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Genazino, Wilhelm

Wilhelm Genazino
Wilhelm Genazino
Fotografie von Inge Werth (um 1997).
© Institut für Stadtgeschichte, Ffm. (Sign. S7FR Nr. 15823).
Genazino, Wilhelm Theodor. Journalist. Schriftsteller. * 22.1.1943 Mannheim, † 12.12.2018 Ffm.
G. wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Mannheim auf. Nach dem Abbruch des Gymnasiums absolvierte er eine kaufmännische Lehre und schrieb daneben als freier Mitarbeiter für eine Zeitung.
Etwa Mitte der Sechzigerjahre absolvierte er ein Volontariat bei der Rhein-Neckar-Zeitung in Heidelberg und arbeitete danach weiterhin als Journalist. Sein erster Roman „Laslinstraße“ (1965) fand wenig Beachtung; er war stark von Heinrich Böll (1917-1985) beeinflusst, den G. bewunderte. Von 1969 bis 1971 war G. als Redakteur bei der Ffter Satire-Zeitschrift „Pardon“ angestellt. Ab Anfang der Siebzigerjahre war er als freier Schriftsteller in Ffm. tätig, u. a. zusammen mit Pit Knorr (* 1939) in einer „Autoren-Kooperative“. Er verfasste Beiträge und Hörspiele u. a. für den Hessischen Rundfunk, den Saarländischen Rundfunk und den Südwestfunk; daneben war er Pressereferent bei der Menschenrechtsorganisation „medico international“. Ende der 1970er Jahre gelang G. der Durchbruch als Schriftsteller mit der „Abschaffel“-Trilogie, die ab 1977 im Rowohlt Verlag erschien. Von 1980 bis 1986 war er Mitherausgeber und Redakteur der Ffter Literaturzeitschrift „Lesezeichen“. Erst 1982 holte G. das Abitur nach. Er begann in Ffm. ein Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie, das er mit einer Magisterarbeit „Die komische Empfindung. Ein Beitrag zur Ausdifferenzierung von Komik- und Humortheorien“ (1992) abschloss. Das Studium hat nach seiner eigenen Aussage seinen Schreibstil erheblich verändert. Weiterhin arbeitete G. auch als freier Journalist und Redakteur; viele Jahre lang war er für den Bärenreiter Verlag freiberuflich als Lektor tätig. Um 2000 kündigte ihm sein langjähriger Hausverlag, der Rowohlt Verlag, was G. als tiefe Kränkung empfand, woraufhin er zum Carl Hanser Verlag wechselte.
G. lebte von 1970 bis 1998 in Ffm., danach in Heidelberg, seit 2004 bis zu seinem Tod wieder in Ffm. Als Flaneur war er in der Stadt präsent und sammelte Beobachtungen für seine Romane. Die Ffter Literaturszene wurde von G. gefördert und geprägt, etwa durch seine Lesungen aus eigenen Werken (u. a. in der Romanfabrik, im Literaturhaus und beim Hessischen Literaturbüro bzw. beim daraus hervorgegangenen Hessischen Literaturforum im Mousonturm, oft zur Vorstellung seines neuesten Buchs) und später auch aufgrund seines „Amtes“ als Stadtschreiber von Bergen (1996/97). Im Wintersemester 2005/06 hielt G. unter dem Titel „Die Belebung der toten Winkel“ die Ffter Poetikvorlesung an der Universität.
G. verfasste über 20 Romane, daneben Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. Sein Hauptwerk ist die „Abschaffel“-Trilogie, bestehend aus den drei Romanen „Abschaffel“ (1977), „Die Vernichtung der Sorgen“ (1978) und „Falsche Jahre“ (1979). Sie behandelt das Leben eines mittleren Angestellten in einer mittelgroßen Spedition, sein Sexualleben und seine Psychoanalyse. Die „Abschaffel“-Trilogie stand 2011, also noch zu Lebzeiten des Autors, im Mittelpunkt des Lesefests „Fft. liest ein Buch“. Für die Ffter Rundschau schrieb G. die Kolumnen „Aus der Tiefe“ (Texte zu Postkarten, 1991-93; als Buch u. d. T. „Aus der Ferne“, 1993, als Ausstellung in Ffter Stadtteilbüchereien, 1995) und „Vorsicht Baustelle“ (1995-97). G.s Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001) wurde nach einem Lob von Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“ auch kommerziell ein großer Erfolg. Seit 2005 schrieb G. auch Theaterstücke. Das nach Grimmelshausen entstandene Stück „Courasche oder Gott lass nach“ (UA: Duisburg, 2007) löste im Vorfeld einen kleinen Skandal aus, als die Schauspielerin Veronica Ferres (* 1965) die für sie vorgesehene Hauptrolle wegen deren vulgärer Sprache in der bereits für 2006 vorgesehenen Uraufführung nicht spielen wollte. Seine Beobachtungen und Eindrücke in den unansehnlichen Teilen der Stadt Ffm. schilderte G. in dem „Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands“ (2013). Sein letzter Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“ erschien im Frühjahr 2018.
