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Gleissberg, Wolfgang

Wolfgang Gleissberg und Charlotte Michael

Wolfgang Gleissberg und Charlotte Michael als Verlobte in Breslau
Fotografie (1933; im Besitz von Ingrid Oppermann).

© unbekannt. Der/die Fotograf/-in ist auf dem Originalfoto nicht genannt.
Wolfgang Gleissberg

Wolfgang Gleissberg in Istanbul
Fotografie (1953; im Besitz von Ingrid Oppermann).

© unbekannt. Der/die Fotograf/-in ist auf dem Originalfoto nicht genannt.
Gleissberg (eigentl.: Gleißberg), Wolfgang. Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Astrophysiker. * 26.12.1903 Breslau, † 23.8.1986 Oberursel-Oberstedten/Taunus.
Sohn des Zigarrenfabrikanten Carl G. (1863-1927) und dessen Ehefrau Erna, geb. Wollstein (1872-1942). Ein Bruder: Gerhard G. (1905-1973), Journalist und Politiker. Verheiratet (seit 1934) mit Charlotte G., geb. Michael (1912-?). Eine Tochter: Ingrid G. (später verh. Oppermann, * 1938).
G. wuchs in Breslau auf. Dort besuchte er das St. Elisabeth-Gymnasium. Schon früh zeigte sich G.s Interesse für Astronomie. Seit 1922 studierte er Mathematik, Astronomie und Physik an den Universitäten in Berlin (1922/23) und in Breslau (1922-26). Seine Laufbahn als Wissenschaftler begann er als Assistent am Mathematischen Seminar der Universität in Breslau unter Adolf Kneser (1862-1930) und Hans Rademacher (1892-1969). 1927 wechselte G. als Assistent zur Sternwarte der Universität in Breslau. 1930 wurde er mit einer Dissertation zum Thema „Die Bewegung einer rollenden Kreisscheibe als Problem der Variationsrechnung“ im Bereich Mathematik zum Dr. phil. promoviert. Wegen seines jüdischen Großvaters wurde G. aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 entlassen, konnte aber noch bis Ende des Jahres 1933 in der Sternwarte in Breslau tätig sein.
G. entschloss sich zur Emigration in die Türkei. Der türkische Staatspräsident Mustafa Kemal Pascha (Nachname seit 1934: Atatürk; 1881-1938) suchte zu dieser Zeit Unterstützung durch ausländische Professoren für die Reform des türkischen Hochschulwesens und zum Aufbau von Universitäten. So fanden viele Wissenschaftler aus Deutschland, die aus politischen oder „rassischen“ Gründen diskriminiert und verfolgt wurden, in der Türkei Zuflucht. An der neugegründeten Universität Istanbul war G. seit 1934 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Astronomie tätig. Zusammen mit dessen erstem Direktor, dem aus Wiesbaden-Biebrich stammenden Astrophysiker Erwin Freundlich (1885-1964), ebenfalls Emigrant aus Deutschland, baute G. dort die Sternwarte auf. Seit 1935 las er an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul. Anfangs hielt der Astrophysiker seine Vorlesungen mithilfe eines Übersetzers, dem jedoch häufig die notwendige Fachkompetenz fehlte. Daher widmete sich G. mit großem Eifer dem Erlernen der türkischen Sprache. Bereits nach zehn Monaten konnte er seine Vorlesungen in der Landessprache halten. G. wurde in eine Kommission berufen, die die Aufgabe hatte, wissenschaftliche Fachbegriffe in türkischer Sprache zu entwickeln. Diese Fachbegriffe fanden auch Eingang in das von Freundlich und G. verfasste Lehrbuch der Astronomie (1937). G. engagierte sich außerdem ehrenamtlich in der Evangelischen Gemeinde in Istanbul und übernahm nach dem Weggang des eher nationalsozialistisch orientierten Pfarrers übergangsweise die Gottesdienste.
