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Rosenstein, Alice

Alice Rost (bis 1938: Rosenstein)

Alice Rost (bis 1938: Rosenstein) als Major der US Army
Fotografie von Lotte Jacobi (1940er Jahre; in Privatbesitz).

© unbekannt. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Linda Rost und in Absprache mit der University of New Hampshire, Durham (USA).
Rosenstein, Alice Ellen. Nachname ab der Namensänderung 1938: Rost. Dr. med. Neurologin und Psychiaterin. * 9.6.1898 Breslau, † 4.5.1991 Albany/New York (USA), beigesetzt in New Paltz/New York (USA).
Tochter des Gynäkologen und Sanitätsrats Moritz R. (1856-1935) und dessen Ehefrau Ellen, geb. Ebstein (1865-1924). Die Mutter war gebürtige Amerikanerin und stammte aus Poughkeepsie/New York. Eine Schwester, Toni R. (1893-1913), und ein Bruder, Walter R. (1899-1955). Zwei weitere ältere Geschwister starben im Kindesalter.
Alice R. wurde in eine jüdische Familie geboren, doch ist nicht überliefert, ob sie religiös erzogen wurde. Schon als Mädchen interessierte sie sich gleichermaßen für die Medizin wie für das Zeichnen. Sie studierte Medizin in Breslau und Berlin und erlangte im Sommer 1923 die Approbation. Anschließend arbeitete sie als Volontärärztin am Berliner Rudolf-Virchow-Krankenhaus und promovierte in Breslau mit einer Arbeit über „Akromegalie und cerebrale Lues“ (1923). Zu dem Thema wurde sie von Otfrid Foerster (1873-1941) angeregt, einem der führenden Neurologen und Hirnchirurgen seiner Zeit, dem sie im Rahmen ihres medizinischen Praktikums bei Gehirn- und Rückenmarksoperationen assistiert hatte.
Bis Februar 1924 setzte R. ihre Ausbildung als Assistentin an der Breslauer Universitäts-Augenklinik fort. Danach arbeitete sie als Volontär-, später Assistenzärztin an der Neurologischen Klinik des Breslauer Wenzel-Hancke-Krankenhauses bei Otfrid Foerster. Hier spezialisierte sie sich in Neurologie und Neurochirurgie und war somit die erste Frau in Deutschland, die neurochirurgisch arbeitete. Aufgrund ihrer zeichnerischen Begabung fertigte sie zudem Operationsskizzen und bioptische Bilder für Foerster an. R. trug zur Verfeinerung der Diagnosetechnik bei der Enzephalografie bei und veröffentlichte 1926 eine wissenschaftliche Arbeit über „Die Darstellung des Foramen Monroi im encephalographischen Bilde“. Bis 1934 gehörte R. zu den regelmäßigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Vierteljahresschrift „Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“, in der sie wiederholt Artikel und Bücher aus dem angloamerikanischen Raum rezensierte. Dank ihrer Mutter beherrschte sie Englisch fließend. Bei mehreren ärztlichen Kongressen und Jahrestagungen trug sie Kasuistiken vor, die nicht nur von röntgenologischem oder neurologischem Interesse, sondern insbesondere auch für Augenärzte von Bedeutung waren.
1928 avancierte R. in Breslau zur Oberärztin. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich schon bei Karl Kleist (1879-1960) an der Ffter Universitätsklinik beworben, um ihre Kenntnisse in Psychiatrie zu vertiefen, und 1929 wechselte sie nach Ffm. Die im Herbst 1930 eröffnete und mit 200 Betten ausgestattete „Städtische und Universitäts-Klinik für Gemüts- und Nervenkranke“ in Niederrad war seinerzeit eine der modernsten Nervenkliniken Europas. Hier führte R. zwischen Dezember 1930 und April 1933 über 70 neurochirurgische Eingriffe, vor allem diagnostischer Art, durch. Nachdem sie die Zulassung für „Schädel- und Rückenmarksaufnahmen bei stationären Patienten“ erhalten hatte, leitete sie auch die Röntgenabteilung der Klinik. Damit war R. eine der ersten Ärztinnen in Deutschland, die explizit neuroradiologisch arbeitete.
Nach dem vom NS-Regime erlassenen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verlor auch R. am 15.4.1933 ihre Stellung. Sie verfasste daraufhin eine detaillierte Anleitung für die von ihr an der Ffter Universitätsklinik durchgeführten Untersuchungsmethoden und einen genauen Tätigkeitsbericht über die neurochirurgischen Eingriffe, die sie hier vorgenommen hatte. Dabei ging es ihr offenbar darum, nachfolgende Kollegen von ihren Erfahrungen profitieren zu lassen. Sie selbst zog zurück nach Breslau, wo sie neben diversen Rezensionen einen Beitrag über die „Anatomie der peripheren Nerven“ schrieb, der später im „Handbuch der Neurologie“ von Oswald Bumke und Otfrid Foerster erschien. Nach wie vor war R. Mitglied mehrerer medizinischer Fachgesellschaften wie der Vereinigung Südostdeutscher Psychiater und Neurologen, der Gesellschaft Deutscher Nervenärzte und der Ffter Röntgengesellschaft.
