Siebtes von neun Kindern des Holzhändlers Abraham G. (1836-1902) und dessen Ehefrau Rosalie, geb. Cassirer (1845-1911). Beide Eltern waren jüdischer Abstammung, wobei die Religion keine bestimmende Rolle in der Familie spielte. Ein Cousin, mit dem G. in engem Austausch stand, war der Philosoph Ernst Cassirer (1874-1945). 1905 heiratete G. in Ffm. Ida Zuckermann (1881-?), mit der er drei Töchter hatte. Die Ehe wurde im Juni 1934 geschieden. Am 8.8.1934 heiratete G. in London die aus Berlin stammende Psychologin und Nervenärztin Eva Rothmann (1897-1960), Tochter des Berliner Neurologen Max Rothmann (1868-1915).
Studium der Medizin in Breslau mit einsemestrigem Aufenthalt an der Universität Heidelberg. 1903 Approbation und Promotion. G.s bei dem Breslauer Neurologen Carl Wernicke (1848-1905) verfasste Dissertation trug den Titel „Die Zusammensetzung der Hinterstränge. Anatomische Beiträge und kritische Uebersicht“. Nach halbjähriger Volontärassistentenzeit bei seinem Doktorvater in Breslau wechselte G. das erste Mal nach Ffm., um von Oktober 1903 an für ein Jahr als Assistent am Neurologischen Institut von
Ludwig Edinger (1855-1918) zu arbeiten. Es folgten Aufenthalte an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Freiburg und der Nervenpoliklinik von Hermann Oppenheim (1858-1919) in Berlin. Im April 1906 wechselte G. an die Psychiatrische Universitätsklinik in Königsberg. 1907 Habilitation mit einer Arbeit „Über das Realitätsurteil halluzinatorischer Wahrnehmungen“. 1912 Erhalt des Prädikats „Professor“. Ein 1913 nach einem Vortrag verfasster Aufsatz „Über Rassenhygiene“ wirkt aus heutiger Sicht wie ein Schatten auf seinem Werk.
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs kam G. nach Ffm. an das Neurologische Institut von
Edinger zurück, wo er zum Abteilungsvorsteher für Pathologie ernannt wurde. Im Sommersemester 1915 hielt er erste Vorlesungen an der Universität. Während des Krieges war er für verschiedene Ffter Lazarette tätig und übernahm die Leitung des neu gegründeten „Instituts zur Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen“, das aus dem Reserveteillazarett Nr. 214 in der Villa Sommerhoff (kriegszerstört 1944) in der Gutleutstraße hervorgegangen war. Dies war der Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb (1887-1936). Gemeinsam verfolgten sie – als Pioniere auf diesem Gebiet – das Ziel einer ganzheitlichen Versorgung hirngeschädigter Soldaten. Nach dem Tod
Edingers im Januar 1918 leitete G. zunächst kommissarisch das Neurologische Institut und war auch für die Nachfolge als Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor im Gespräch. Es dauerte allerdings bis 1922, ehe G. zum Extraordinarius und zum regulären Direktor des Neurologischen Instituts ernannt wurde. 1923 wurde er persönlicher Ordinarius für Neurologie. Ende der 1920er Jahre hatte Karl Kleist (1879-1960), Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie, eine neue Nervenklinik in Niederrad aufgebaut, während G. sich vergeblich um eine eigene klinische Abteilung für sein Institut bemühte. Daraufhin wechselte G. 1930 nach Berlin, wo er die Leitung der neu eröffneten neurologischen Abteilung am Krankenhaus Moabit antrat. Das Ffter Hirnverletztenheim, das er weiter als Direktor leitete, besuchte er nur noch ungefähr einmal pro Monat. Das Heim, seit 1927 von einem eigens gegründeten Verein getragen, hatte seinen Sitz inzwischen im zu diesem Zweck erworbenen Haus Gärtnerweg 50 im Westend (kriegszerstört 1944, daraufhin Übersiedlung in die Villa Wertheimber in Bad Homburg, dort Verkauf der aus dem Heim hervorgegangenen Neurologischen Klinik zur Behandlung hirntraumatisierter Unfallopfer und Auflösung des Vereins 2004).
In Berlin wurde G., der Mitglied der SPD und des Vereins Sozialistischer Ärzte war, Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät der Charité. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er denunziert, am 1.4.1933 in seinem Dienstzimmer festgenommen und im berüchtigten SA-Gefängnis Papestraße inhaftiert. Seiner Assistentin und späteren zweiten Frau Eva Rothmann gelang es durch Vorsprache bei einem Vetter Hermann Görings, dem Arzt und Psychotherapeuten Matthias Heinrich Göring (1879-1945), nach vier Tagen eine Freilassung G.s zu erwirken. Daraufhin konnte G. in die Schweiz ausreisen, bevor er in die Niederlande ging, wo er – von der Rockefeller Foundation aus den USA finanziell unterstützt – sein 1934 veröffentlichtes Hauptwerk „Der Aufbau des Organismus“ schrieb. 1935 emigrierte G. nach New York und wurde Professor für klinische Psychiatrie an der Columbia University. Am Montefiore Hospital in der Bronx leitete er ein neurophysiologisches Labor. Zeitweise unterrichtete er auch an der Harvard University. Von 1940 bis 1945 arbeitete er als Professor für klinische Neurologie an der Tufts Medical School in Boston. 1945 übernahm er eine Praxis als Psychotherapeut und wurde Gastprofessor für Psychopathologie am College of the City of New York. 1958 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Ffter Universität. G., der seit 1940 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, starb 1965 im Alter von 86 Jahren in New York City an den Folgen eines Schlaganfalls.
Mitglied im Vorstand der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Mitbegründer (1927) der Internationalen Gesellschaft für Psychotherapie.
Medizinische Veröffentlichungen (in Auswahl): „Psychologische Analysen hirnpathologischer Fälle auf Grund von Untersuchungen Hirnverletzter“ (Aufsatz, gemeinsam mit Adhémar Gelb, 1918), „Die Behandlung, Fürsorge und Begutachtung der Hirnverletzten“ (1919), „Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen am kranken Menschen“ (1934), „Abstract and concrete behavior: an experimental study with special tests“ (Aufsatz, gemeinsam mit Martin Scheerer, 1941) und „Language and language disturbances: Aphasic symptom complexes and their significance for medicine and theory of language“ (1948).
Nachdem G.s Arbeiten zeitweise in Vergessenheit geraten waren, wird sein Ansatz einer „holistischen“ Neurologie inzwischen auch international zunehmend aufgegriffen. Der Ffter Medizinhistoriker Udo Benzenhöfer (1957-2021) zählte G. zu den „herausragenden Ffter Arztforschern“, wobei er ihn nicht zu den großen „Entdeckern“, sondern zu den großen „Anregern“ rechnete. In Berlin wurde an einem Gebäude des ehemaligen Krankenhauses Moabit eine Gedenktafel zur Ehrung der nach 1933 entlassenen jüdischen Klinikmitarbeitenden angebracht, auf der auch der Name G.s zu finden ist. Seit 2014 erinnert vor dem Gebäude der Neurologie und Neurochirurgie auf dem Gelände des Ffter Universitätsklinikums eine Stele an G.
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