Sender, Sidonie Zippora, gen. Toni (auch: Tony). Politikerin. Gewerkschafterin. Journalistin. * 29.11.1888 (Wiesbaden-)Biebrich/Rhein, † 26.6.1964 New York.
S. verbrachte ihre Kindheit in Biebrich als Tochter aus wohlhabend bürgerlicher, assimiliert jüdischer Familie. Als Dreizehnjährige setzte sie ihre Ausbildung an der Handelsschule für Mädchen in Ffm. durch. 1903 nahm sie eine Stelle bei einer Ffter Makler- und Immobilienfirma an. Enttäuscht von der Eintönigkeit des Berufsalltags, begann sie, sich in Kursen und Vorträgen, Diskussions- und Lesezirkeln privat weiterzubilden. Als Mitglied im Zentralverband der Angestellten (seit 1906) setzte sie sich für die Interessen der nur locker organisierten Angestellten ein. 1910 trat sie der SPD bei und nahm an den großen Demonstrationen gegen das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht teil. Noch 1910 wechselte S. zu der Ffter Metallhandelsfirma „Beer, Sondheimer & Co.“ als Fremdsprachenkorrespondentin in deren Pariser Filiale. Dort beteiligte sie sich an Wahlkampfveranstaltungen der sozialistischen Partei und engagierte sich für die Frauenbildungsarbeit.
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs aus Frankreich ausgewiesen und nach Ffm. zurückgekehrt, hielt S. Kontakt zur Ffter SPD und lernte den Exponenten der Parteilinken, den Ffter Bezirkssekretär
Robert Dissmann, kennen. Bei ihrer Rückkehr von der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Bern 1915 konnte sie den Text des dort verfassten Manifests gegen den Krieg über die Grenze schmuggeln, der dann als Flugblatt in den Ffter Industrievierteln verteilt wurde. Durch ihre aktive Rolle in der innerparteilichen Opposition der Kriegsgegner galt S. in Ffter Polizeiberichten bald als „stadtbekannte Agitatorin”. Im April 1917 nahm sie als Delegierte am Gründungsparteitag der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) in Gotha teil, mit dem sich die Befürworter einer sozialistischen Revolution von der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) abspalteten. Während der Revolution 1918/19 in Ffm. war S. Generalsekretärin der Exekutive des von der USPD organisierten Arbeiterrats. Obwohl der Arbeiterrat von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung als oberste Autorität anerkannt worden war, scheiterte S. bei dem Versuch, das sozialrevolutionäre Programm gegen die Reformvorstellungen der MSPD durchzusetzen.
Im April 1919 gab S. ihre Stelle als Abteilungsleiterin bei „Beer, Sondheimer & Co.“ auf und trat in das Redaktionskollegium des neu gegründeten USPD-Organs „Volksrecht” ein, einer in Ffm. erscheinenden Tageszeitung für den südwestdeutschen Raum. Bei der Wiedervereinigung von USPD und MSPD gehörte S. der gemeinsamen Programmkommission an und vertrat künftig den linken Flügel der SPD. Vom März 1919 bis zum Ablauf ihrer Amtsperiode 1924 war S. Mitglied der Ffter Stadtverordnetenversammlung. Bis August 1920 gehörte sie dem schul- und sozialpolitischen Ausschuss an und trat u. a. für die Erweiterung der Schulpflicht bis 16 Jahre, die Einführung der Einheitsschule anstelle des dreistufigen Systems, Koedukation, Lernmittelfreiheit und die Kommunalisierung der Volkskindergärten ein. Von 1920 bis 1933 war S. Mitglied des Reichstags, seit 1924 für den Wahlkreis Dresden-Bautzen. Bis zu ihrem Wegzug aus Ffm. (um 1925) referierte sie vor den Vertrauensleuten der Ffter SPD über Partei-, Regierungs- und Koalitionspolitik. Als Reichstagsabgeordnete entwickelte sie sich zu einer Expertin der Fraktion in Zoll- und Handelsfragen. Daneben war S. seit 1927 Redakteurin der SPD-Zeitschrift „Frauenwelt”. Auf gewerkschaftlicher Ebene nahm sie als Redaktionsleiterin (seit 1920) der in Ffm. erscheinenden Betriebsrätezeitschrift an einer Vielzahl von Kongressen der Metallarbeiter-Gewerkschaft, des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds und des Internationalen Gewerkschaftsbunds teil.