1948 wurde G. Professor der Astronomie und Direktor des Observatoriums an der Universität Istanbul, seit 1954 als Ordinarius. Ab 1953 unterrichtete er auch an der Universität in Ankara. G., der sich in früheren Jahren vor allem mit der Frage des inneren Aufbaus der Sterne beschäftigt hatte, forschte nun intensiv zu den Sonnenflecken und deren Periodizität (vgl. seine Publikation „Die Häufigkeit der Sonnenflecken“, 1952). So konnte er einen etwa 80-jährigen Zyklus nachweisen, den nach ihm benannten „Gleissberg-Zyklus“, der den schon zuvor bekannten elfjährigen Schwabe-Zyklus in der Sonnenaktivität überlagert.
Bereits 1947 hatte G. einen Ruf nach Berlin erhalten. Doch konnte er sich zu dieser Zeit noch nicht entschließen, nach Deutschland zurückzukehren. Zu sehr belasteten ihn die eigenen Erfahrungen und die Schicksale seiner Familienmitglieder. Seine jüdische Großmutter hatte zwar in einem Ursulinenkloster überlebt, mehrere Mitglieder der Familie waren jedoch Opfer der Shoah geworden. Seinem Bruder Gerhard G. war die Flucht über die Tschechoslowakei und Frankreich nach Großbritannien gelungen. Er kam direkt nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück. Gegen Ende der 1950er Jahre änderte sich G.s Einstellung gegenüber Deutschland aus verschiedenen Gründen. Er ging davon aus, nun sei ein Neuanfang möglich, da eine neue Generation herangewachsen war. Außerdem mag eine Rolle gespielt haben, dass seine Tochter Ingrid zum Studium nach Deutschland ging. Auch gab es für ihn jetzt die Möglichkeit, mithilfe der Wiedergutmachungsregelungen eine angemessene Anstellung zu bekommen, die aus Bundesmitteln finanziert wurde.
Willy Hartner, Direktor des Instituts für Geschichte der Naturwissenschaften in Ffm., bemühte sich zur selben Zeit darum, das Fach Astronomie im Lehrprogramm der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu erhalten. Nachdem der Lehrstuhl seit der erzwungenen Entlassung von Karl Wilhelm Meissner (1891-1959) im Jahr 1937 nicht mehr besetzt gewesen war, hatte Karl Schiller (1882-1979) ab 1946 zunächst nur einen Lehrauftrag bzw. ab 1956 eine Honorarprofessur für Astronomie erhalten. Der Kontakt zu G. ergab sich durch mehrere Studienaufenthalte Hartners in Istanbul. Im Sommer 1957 stellte sich G. mit einem Vortrag der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Ffter Universität vor. Am 4.2.1958 beantragte deren Dekan Karl Krejci-Graf (1898-1986) beim Hessischen Kultusministerium, G. einen unbesoldeten Lehrauftrag für Astronomie zu erteilen. Am 20.9.1958 wurde G. zum Honorarprofessor ernannt. Die Konstruktion, dass G.s Beschäftigung im Rahmen der „Wiedergutmachung“ aus Bundesmitteln finanziert wurde, ermöglichte es, dass die Astrophysik weiterhin in der Fakultät vertreten war, obwohl keine Professur zur Verfügung stand. Aber diese Regelung barg auch Konfliktpotential, da aufgrund des Sonderstatus von G. ungeklärt war, ob er als Mitglied der Fakultät bzw. des Fachbereichs anzusehen und zur Teilnahme an den Gremien der Hochschule berechtigt war. G.s Bemühungen um die Wiederreinrichtung eines etatisierten Lehrstuhls blieben ohne Erfolg.