Im November 1933 verließ R. Deutschland und zog nach New York, wo sie vorübergehend bei einer Verwandten wohnen konnte. Ihr Onkel Fritz R. (1853-1936), der schon seit Jahrzehnten als Handelsreisender in den USA lebte, stellte ihr das notwendige Affidavit aus. Nachdem sie das englische Sprachexamen abgelegt hatte, erhielt sie die US-amerikanische Approbation und eine Arbeitserlaubnis für den Staat New York. R. nahm zunächst eine unbezahlte Stelle als Volontärärztin im Neuropathologischen Labor des Mount Sinai Hospitals an. Zusätzlich versorgte sie ambulante Patienten im „Outpatients’ Department“ (OPD) der Neurologischen Klinik. 1934 wurde sie „visiting assistant“ für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie am Montefiore Hospital, wo sie die erste weibliche Chirurgin war. Im Februar 1935 wurde sie als reguläre Assistentin der dortigen Neurochirurgischen Abteilung angestellt. Bereits im Herbst 1934 hatte R. ihre erste eigene Praxis für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie in New York eröffnet. R. nahm regelmäßig an ärztlichen Fachkonferenzen teil und hielt Vorträge über neurologische und neuroradiologische Themen. 1936 beendete sie ihre Tätigkeit am Mount Sinai Hospital und übernahm eine Stelle als beratende Neurochirurgin am Beth Israel Hospital in New Jersey; ihre Position am Montefiore Hospital behielt sie bis 1939 bei.
R. besuchte um den Jahreswechsel 1934/35 ihren Vater und ihren Bruder in Breslau und reiste ein halbes Jahr später ein letztes Mal nach Deutschland, nachdem ihr Vater plötzlich verstorben war. Als 1935 in Deutschland ihr Beitrag im ersten Band des „Handbuchs der Neurologie“ von Bumke/Foerster erschien, war er auf etwa ein Drittel gekürzt. Auch die Zeichnungen R.s waren weggefallen, was später u. a. von Gustav Bodechtel (1899-1983), Oberarzt der Hamburger Nervenklinik, bemängelt wurde. Der Mediziner Max Clara (1899-1966), der als fanatischer Nationalsozialist galt, zitierte R.s Kapitel noch 1959 in seinem bis dahin in mehreren Auflagen erschienenen Lehrbuch „Das Nervensystem des Menschen“.
Anfang 1936 kam R.s Bruder Walter zunächst allein nach New York und holte im selben Jahr seine Frau und seine beiden Söhne nach. Da sich R. und ihr Bruder auch in den USA mit antisemitischen Haltungen konfrontiert sahen, änderten sie 1938 ihren Nachnamen in Rost. Der Name Rosenstein erschien ihnen „zu jüdisch“. Im Jahr darauf wurde R. amerikanische Staatsbürgerin. Seit 1938 arbeitete sie als Chef-Psychiaterin am Sahler-Sanatorium in Kingston, nördlich von New York City, und 1939 wurde ihr die offizielle Qualifikation als Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie im Staat New York zugesprochen. Ab 1941 war sie in Albany, etwa 90 Kilometer nördlich von Kingston, als Dozentin für Psychiatrie am Albany Medical College und als „assistant attending psychiatrist“ am Albany Hospital tätig. Sie behielt ihre Praxis in Kingston bei, wurde in den folgenden Jahren aber auch an anderen Krankenhäusern tätig.
Ende 1943 trat R. als beratende Psychiaterin und Neurologin in die US Army ein. Als im Militärhospital in Fort Oglethorpe ein Trainingszentrum für das „Women’s Army Corps“ (WAC) eingerichtet wurde, setzte sie sich besonders für lesbische Soldatinnen ein. So untersuchte sie 1944 mehrere Angehörige des WAC, die wegen „lesbischer Aktivitäten“ angeklagt worden waren. Bei der Gelegenheit erklärte R. dem eingesetzten Untersuchungsausschuss, Homosexualität sei eine „bestimmte Veranlagung des Charakters und Teil der Persönlichkeit“. Sie sei zwar „unglücklich“, aber „keine Krankheit“. Folglich sei sie auch nicht „heilbar“. R. vertrat die Auffassung, auch im Militär sei es Privatangelegenheit, was lesbische Frauen miteinander täten, solange keine Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt würden. Nicht belegt ist, ob Alice R. selbst lesbisch war. Sie heiratete nie und wohnte über 40 Jahre mit ihrer „Haushälterin“ zusammen. R.s Großnichte vermutet, dass die beiden ein Paar waren. Innerhalb der US-amerikanischen Armee soll R.s liberale Haltung zu weiteren Studien zur Homosexualität beigetragen haben.
1946 wurde R. mit dem Rang eines Majors aus dem medizinischen Militärkorps entlassen und nahm eine Stelle als Chef-Psychiaterin und Leiterin der Neuropsychiatrischen Abteilung einer Klinik für Armeeveteranen in Albany an, wo sie traumatisierte Soldaten behandelte. R. gehörte zahlreichen amerikanischen Fachgesellschaften an und nahm wiederholt an medizinischen Kongressen teil, so 1953 an der 9. Jahrestagung der „Electroshock Research Association“ in Los Angeles. Als Neurologin und Psychiaterin praktizierte sie bis ins hohe Alter in Kingston. Nach Deutschland kehrte sie nie zurück. Einem Freund, der seinerzeit nach Schweden emigriert war, schrieb sie 1956: „Mir selber graust es vor Europa-Reisen. Ich weiß nicht, wovor ich mich in Deutschland mehr fürchten würde: dass es mir fremd geworden ist, oder noch zu vertraut – beides schmerzliche Erlebnisse, die man besser vermeidet.“
Weitere Schriften (in Auswahl): „Rezidivierende Amblyopie nach operativer Entfernung der Ovarien“ (in: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1928), „Zur Frage des lokalen Drucks auf den Nervus opticus für die Entstehung der Blindheit bei gleichzeitiger Stauungspapille“ (in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1929), „Encephalitis pontis“ (in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 1929), „Embolie im Rückenmark“ (in: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1930).

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Raimund Wolfert.

Literatur:
                        
Chirurgische Allgemeine Zeitung für Klinik und Praxis. Bisher 22 Jahrgänge. Heidelberg 2000-21.Gerste, Ronald D.: Alice Rosenstein – Deutschlands erste Neurochirurgin. In: Chirurgische Allgemeine Zeitung 21 (2020), Nr. 5/6, S. 285-287. | Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933-1945. Hg. im Auftrag d. Deutschen Gesellschaft für Chirurgie v. Hartwig Bauer, [für Bd. 2: Ernst Kraas] u. Hans-Ulrich Steinau. Bd. 1: Die Präsidenten. Von Michael Sachs, Heinz-Peter Schmiedebach, Rebecca Schwoch. Heidelberg 2011. Bd. 2: Die Verfolgten. Von Rebecca Schwoch. Heidelberg 2019.Dt. Gesellschaft für Chirurgie 1933-45, Bd. 2 (2019), S. 375. | Eisenberg, Ulrike/Collmann, Hartmut/Dubinski, Daniel: Verraten – Vertrieben – Vergessen. Werk und Schicksal nach 1933 verfolgter deutscher Hirnchirurgen. Berlin 2017.Eisenberg, Ulrike: Alice Rosenstein (Rost). In: Eisenberg/Collmann/Dubinski: Verraten – Vertrieben – Vergessen 2017, S. 227-251.
Quellen: Ffter Rundschau. Ffm. 1945-heute.Dörhöfer, Pamela: Sie wollten Menschen mit schweren Leiden das Leben erleichtern. In: FR, 16.3.2018, S. 28f. (https://nvmg.nl/app/uploads/2020/03/2017_frankf-rundschau-bericht.pdf, abgerufen am 29.4.2021).
Internet: Internetseiten der European Association of Neurosurgical Societies (EANS), Sint-Martens-Latem (Belgien). https://www.eans.org/page/ALICE_ROSENSTEIN_BioThe European Association of Neurosurgical Societies, 29.4.2021. | Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_RosensteinWikipedia, 29.4.2021.

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Empfohlene Zitierweise: Wolfert, Raimund: Rosenstein, Alice. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/10524

Stand des Artikels: 8.5.2021
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 05.2021.