Am 5.3.1933 musste S. wegen offener Morddrohungen aus Deutschland fliehen. Über die Tschechoslowakei gelangte sie nach Belgien, wo sie bis 1935 als Journalistin bei einer in Antwerpen erscheinenden sozialdemokratischen Tageszeitung beschäftigt war. 1935 ließ sich S. nach einer Vortragsreise durch die USA endgültig in New York nieder. 1943 erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. In den ersten Jahren ihrer Emigration war sie Korrespondentin für französische und belgische Blätter und nahm ihre Vortragstätigkeit bei verschiedenen gewerkschaftlichen Organisationen wieder auf. 1938/39 setzte sie an der New Yorker New School for Social Research ihr 1927 in Berlin begonnenes Studium der Ökonomie fort. 1941 wurde sie Direktorin für Europäische Arbeitsforschung beim Office of Strategic Services, einem Nachrichtendienst des Kriegsministeriums der Vereinigten Staaten.
Seit 1944 arbeitete sie als Wirtschaftsspezialistin bei der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, die Hilfsmaßnahmen in den vom Krieg betroffenen Ländern leisten sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte S. sich zur scharfen Kritikerin des „Kommunismus russischer Prägung”, vertrat die amerikanischen Gewerkschaften und von 1949 bis 1956 den Internationalen Bund Freier Gewerkschaften bei den Vereinten Nationen. Ihre Hauptarbeit leistete sie in der Menschenrechtskommission und in der Kommission für die Rechtsstellung der Frau. 1956 gab S. wegen der Parkinson’schen Krankheit ihre Ämter und ihre Berufstätigkeit auf.
Ende 1947 besuchte S. während einer Dienstreise auch Ffm. Nachdem sie im Gewerkschaftshaus einen Vortrag über die amerikanische und deutsche Arbeiterbewegung gehalten hatte, wurde sie in kommentierenden Presseartikeln ohne Hinweis auf ihre Ffter Jahre als „amerikanische Gewerkschafterin” bezeichnet. Lediglich eine Anfrage der Ffter Gewerkschaft „Öffentliche Verwaltung und Betriebe” vom März 1947 suchte sie als Frauenbeauftragte für die Westzonen und für den Wiederaufbau der Gewerkschaftsarbeit zu gewinnen. 1948 unterstützte S. die Neugründung der Ffter Akademie der Arbeit, indem sie sich bei einer amerikanischen Stiftung für den Kauf einer umfangreichen Bibliothek einsetzte. Von S.s Tod 1964 wurde in Ffm. kaum Notiz genommen.
Erst nachdem 1981 die deutsche Übersetzung ihrer bereits 1939 erschienenen „Autobiography of a German Rebel” veröffentlicht worden war, lebte das Interesse an der Person S.s in Ffm. wieder auf.
Zwei Bronze-Porträtplaketten (von ihrem Schwager Fritz Kormis, 1926) im HMF.
1988/89 Ausstellung „100 Jahre Toni S.” in Wiesbaden-Biebrich. 1992/93 Ausstellung „Tony
[sic!] S. 1888-1964” im HMF.
Toni-S.-Straße in Sossenheim. Toni-S.-Oberstufe (bis 20.12.2021: Neue Gymnasiale Oberstufe) in Bockenheim. Tony
[sic!] -S.-Kabinett (als Standort der Bibliothek des Frauenreferats) in der Zentralbibliothek der Stadtbücherei in der Hasengasse 4 in Ffm. Seit 1992 Tony
[sic!] -S.-Preis der Stadt Ffm., der alle zwei Jahre an Frauen verliehen wird, die sich politisch um die Gleichberechtigung der Frau oder wissenschaftlich in der Frauenforschung mit lokalem Bezug besonders verdient gemacht haben.
Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 381-383,
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