Ab dem Sommersemester 1958 hielt G. Vorlesungen an der Ffter Universität. Mit dem Wintersemester 1958/59 wurde er als Honorarprofessor für den ausgeschiedenen Karl Schiller beschäftigt. Von 1960 bis 1977 war G. Leiter des Astronomischen Instituts am Institut für angewandte Physik in Ffm. Zusätzlich war er durch Vermittlung seines früheren Kollegen Erwin Freundlich, der inzwischen als Honorarprofessor an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz lehrte, Lehrbeauftragter in Mainz. 1965/66 versah er vorübergehend eine Lehrstuhlvertretung in Ankara. Neben Forschung und Lehrtätigkeit nahmen G. und die Mitarbeitenden seines Instituts an nationalen und internationalen Tagungen und Kongressen teil. Aus den Institutsberichten geht die umfangreiche Vortragstätigkeit im In- und Ausland hervor. Anlässlich des 150-jährigen Bestehens des Physikalischen Vereins am 24.10.1974 hielt G. den Festvortrag zum Thema „Astronomische Forschung gestern und heute“. Zudem engagierte sich der Astrophysiker mit seinem Institut für den Wettbewerb „Jugend forscht“, dessen Jury beim Landeswettbewerb G. jahrelang angehörte. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Institut aus Alters- und Gesundheitsgründen korrespondierte G. weiterhin mit Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland und betreute Studierende und Doktoranden. G. und seinem Amtsvorgänger Karl Schiller ist zu verdanken, dass die Astrophysik nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an der Ffter Universität Fuß fassen konnte.
In seinem Wohnort Oberstedten (der 1972 nach Oberursel eingemeindet wurde) engagierte sich G., seit 1958 Mitglied der SPD, ab 1960 in der Kommunalpolitik.
Verfasser zweier astronomischer Lehrbücher in türkischer Sprache (mit Erwin Freundlich, 1937; als Alleinverfasser, 1952) sowie zahlreicher Artikel in deutschen, türkischen, englischen und amerikanischen Fachzeitschriften (u. a. „Astronomie in der Türkei“, in: Sterne und Weltraum, 1967). Bekannt wurde G. auch durch seine populärwissenschaftlichen Vorträge, beispielsweise zum Thema „Ist im Weltraum Platz für Gott?“. Zudem sprach er im Rundfunk. Zu Sylvester 1976 erläuterte er im HR, wie es zur Festlegung des Jahresbeginns auf den 1. Januar kam.
Seit 1948 Herausgeber der „Publications of the Istanbul University Observatory“.
Verfasser mehrerer kleiner Geschichten und Anekdoten über seine Erfahrungen in der Türkei unter dem Titel „Unter Halbmond und Stern“ für das Mitteilungsblatt der Gemeinde Oberstedten (1963/64).
Seit 1974 Ehrenmitglied des Physikalischen Vereins. 1981 Ehrendoktorwürde der Universität Istanbul.
Seit 2009 Wolfgang-G.-Zimmer in der Sternwarte der Universität Istanbul zur Erinnerung an die dortige Tätigkeit des Wissenschaftlers.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Angelika Rieber.

