Neuerscheinungen vom 10. April 2024

Einleitung: 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

sicher kennen Sie das alte Sprichwort von den Äpfeln und den Birnen, aber manchmal drängt sich ein Vergleich geradezu auf, auch wenn er aus streng geschichtswissenschaftlicher Sicht problematisch sein mag. Im Blickpunkt der aktuellen Artikellieferung stehen zwei Kaiser, die beide Frankfurt nie liebten und auch von Frankfurt nicht unbedingt geliebt wurden. Unter beiden Herrschern verlor die Stadt ihre Selbstständigkeit, zum ersten Mal 1806 unter Napoleon I. – vorübergehend bis 1813/15, dann erneut 1866 unter Wilhelm I. – diesmal für immer. (Der historischen Genauigkeit halber sei hier am Rande angemerkt, dass Wilhelm zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Kaiser, sondern „nur“ preußischer König war.)
Während im Falle von Napoleon unstrittig ist, dass er – frei nach dem bekannten Filmtitel von Curt Goetz – an allem schuld sei, wurde Wilhelm lange lediglich als Kaiser „unter“ Bismarck angesehen. Erst die jüngere Geschichtswissenschaft räumt mit diesem Mythos auf, indem sie den zuvor weitgehend ungenutzten Nachlass des Kaisers als zentrale Quelle auswertet, und zeigt Wilhelm I. auf dieser Grundlage als handelnde Person in der Politik und als wesentlichen Gestalter des deutschen Staats im 19. Jahrhundert. Diese Rolle wird auch im neuen Artikel des Monats klar, der Wilhelm I. in seiner Bedeutung für die Stadt Frankfurt am Main vorstellt.

Artikel des Monats April 2024:
Feindbild und Kaiserkult

Er fand in der Freien Stadt Frankfurt sein Feindbild: Prinz Wilhelm von Preußen, der spätere preußische König und Deutsche Kaiser Wilhelm I. Der „Kartätschenprinz“, von dem es hieß, er habe in der Märzrevolution 1848 mit Artillerie auf die Berliner Stadtbevölkerung schießen lassen wollen, beobachtete den Verlauf der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 sehr genau. Und er kam zu dem Schluss, dass die nationale Bewegung genutzt werden müsste, um zu einer kleindeutschen und monarchischen Lösung der „Deutschen Frage“ unter preußischer Führung zu gelangen. Mit der Absicht, die Chancen für eine solche Lösung zu sondieren, reiste Wilhelm in den Jahren 1848 bis 1850 mehrfach nach Frankfurt. Bei diesen Besuchen formte sich in der Wahrnehmung des späteren Königs und Kaisers ein dezidiert negatives Bild der Freien Stadt als preußenfeindliches Intrigantenzentrum, dessen Regierung, Presse und Bewohner allein im österreichischen Großmachtinteresse handeln würden. Als der preußische Thronfolger in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1850 in seiner Frankfurter Wohnung im Schlaf von einem Feuer überrascht wurde, dem er nur knapp entkam, kursierten schnell (unbestätigte) Gerüchte von einem gezielten Brandanschlag.
Auch im Nachmärz blieb Wilhelm, der seit 1858 als Prinzregent und schließlich seit 1861 als König von Preußen herrschte, die Stadt Frankfurt als Sitz der Bundesversammlung verhasst, und er geißelte das vermeintlich österreichhörige „Frankfurter Systême“. Die Einladung des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. zum Frankfurter Fürstentag 1863, der über eine Reform des Deutschen Bundes beraten sollte, lehnte er selbstverständlich ab.
Drei Jahre später, im Sommer 1866 verantwortete Wilhelm die preußische Okkupation der bis dahin selbstständigen Stadt Frankfurt. Die folgende Annexion, die die stolze Bürgerstadt zur preußischen Provinzstadt degradierte, muss dem König eine Genugtuung gewesen sein. Als in der Nacht vor dem geplanten Besuch des Monarchen in Frankfurt im August 1867 der Dom brannte, sahen viele Bürger und Bürgerinnen darin ein böses Omen. Dementsprechend fiel die Begrüßung des Königs in der Stadt eher verhalten aus.
Letztlich stellte die preußische Annexion jedoch die Weichen für Frankfurts Entwicklung zur modernen Großstadt. Bald nach der Reichsgründung 1871 wurden eine Straße und ein Platz in der expandierenden Innenstadt nach Wilhelm I. benannt, die Kaiserstraße (1873) und der Kaiserplatz (1876) auf der entstehenden Verkehrsachse zwischen Hauptwache und dem projektierten Hauptbahnhof. Bei seinen gelegentlichen Besuchen in der Stadt, wofür der Kaiser eine eigens reservierte Wohnung im Palais Schweitzer auf der Zeil bezog, wurde ihm nun gebührend zugejubelt. Als Wilhelm I. im Alter von fast 91 Jahren 1888 starb, fanden auch in Frankfurt offizielle Trauergottesdienste in den Kirchen und der Hauptsynagoge statt. Die Stadt erinnerte an den „Heldenkaiser“, indem sie eine Eiche im Nizza am Main für ihn pflanzte (1888), eine Mainbrücke nach ihm benannte (1891) und gleich drei Denkmäler für ihn setzte (im Römer 1892, im Innenhof des Hauptpostamts 1895 und am Opernplatz 1896) – bis der Kult um den ersten Deutschen Kaiser bald nachzulassen begann.
Lesen Sie mehr >

Schluss: 

Andere Neuerscheinungen in diesem Monat werfen Schlaglichter auf die Wissenschafts- und insbesondere auf die Medizingeschichte der Stadt. Die Studentin Rose Hölscher porträtierte ihre Dozenten an der Medizinischen Fakultät der Frankfurter Universität in 39 Scherenschnitten und machte daraus ein kleines Buch, das sie beim Abschluss ihres Medizinstudiums 1921 ihren Lehrern und Kommilitonen zur Erinnerung übergab. Heute ist ihr Werk als kultur-, medizin- und stadthistorisch bedeutendes und außergewöhnliches Dokument anzusehen.
Der Chemiker Hugo Bauer, gebürtiger Frankfurter, arbeitete am Georg-Speyer-Haus unter Paul Ehrlich an der Entwicklung der Salvarsanpräparate zur Bekämpfung der Syphilis mit. In der NS-Zeit wurde der langjährige Leiter der Chemischen Abteilung am Georg-Speyer-Haus aufgrund seiner jüdischen Herkunft zwangspensioniert. Bauer emigrierte 1936 in die USA, wo er erfolgreich u. a. in der Entwicklung von Medikamenten gegen Lepra tätig war.

Beim Blick auf Kaiser und Bauer vernetzen sich wieder große Geschichte und biographische Geschichten im Frankfurter Personenlexikon. Manchmal sind es winzige Details, die uns plötzlich das historische Weltgeschehen begreifen lassen. In solchen Momenten des Verstehens möchte die Chronistin fast daran glauben, dass sich aus der Geschichte doch etwas lernen ließe. Es wäre schön, wenn es so wäre, und auch wenn das keine Historikerin zugeben mag, so sind es vielleicht diese Momente, für die sie forscht und schreibt und auf die sie bei ihrem Gegenüber hofft.

Mit bestem Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Treue grüßt Sie, liebe Leserinnen und Leser,
herzlichst
Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons

P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. Mai 2024.

Neue Artikel in diesem Monat: