Wiese, August Carl, gen. Ajo. Schriftsteller. Impresario. * 11.12.1866 Wetzlar, † 25.5.1917 Berlin.
Sohn des Briefträgers Bernhard Theodor Wiese und dessen Ehefrau Wilhelmine, geb. Fackert. Mindestens vier ältere Geschwister. Die Familie war evangelisch.
W. zeigte schon in jungen Jahren ein besonderes musikalisches Talent, und nach dem Besuch des Wetzlarer Gymnasiums strebte er ein Musikstudium an. Doch eine mehrjährige Erkrankung des Vaters zwang ihn, einen bürgerlichen Beruf zu erlernen. 1884 trat W. in die Postverwaltung ein und ließ sich in Ffm. nieder. In den folgenden Jahren wohnte er als Postassistent in der Lersnerstraße 5 bzw. 17 im Nordend. Auch in Ffm. verfolgte W. künstlerische Ambitionen. Seine erste und vermutlich einzige Buchveröffentlichung legte er 1891 unter dem Titel „Weihnachtszauber“ vor. Das Buch enthält vier Erzählungen. Schon zu dieser Zeit bediente sich W. der Vornamensform Ajo. Daneben soll er unter dem Pseudonym Felix Nortstett veröffentlicht haben; entsprechende Schriften haben sich bisher nicht ermitteln lassen.
Anfang der 1890er Jahre lernte W. den österreichisch-slowenischen Opernsänger Franz Naval (eigentl.: Franc Pogačnik; 1865-1939) kennen, der 1888 am Ffter Opernhaus debütiert hatte. Über etliche Jahre hinweg sollten W. und Naval eine innige Freundschaft und eine erfolgreiche berufliche Zusammenarbeit verbinden. Naval hatte als Schüler des Wiener Konservatoriums am 21.2. und 1.3.1888 in Ffm. „auf Engagement“ gastiert und war umgehend für die folgende Saison verpflichtet worden. Er galt in seiner Ffter Zeit als „Publikumsliebling“ und war bis 1895 am Opernhaus engagiert. Wohl für auswärtige Auftritte ließ er sich bereits in diesen Jahren von W. als seinem Agenten vertreten.
1898 zog W. nach Berlin, wo er sich als international tätiger Impresario einen Namen machte. So bemühte er sich, um den Jahreswechsel 1900/01
Wagners „Ring des Nibelungen“ unter Bernhard Stavenhagen (1862-1914), Kapellmeister am Münchner Hoftheater, auf Deutsch in Madrid, Lissabon und Barcelona aufführen zu lassen. Neben Franz Naval nahm W. jetzt die russische Schauspielerin Marija Sawina (1854-1915), den italienischen Tenor Francesco Tamagno (1850-1905), die schwedische Reformpädagogin Ellen Key (1849-1926) u. a. unter Vertrag. Später förderte er auch die ungarische Sopranistin Maria Ivogün (1891-1987). Nach der Jahrhundertwende wurde W. zudem künstlerischer Leiter der „International Talking Machine Company“, eines Unternehmens zur Produktion von Grammophonen und Schallplatten. Aus der Firma sollte wenig später das Label „Odeon“ hervorgehen, das 1904 die erste zweiseitig spielbare Schallplatte der Welt entwickelte. Ebenfalls 1904 erwarb W. in Berlin Patente u. a. für einen Sicherheitsverschluss für Krawattennadeln und für einen Hosenstrecker „mit durch Schnüre gegenseitig verbundenen Leisten zwecks Festhaltens der Hosen durch ihr eigenes Gewicht“. Um diese Zeit unterbreitete W. dem Reichspostamt und den Königlich Bayerischen Posten und Telegraphen auch mehrfach Vorschläge zur Einführung von „Markenbüchelchen“ als Briefmarkenvorrat für private Haushalte, doch die ersten Hefte dieser Art wurden in Deutschland erst 1910 (und ohne Beteiligung W.s) herausgebracht.
W. tourte mit Franz Naval, der bereits 1895 von Ffm. nach Berlin und drei Jahre später von dort nach Wien gewechselt war, in der Spielzeit 1903/04 durch die USA, wo Naval u. a. an der New Yorker Metropolitan Opera auftrat. Im Anschluss an die Reise kam es zu einem unwiderruflichen Bruch zwischen den Freunden. Zentraler Auslöser für das Zerwürfnis war der Umstand, dass Navals Ehefrau Viljemino, geb. Rau, 1903 plötzlich gestorben war. In der Folge scheint W. dem trauernden Freund seine Liebe gestanden zu haben. Die genauen Umstände sind unbekannt, doch offenbar konnte Naval die Gefühle W.s nicht erwidern. W. schrieb im April 1904, verzweifelt und ratlos, an Ellen Key: „Seit zwölf Jahren habe ich in die
Seele meines Freundes Naval hinein zu kommen getrachtet, ich wechselte meinen Beruf, verließ meine Familie, zog mit ihm – kurz, ich
lebte in ihm. Nun haben wir uns, herbeigeführt durch Dritte, getrennt. Nach der Ankunft aus Amerika getrennt – wie eine Reisebekanntschaft.“
Eine einfühlsame Brief- und Gesprächspartnerin fand W. in dieser Zeit der Trauer und der Selbstzweifel auch in der Berliner Schriftstellerin Franziska Mann (1859-1926), die eine Schwester des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld (1868-1935) war. Offenbar war W. für Mann nicht nur ein Freund, sondern er fungierte auch als ihr literarischer Berater. Für Franz Naval hatte das Zerwürfnis mit W. in beruflich-künstlerischer Hinsicht allem Anschein nach keine negativen Folgen. Anders sah es für W. aus. Noch 1913 schrieb Franziska Mann betrübt an Ellen Key: „Ajo ist ein ganzer Sonderling.
Wir sind immer gleich gut, aber es schmerzt mich, dass er nur für sich lebt. Mit Naval ist er ganz auseinander. Weißt Du, Ellen, ist es nicht grauenvoll, dass fast alle Liebe stirbt? Weißt Du noch, wie Ajo seinen Franz vergötterte?“
Als W. im Mai 1917 an einem Herzleiden starb, bekannte Franziska Mann Ellen Key gegenüber: „Das Leben strömt – vielleicht jetzt besonders – unerklärlich rasch weiter. Ich habe nie gewusst, wie viel Ajo mir bedeutete: Wir sahen uns selten, aber wir wussten, das ofte Sehen spielte gar keine Rolle zwischen uns: Er war mein literarischer Beirat; ich vertraute seiner Kritik, und wenn er sagte, etwas sei gelungen oder fein, so war ich fertig mit der Kritik überhaupt.“
Das einzige bekannte Exemplar von W.s Buch „Weihnachtszauber“ (1891) findet sich im Besitz der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft in Berlin. Weitere Veröffentlichungen von W.: „Wenn ihr einst alt!“, „Mein Edelweiß“, „Die Abencerragen“ und „Wo ein Mensch gelebt“ [vier Gedichte; in: Robert Claußner (Hg.): Unsere Dichter in Wort und Bild 1, 1891], „Franceschina Prevosti“ (in: Neue Musik-Zeitung, 1895), „Ein Besuch bei Ellen Key“ (in: Berliner Tageblatt, 12.9.1904), „Vor und hinter amerikanischen Kulissen“ (in: Deutsche Bühnengenossenschaft, 1905), „An der Bahre Othellos. Persönliche Erinnerungen an Tamagno“ (in: Berliner Tageblatt, 2.9.1905) und „‚Cosi fan tutte...‘. Eine Nacht-Episode von der russischen Grenze“ (in: Grazer Tagblatt, 21.6.1906, und 22.6.1906).
Die Briefe von Ajo W. und Franziska Mann an Ellen Key befinden sich in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm. Eine Sammlung von Zivilporträts und Rollenfotos Franz Navals, vornehmlich aus Ffm., Berlin und Wien, liegt im Wiener Theatermuseum vor. Mehrere dieser Bilder tragen handschriftliche Widmungen Navals an W. („Meinem lieben Freunde Ajo“ u. ä.).
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