Jüngstes von fünf Kindern des protestantischen Stettiner Arztes
Eduard Ernst Julius B. (1828-1910) und dessen Ehefrau Marie, geb. Gerstaecker (1830-1917). Geschwister: Lisbeth B. (1861-1943), Malerin; Erich B. (1863-1940), Altphilologe; Martin B. (1866-1956), Mediziner und Genealoge; Carl B. (1869-1943), Kaufmann. Verheiratet in erster Ehe (von 1900 bis zur Scheidung 1927) mit der Schriftstellerin Anna B., geb. Kuhn (1876-1966), Tochter des Straßburger Professors für Ohrenheilkunde Abraham Kuhn (1838-1900), in zweiter Ehe (seit 1929) mit der Violinistin Vera B., geb. Congehl (1897-1977). Beide Ehefrauen waren jüdischer Herkunft. Ein Sohn aus erster Ehe:
Hans Albrecht B. (1906-2005), Physiker. Zwei Kinder aus zweiter Ehe:
Doris Margarethe B. (seit 1957 verh. Oberbeck, 1933-2024), Diplom-Sportlehrerin, und
Klaus Wolfgang B. (* 1934), Professor für Elektrotechnik an der TU Braunschweig.
Nach dem zu Ostern 1892 in Stettin absolvierten Abitur studierte B. Naturwissenschaften und Medizin an den Universitäten von Freiburg, München und Berlin. 1895 Promotion zum Dr. phil. in München bei Richard Hertwig (1850-1937) im Fach Zoologie mit einer Arbeit über die Hörbläschen von Schwebegarnelen („Die Otocyste von Mysis“). Nach kurzen Aufenthalten in Plymouth und Heidelberg ging B. 1896 als Assistent zu Richard Ewald (1855-1921) an das zunächst noch von Friedrich Goltz (1834-1902) geleitete Physiologische Institut der Universität Straßburg, wo er 1898 mit einer Arbeit „Ueber die Primitivfibrillen in den Ganglienzellen vom Menschen und anderen Wirbelthieren“ zum Dr. med. promoviert wurde. Bereits ein Jahr später habilitierte er sich für das Fach Physiologie. Es folgten wiederholt Arbeitsaufenthalte an der Zoologischen Station in Neapel. In Straßburg wurde er 1906 zum außerordentlichen Professor ernannt. Im Jahr 1911 nahm er einen Ruf als ordentlicher Professor für Physiologie an die Universität Kiel an.
Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs wurde B. zum Ordinarius und Direktor des Instituts für animalische Physiologie (auch: physikalische Physiologie) an die neugegründete Universität in Ffm. berufen. Dort traf er auf
Gustav Embden, den Gründungsordinarius für Physiologie und Direktor des Instituts für vegetative Physiologie, mit dem er einige Jahre zuvor bereits in Straßburg zusammengearbeitet hatte. Im April 1915 trat B. seine neue Stelle an und bezog Räumlichkeiten in dem gerade fertiggestellten Theodor-Stern-Haus, in das auch
Embdens Institut für vegetative Physiologie, das von
Alexander Ellinger geleitete Pharmakologische Institut und schließlich das Institut für Kolloidforschung einzogen. Im Verlauf des ersten Kriegsjahrs, vor Antritt seiner Ffter Stelle, war B. als Arzt im Straßburger Festungslazarett eingesetzt gewesen, wo er auch den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) kennengelernt hatte. Als Arzt und Berater in Sedan und Vouziers, speziell zur Untersuchung und Versorgung von Gehirnverletzten (1916), forschte er während des Krieges zu Gehirnverletzungen und zur Therapie großer Nervendefekte; auch beriet er Sauerbruch bei der Konstruktion künstlicher Gliedmaßen. Im letzten Kriegsjahr (1917/18) wurde B. zum Rektor der Ffter Universität gewählt, nachdem er im Vorjahr (1916/17) bereits das Amt des Dekans der Medizinischen Fakultät bekleidet hatte. Im März 1917 wurde ihm der Titel eines Geheimen Medizinalrats verliehen.
