Die beliebte schwedische Kinderbuchautorin (u. a. „Pippi Långstrump“, 1945, dt.: „Pippi Langstrumpf“, 1949; „Alla vi barn i Bullerbyn“, 1947, dt.: „Wir Kinder aus Bullerbü“, 1954; „Emil i Lönneberga“, 1963, dt.: „Michel in der Suppenschüssel“, 1964) wurde 1978 in Ffm. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Für die Schriftstellerin bedeutete dieser Preis „den Höhepunkt ihrer internationalen Anerkennung, gerade weil er über die Grenzen der Kinder- und Jugendliteratur hinausging“ (Birgit Dankert). Im Vorfeld der Preisverleihung schickte L. ihre Dankesrede „Niemals Gewalt“, ein mutiges Plädoyer für die Rechte des Kindes und die Gewaltfreiheit in der Erziehung, an den Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Stifter des Preises, woraufhin sie den Text mit dem Hinweis zurückerhielt, sie solle den Preis nur entgegennehmen und sich „kurz und gut“ bedanken. Die Schriftstellerin bestand jedoch auf ihrer Rede: Andernfalls würde sie nicht zur Preisverleihung erscheinen. Der Börsenverein lenkte ein.
Am Buchmessensonntag, den 22.10.1978, wurde L. von Rolf Keller (1916-1987), dem Vorsteher des Börsenvereins, in der Ffter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht. In der Verleihungsurkunde hieß es, dass L. „mit ihrem gesamten Werk beispielhaft für alle“ stehe, „die mit ihren Büchern Kindern in aller Welt als unverlierbaren Schatz die Phantasie schenken und ihr Vertrauen in das Leben bestärken. (...) Das Werk von Astrid Lindgren bedeutet keine Abkehr von der Wirklichkeit, keine Verführung zur Flucht in Träume. Astrid Lindgren führt in eine Welt, in der wir lachen und weinen, träumen, aber auch leben können. Ihre Bücher vermitteln Leben und Wärme, bezaubern und verzaubern. Sie erziehen behutsam, aber nachdrücklich zu Toleranz und Verantwortung, den unabdingbaren Voraussetzungen des Friedens.“ [Zit. nach: Börsenverein d. Dt. Buchhandels (Hg.): Astrid Lindgren. Ansprachen anlässlich d. Verleihung d. Friedenspreises d. Dt. Buchhandels 1978, S. 5.] Bei der Feierstunde zur Preisverleihung begrüßte Oberbürgermeister
Walter Wallmann im Namen der Stadt Ffm. die Gäste. Der Jugendbuchautor Hans-Christian Kirsch (Psd.: Frederik Hetmann; 1934-2006) hielt die Laudatio auf die Preisträgerin, und L. bedankte sich mit ihrer „Friedensrede“. Es folgte eine (aus heutiger Sicht stellenweise äußerst fragwürdige) Festansprache des Pädagogen Gerold Ummo Becker (1936-2010), des Leiters der Odenwaldschule. Becker stand damals im Ansehen eines Reformpädagogen, der etwa für „herrschaftsfreie“ Strukturen an Schulen eintrat, während er – wie erst Jahrzehnte später öffentlich wurde – zugleich ein perfides System der sexualisierten Gewalt gegenüber Kindern an der Odenwaldschule ausübte.
Wie ein Fanal wirkte dagegen L.s (auf Deutsch gehaltene) Dankesrede unter dem Motto „Niemals Gewalt!“. Sie zeigte darin auf, wie Aggression und Krieg ihren Anfang in den Kinderzimmern nehmen, wenn in der Erziehung physische oder psychische Gewalt angewandt wird, und schilderte in einem eindrucksvollen Bild, wie Kinder sich fühlen, wenn ihre Eltern ihnen vorsätzlich wehtun. Sie erzählte die Geschichte einer jungen Mutter, die einmal geglaubt hatte, ihren kleinen Sohn mit einer Tracht Prügel bestrafen zu müssen: „Sie [d. i. die Mutter] trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: ‚Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.’ Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. (...) Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte: ‚NIEMALS GEWALT!’“ (Astrid Lindgren: Niemals Gewalt. Zit. nach: ebd., S. 39.) Zwar wisse auch L., dass es eine Utopie sei, den Weltfrieden allein durch eine gewaltfreie Erziehung erreichen zu wollen. Aber in der Gegenwart gebe es „so unfaßbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden“, was „den Kindern keineswegs verborgen“ bleibe: „Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, daß es eine andere Art zu leben gibt?“ (Zit. nach: ebd., S. 39f.) Vielleicht, so schlug sie vor, sollten wir alle einen kleinen Stein auf das Küchenbord legen, als „Mahnung für uns und für die Kinder: NIEMALS GEWALT!“, um mit den Worten zu schließen: „Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt. Glaube ich.“ (Zit. nach: ebd., S. 40. Die beiden letzten Worte wurden nach Hörfunk- und Fernsehaufzeichnungen der Rede ergänzt.)
L.s „Friedensrede“ fand schnell weltweit Resonanz. Nach dem Erscheinen in den Medien im Zuge der aktuellen Berichterstattung veröffentlichte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Rede noch 1978 erstmals in einer kleinen Broschüre mit allen Ansprachen, die anlässlich der Verleihung des Friedenspreises an die Autorin gehalten worden waren – obwohl doch gerade der Börsenverein ursprünglich lieber auf L.s Worte in der Paulskirche verzichtet hätte. Offenbar hatte er als Veranstalter vor allem die Empörung des (konservativen) offiziellen Publikums vor Ort angesichts von L.s Eintreten gegen jegliche Gewalt in der Erziehung befürchtet, zumal seinerzeit nicht nur in Deutschland den Eltern das Recht auf körperliche Züchtigung ihrer Kinder noch gesetzlich zustand. Mit ihrer Ffter Rede gab L. den entscheidenden Impuls, dass 1979 in ihrem Heimatland Schweden als erstem Staat der Welt ein Gesetz eingeführt wurde, das die körperliche Züchtigung in der Kindererziehung verbot. Nach und nach folgten weitere Länder dem schwedischen Vorbild. Schließlich wurde das Recht auf gewaltfreie Erziehung in der Kinderrechtskonvention der UN festgeschrieben, die im September 1990 in Kraft trat. In Deutschland wurde am 2.11.2000 das „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ verabschiedet, wonach das Recht auf gewaltfreie Erziehung in Paragraph 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs verankert ist.
Das Preisgeld des Friedenspreises in Höhe von 10.000 Mark stiftete L. zur einen Hälfte dem Münchener Projekt „Das fröhliche Krankenzimmer“ für die Einrichtung von Kinderbüchereien in Krankenhäusern und zur anderen Hälfte dem schwedischen Hilfsprogramm „Rädda Barnen“ („Rettet die Kinder“).
Astrid-L.-Schule, eine Grundschule, am Dornbusch (an der Grenze zu Ginnheim).
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