls zeitweise interniert wurde. In Havanna musste sie sich zwei Augenoperationen unterziehen. Im März 1945 erreichte K. die USA. Ihre Mutter Bertha K. war 1939, schon schwer erkrankt, nach Holland ausgewandert und hatte, versteckt von Freunden, im Sanatorium Dennenoord in Doorn gelebt, wo sie am 6.4.1943 starb. K.s Halbschwester Liselotte und deren Mann Salomon Frenk (1915-1999), die während der NS-Zeit im Durchgangslager Westerbork interniert und anschließend im KZ Bergen-Belsen inhaftiert waren, überlebten den Holocaust.
1947 unternahm K. ihre erste Europareise nach dem Krieg. Ab 1951 arbeitete sie, die inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, als Sekretärin für die Organisation „Friendship Among Children and Youth“ in New York. 1953 erhielt K. eine Entschädigung für Vermögenswerte, die der NS-Staat ihrer Mutter und ihrer Großmutter entzogen hatte. 1958 und 1965 wurde einem Wiedergutmachungsanspruch „wegen Schadens in beruflichem Fortkommen“ stattgegeben (HLA, Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Best. 518 Nr. 18816, Bl. 36). Ab 1969 erhielt K. eine bescheidene Rente als NS-Verfolgte. Im gleichen Jahr erblindete K. nach einer weiteren Augenoperation vollständig. Mit ihrer Nichte Ruth Frenk (* 1946), die von 1969 bis 1974 in New York Gesang studierte, stand sie in diesen Jahren stets in Kontakt. Nach deren Übersiedlung nach Konstanz (1974) verbrachte K. regelmäßig ihre Sommerferien in einem nahegelegenen Blindenheim in der Schweiz. 1981 kehrte sie, unterstützt von ihrer Nichte, aus New York ganz nach Deutschland zurück und ließ sich ebenfalls in Konstanz nieder.
K. schrieb schon als Kind kleine Gedichte und erhielt durch ihre Mutter sowie engagierte Lehrerinnen und Lehrer eine gute literarische Bildung. 1933 entstand ihr erstes gültiges Gedicht, „Heimatlos“, worin sie ihren Weggang aus Deutschland thematisierte. Ab diesem Zeitpunkt verarbeitete sie kontinuierlich ihre Fremdheits- und Emigrationserfahrungen in einer Vielzahl von lyrischen Werken. Nachdem sie von 1933 bis 1948 auf Deutsch gedichtet hatte, schrieb sie ab etwa 1950 bis zu Beginn der 1960er Jahre ausschließlich auf Englisch. In dieser Zeit beschäftigte sich K. zudem systematisch mit englischsprachiger Lyrik und besuchte Kurse am „Poetry Center“ in New York, u. a. bei dem Schriftsteller W. H. Auden (1907-1973). Zugleich rezensierte sie für die Zeitschrift „Books Abroad“ deutsche Literatur, vor allem Gedichtbände. Durch diese Beschäftigung mit der deutschen Sprache und durch ihre regelmäßigen Aufenthalte im deutschen Sprachraum näherte sich K. allmählich wieder ihrer Muttersprache an. Als sie aufgrund der technischen Entwicklung ab Ende der 1960er Jahre zwei Kassettenrekorder nutzen konnte, verfasste sie ihre Gedichte und Aufsätze wieder auf Deutsch. Mit einem speziellen Schreibverfahren „aus dem Unbewussten heraus“, das sie nach der Erblindung entwickelte, stellte sich K. „in die Tradition des automatischen Schreibens, wie es der französische Surrealist André Breton propagiert hat“ (Carola Hilmes). Mit der Veröffentlichung ihrer Werke begann K. erst ab 1985 in Deutschland. Sie publizierte ihre Gedichte in Sammelbänden und veranstaltete zudem zahlreiche Lesungen im Raum Konstanz. Während K.s frühe Arbeiten, in denen die Erfahrung der Emigration eine tragende Rolle spielt, bekannter wurden, ist das Spätwerk, das nach der Rückkehr nach Deutschland entstand, noch zu entdecken.
K.s Schaffen steht in der Tradition des abendländischen Bildungskanons. Sie sah sich als Humanistin und hatte sich schon in ihrer Jugend einem durch Spinoza und
Goethe beeinflussten Pantheismus verbunden gefühlt. Später waren das Denken von
Martin Buber und dem französischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995) für sie richtungweisend. Ohne religiös im engen Sinne zu sein, trat K. in Konstanz der jüdischen Gemeinde bei, weil sie dazu beitragen wollte, dass „sich wieder ein Judentum in Deutschland entwickelt“ (zit. nach: Exil 1993, Nr. 2, S. 34): „Ich habe mein Judentum nie geleugnet, aber ich habe nur sehr langsam entdeckt, was es für mich bedeutete, und es wurde nie zum beherrschenden Zug meines inneren Selbstverständnisses.“ (Kann: Autobiographisches Mosaik 2022, S. 55.)
Veröffentlichte Gedichtbände: „Zeitwechsel“ (1987), „Im Anblick des anderen“ (1990), „Strom und Gegenstrom“ (1993), „Im weiten Raum“ (1998).
K.s „Autobiographisches Mosaik. Betrachtungen und Erlebnisse“ (hg. v. Carola Hilmes, 2022) ist ein Alterswerk. Es enthält poetologische Reflexionen und zahlreiche Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Ffm., die die Autorin bis zu ihrer Ausgrenzung als Jüdin positiv erlebte. Weitere autobiographische Texte in Zeitschriften, u. a. „Meine Erinnerungen an das Lager Gurs“ (in: Exil, 1995).
K.s Nichte, die Sängerin und Gesangspädagogin Ruth Frenk, besitzt als Erbin von K. die Rechte an deren Werk.
Ihren umfangreichen Nachlass vermachte K. dem Deutschen Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Ffm. Er enthält Lebensdokumente, Korrespondenzen und vor allem deutsch- und englischsprachige Gedichte sowie Tagebücher und Essays.
Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek in Ffm. hat in Ausstellungen wiederholt auf K. und ihr noch wenig bekanntes Werk aufmerksam gemacht. Der Vers „Fremd bin ich den Menschen dort“ aus ihrem Gedicht „Heimatlos“ lieferte 2012 den Titel für eine Ausstellung, in der 16 Schicksale von Emigrantinnen und Emigranten vorgestellt und dokumentiert wurden. Zu K.s 100. Geburtstag 2014 veranstaltete Ruth Frenk in Konstanz eine Gedenkveranstaltung, bei der aus K.s lyrischem Werk vorgetragen wurde.
.