G. gilt als Erfinder des bundesdeutschen Angestellten-Romans. Die Hauptfiguren seiner Romane sind allesamt Melancholiker; sie spazieren ziellos durch die Stadt, deren banale Alltäglichkeit ungefiltert beobachtet und einer tiefgründigen Betrachtung unterzogen wird. So entwirft G. eine dichte Beschreibung von Ffm. und eine minutiöse Schilderung des Alltags. „Verlorene Flaneure bevölkern sein Werk, sie untersuchen die unverstandene und merkwürdige Welt lustvoll vom Rande aus. Ihr Blick poetisiert das Alltäglichste, daraus schöpfen sie ihren Trost. Genazino und seine Romanfiguren erscheinen als stille Beobachter, melancholische Beiseitesteher, heitere Wahrnehmungskünstler.“ (Ulrich Rüdenauer im Südwestrundfunk, 15.1.2023.)
Weitere Werke (in Auswahl): „Vaters Beerdigung“ (Hörspiel, ES: SFB, 1971), „Die Ausschweifung“ (Roman, 1981), „Fremde Kämpfe“ (Roman, 1984), „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ (Roman, 1989), „Die Liebe zur Einfalt“ (Roman, 1990), „Leise singende Frauen“ (Roman, 1992), „Die Obdachlosigkeit der Fische“ (Roman, 1994), „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (Erzählung, 1996), „Achtung Baustelle“ (Essays und Reden, 1998), „Die Kassiererinnen“ (Roman, 1998), „Fühlen Sie sich alarmiert“ (Rede an die Abiturienten des Jahrgangs 1999, erstmals im Druck erschienen in: FR, 21.8.1999), „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (Roman, 2003), „Der gedehnte Blick“ (Essays und Reden, 2004), „Die Liebesblödigkeit“ (Roman, 2005), „Lieber Gott mach mich blind“ (Theaterstück, UA: Darmstadt, 2005), „Der Hausschrat“ (Theaterstück, UA: Mülheim/Ruhr, 2007), „Mittelmäßiges Heimweh“ (Roman, 2007), „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ (Roman, 2009), „Wenn wir Tiere wären“ (Roman, 2011; nominiert für den Deutschen Buchpreis 2011), „Idyllen in der Halbnatur“ (Essays und Reden, 2012), „Bei Regen im Saal“ (Roman, 2014), „Außer uns spricht niemand über uns“ (Roman, 2016). G.s Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, und die Literaturwissenschaft hat sich in umfangreicher Sekundärliteratur mit ihm beschäftigt.
Seit 1990 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2011 Mitglied der Berliner Akademie der Künste. Zahlreiche weitere Ehrungen und Preise, u. a. Stadtschreiber von Bergen (1996/97), Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1998), Kranichsteiner Literaturpreis (2001), Georg-Büchner-Preis (2004), Kleist-Preis (2007), Poetikdozentur der Universität Heidelberg (2014) und Goetheplakette der Stadt Ffm. (2014).
Grabstätte auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann A 942).
2012 übertrug G. sein Archiv (77 Kästen) dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Es steht dort zwischen den Nachlässen von seinem akademischen Lehrer Hans-Georg Gadamer (1900-2002) und von seinem Freund und Dichterkollegen Robert Gernhardt.
Zur „Hommage an Wilhelm Genazino“ führte das „Ensemble 9. November“ 2019 im Gallus Theater die musiktheatralische Stadtballade „Das Meer, der Fisch, das Telefonbuch und 1 Senftüpfelchen“ nach Texten von G. auf. Zum 80. Geburtstag im Januar 2023 erschien unter dem Titel „Der Traum des Beobachters“ eine Auswahl aus dem Werktagebuch von G. (hg. v. Jan Bürger und Friedhelm Marx), und es gab anlässlich dieses Gedenktags eine „Hommage an den letzten Flaneur“ mit Veranstaltungen zu Ehren von G. in 20 Städten, u. a. mit einer Lesung „Best of Abschweifung“ im Literaturhaus in Ffm.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Roman Fischer.