Lexika: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945. 3 Bde. München/New York/London/Paris 1980-83.Emigrantenlex. II.1, S. 382.
Literatur:
                        
Bethge, Klaus/Freudenberger, Claudia (Hg.): 100 Jahre Physik an der Goethe-Universität in Ffm. 1914-2014. Ffm. 2014.Kegel, Wilhelm: Wolfgang Gleissberg. In: Bethge/Freudenberger (Hg.): 100 Jahre Physik an der Goethe-Universität in Ffm. 2014, S. 371-382. | Bethge, Klaus/Klein, Horst (Hg.): Physiker und Astronomen in Ffm. Neuwied 1989.Wilhelm H. Kegel in: Bethge/Klein (Hg.): Physiker u. Astronomen 1989, S. 209-216. | Die Ehrenmitglieder des Physikalischen Vereins. Hg.: Bruno Deiss, Physikalischer Verein, Gesellschaft für Bildung und Wissenschaft, Ffm. Bearb. v. Peter Pfaff, Barbara Thies-Schäfer (mit Unterstützung von Lars Christian, Bruno Deiss). Einleitender Text: Lars Christian. Ffm. [Copyright 2022].Deiss (Hg.): Ehrenmitglieder d. Physikalischen Vereins 2022, S. 23, 63. | Jahresbericht des Physikalischen Vereins [zu] Ffm. (...). Bisher 198 Jahrgänge. Ffm. [1824/25] 1831-2022.Nachruf in: Jahresbericht d. Physikalischen Vereins 1988, S. 6f. | Mitteilungen der Astronomischen Gesellschaft. Bisher 106 Bände. Hamburg 1949-2022.Gleissberg, Wolfgang: Jahresbericht des Astronomischen Instituts der Universität Ffm. für 1976. In: Mitt. d. Astronomischen Gesellschaft 41 (1977), S. 78-81. | Mitteilungen der Astronomischen Gesellschaft. Bisher 106 Bände. Hamburg 1949-2022.Gleissberg, Wolfgang: Jahresbericht des Astronomischen Instituts der Universität Ffm. für 1977. In: Mitt. d. Astronomischen Gesellschaft 44 (1978), S. 79f. | Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Heimatkunde Oberursel (Taunus) e. V. [Späterer Titel: Mitteilungen.] Bisher 60 Hefte. Oberursel 1963-2021.Rieber, Angelika: Zuflucht in der Türkei. Wolfgang Gleissberg. In: Mitt. d. Vereins für Geschichte u. Heimatkunde Oberursel 53 (2014), S. 103-106. | Rieber, Angelika (Hg.): „Plötzlich und unerwartet fand ich mich ausgeschlossen“. Christen jüdischer Herkunft im Hochtaunuskreis. Ein Begleitbuch zu den Ausstellungen in Bad Homburg, Königstein und Oberursel. Hg. in Zusammenarbeit mit der Geellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus u. den Evangelischen Dekanaten Hochtaunuskreis und Kronberg. [Oberursel] 2022.Rieber, Angelika: Wolfgang Gleissberg. Zuflucht in der Türkei. In: Rieber (Hg.): Christen jüdischer Herkunft im Hochtaunuskreis 2022, S. 30f. | Sterne und Weltraum (SuW). [Untertitel u. a.: Zeitschrift für Astronomie.] Bisher 62 Jahrgänge. Mannheim, später Heidelberg 1962-2023.Gleissberg, Wolfgang: Astronomie in der Türkei. In: Sterne u. Weltraum 6 (1967), H. 12, S. 275-279. | Sterne und Weltraum (SuW). [Untertitel u. a.: Zeitschrift für Astronomie.] Bisher 62 Jahrgänge. Mannheim, später Heidelberg 1962-2023.Witt, Volker: Vom Einsteinturm an den Bosporus. Exilanten gründeten die Sternwarte Istanbul. In: Sterne u. Weltraum 52 (2013), H. 11, S. 86-91. | Wer ist’s? Titel auch: Degener’s Wer ist’s? Titel ab 1923: Wer ist wer? Wechselnde Untertitel: Zeitgenossenlexikon. / Unsere Zeitgenossen. / Das deutsche Who’s who. Leipzig, ab 1928 Berlin 1905-93.Wer ist wer? 1962, S. 430.
Quellen: Hessisches Landesarchiv (HLA), Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW).HLA, Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Kultusministerium, Best. 504 Nr. 11192. | ISG, Dokumentationsmappe in der Sammlung S2 (mit Kleinschriften, Zeitungsausschnitten und Nekrologen zu einzelnen Personen und Familien).ISG, S2/6.300. | Frdl. Mitteilungen an d. Verf.Mitteilungen von Ingrid Oppermann, 2010-21.
Internet: Projekt Jüdisches Leben in Ffm., Spurensuche – Begegnung – Erinnerung e. V., Oberursel. https://www.juedisches-leben-frankfurt.de/home/biographien-und-begegnungen/biographien-g-l/wolfgang-gleissberg/
Hinweis: Artikel über Wolfgang Gleissberg von Angelika Rieber.
Jüd. Leben in Ffm., 5.2.2023.
| Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Gleißberg - https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Gleißberg -
Hinweis: Artikel über Wolfgang und über seinen Bruder Gerhard Gleißberg.
Wikipedia, 1.3.2023.


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Empfohlene Zitierweise: Rieber, Angelika: Gleissberg, Wolfgang. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/6586

Stand des Artikels: 3.3.2023
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 03.2023.