In der Weimarer Republik war B. von 1918 bis 1930 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Er kritisierte die konservative Haltung der Universitäten und sprach sich gegen eine allzu starke Reglementierung des Studiums aus. Zusammen mit seinen (ehemaligen) Ffter Kollegen Gustav von Bergmann,
Gustav Embden und
Alexander Ellinger gab er von 1925 bis 1932 das 18-bändige „Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie“ heraus. Als B. das 65. Lebensjahr vollendet hatte, wurde er 1937 nach Paragraph 6 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau in den Ruhestand versetzt – bei erheblicher Kürzung seiner Pensionsbezüge. Seine ihm eigentlich zustehenden Emeritusrechte wurden ihm verwehrt, was u. a. den Verlust der Lehrbefugnis und der Prüfungsberechtigung zur Folge hatte. Im Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität wurde er ab dem Sommersemester 1938 nicht mehr genannt.
Das Wohnhaus der Familie B. in der Holbeinstraße 56 in Sachsenhausen wurde bei einem Luftangriff im Januar 1944 vollständig zerstört. Die Familie zog ins oberhessische Laubach, wo sie bis zum Kriegsende auf dem Land lebte. Zurück in Ffm., wohnte sie im Haus der Witwe von B.s jüdischem Kollegen
Gustav Embden in der Forsthausstraße (heute: Kennedyallee) 99. Mit 73 Jahren übernahm B. 1946 noch einmal die kommissarische Leitung seines ehemaligen Instituts, da sein Nachfolger Karl Wezler (1900-1987) aus politischen Gründen von der amerikanischen Militärregierung vorübergehend suspendiert worden war. In Anerkennung seiner Verdienste wurde B. anlässlich seines 75. Geburtstags 1947 zum Ehrenbürger, fünf Jahre später zum Ehrensenator der Universität Ffm. ernannt. Die Medizinischen Fakultäten der Universitäten Göttingen und Kiel verliehen ihm 1952 die Ehrendoktorwürde. Noch mit 80 Jahren veröffentlichte B. ein Buch mit dem Titel „Allgemeine Physiologie“ (1952), worauf ihn – wie er im Geleitwort schrieb – seine Studenten gebracht hatten, als er „1946 nach achtjähriger, unfreiwilliger Pause zum erstenmal wieder die allgemeine Einleitung zur physiologischen Hauptvorlesung beendet hatte“. Kollegen und Schülern, die als Ärzte und Wissenschaftler im NS-Staat Karriere gemacht hatten, begegnete B. nach dem Krieg mit sehr viel Nachsicht, vor allem im Interesse einer Fortsetzung des Wissenschaftsbetriebs. Dass er sich im Rahmen von Entnazifizierungsverfahren großzügig für die Vergabe von „Persilscheinen“ einsetzte, ist aus heutiger Sicht durchaus kritisch zu sehen.
B. starb 1954 im Alter von 82 Jahren in seiner wenige Monate zuvor bezogenen Wohnung in der Flughafenstraße 8 im Ffter Stadtteil Niederrad. Als Todesursache wurden in der amtlichen Sterbeurkunde eine Magenkrebserkrankung und eine „Herzlähmung“ angegeben. Sein ehemaliger Mitarbeiter Rudolf Thauer (1906-1986) verfasste einen ausführlichen Nachruf, der 1955 in der physiologischen Fachzeitschrift „Pflüger’s Archiv“ erschien, die B. selbst von 1918 bis 1954 mitherausgegeben hatte.
Weitere medizinische Veröffentlichungen (in Auswahl): „Allgemeine Anatomie und Physiologie des Nervensystems“ (1903), „Der heutige Stand der Neurontheorie“ (Aufsatz, 1904), „Zwei neue Methoden der Ueberbrückung größerer Nervenlücken“ (Aufsatz, 1916), „Zur Statistik der Links- und Rechtshaendigkeit und der Vorherrschaft einer Hemisphaere“ (Aufsatz, 1925) und „Die Plastizität (Anpassungsfähigkeit) des Nervensystems“ (Aufsatz, 1933).
Grabstätte auf dem Alten Friedhof Schwanheim am Ffter Mainufer.
Der Sohn
Hans Albrecht B. lebte ab 1935 in den USA und nahm 1941 die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Er wurde ein berühmter Physiker und erhielt 1967 den Nobelpreis für Physik. Die Tochter Doris B., verh. Oberbeck, war in den 1950er Jahren als Turnerin für den TSV Sachsenhausen sehr erfolgreich; sie war mehrfache deutsche Turnmeisterin, siegte beim Deutschen Turnfest 1953 in Hamburg im Achtkampf und nahm an den Turn-Weltmeisterschaften 1954 in Rom teil.
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Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 62,
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