Lexika: Hahn, Peter (Hg.): Literatur in Fft. Ein Lexikon zum Lesen. Ffm. 1987.Hahn (Hg.): Literatur in Fft. 1987, S. 214-217. | Killy, Walther (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. 14 Bde. und 1 Registerband. Gütersloh/München 1988-93. Digitale Ausgabe: Literaturlexikon. Hg. v. Walther Killy. Berlin 1998. (Digitale Bibliothek 9).Armin Schulz in: Killy 4 (1989), S. 109f. (in der digitalen Ausgabe: S. 6211-6212). | Wilpert, Gero von: Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch zur deutschen Literaturgeschichte. 3., erw. Aufl. Stuttgart 1988. (Kröners Taschenausgabe, Bd. 288).Wilpert: Dt. Dichterlex., S. 241.
Literatur:
                        
Boehncke, Heiner/Sarkowicz, Hans: Was niemand hat, find ich bei Dir. Eine Ffter Literaturgeschichte. Darmstadt/Mainz 2012.Boehncke/Sarkowicz: Ffter Literaturgeschichte 2012, S. 317. | Boehncke, Heiner/Sarkowicz, Hans: Literaturland Hessen. Ffm. 2005. Erw. Neuaufl. Wiesbaden 2015.Boehncke/Sarkowicz: Literaturland Hessen 2005, S. 86. | Chotjewitz Häfner, Renate (Hg.): Hessische Literatur im Porträt. Fotografien v. Ramunė Pigagaitė. Marburg 2006.Chotjewitz Häfner (Hg.): Hess. Literatur im Porträt 2006, S. 36f., 115. | Gazzetti, Maria (Hg.): Fft. Literarische Spaziergänge. Mit (...) einer literarischen Spurensuche von Renate Chotjewitz Häfner. Ffm. 2005. (Fischer Taschenbuch 16935).Gazzetti (Hg.): Lit. Spaziergänge 2005, S. 97. | Kulturelle Entdeckungen: Literaturland Hessen. Hg. v. d. Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen. [Regensburg] 2009.Kulturelle Entdeckungen: Literaturland Hessen 2009, S. 101f. | Sarkowicz, Hans: Hessen hat ein Gesicht. Außergewöhnliche Persönlichkeiten gestern und heute. Ausgewählt von Klaus Eiler, Volker Mosbrugger, Hans Sarkowicz, Klaus Pohl, Bernd Loebe, Juliane Kuhlmann und Klaus Euteneuer. Ffm. 2013.Sarkowicz: Hessen hat ein Gesicht 2013, S. 101-103.
Quellen: Ffter Rundschau. Ffm. 1945-heute.Genazino, Wilhelm: Stift auf Abwegen. Wie man Lehrjahre zu Herrenjahren macht. In: FR, Beilage: Kinder, Kinder!, Neue Jugend-Literatur, 10.11.1999, S. 1. | ISG, Dokumentationsmappe in der Sammlung S2 (mit Kleinschriften, Zeitungsausschnitten und Nekrologen zu einzelnen Personen und Familien).ISG, S2/12.427.
Internet: Akademie der Künste, Berlin. https://www.adk.de/de/akademie/mitglieder/?we_objectID=55184Akademie der Künste, 3.4.2023. | Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung e. V., Darmstadt. https://www.deutscheakademie.de/de/akademie/mitglieder/wilhelm-genazinoDt. Akademie für Sprache u. Dichtung, 3.4.2023. | Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, Hg.: Wikimedia Foundation Inc., San Francisco/Kalifornien (USA). https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_GenazinoWikipedia, 3.4.2023.

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Empfohlene Zitierweise: Fischer, Roman: Genazino, Wilhelm. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/10882

Stand des Artikels: 4.4.2023
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 04.2023.