Aus sozialdemokratischem Elternhaus. Einziges Kind des gelernten Drehers
Eugen Ludwig G. (1882-1969) und dessen Ehefrau Margarete, geb. Diehl (1883/84-1971). Der Vater war bei der Eisenbahn beschäftigt und gewerkschaftlich im Deutschen Metallarbeiter-Verband organisiert, die Mutter arbeitete in einer großen Kaiserslauterer Kammgarnspinnerei. G. wurde daher früh zur Selbstständigkeit erzogen und verbrachte viel Zeit bei den evangelischen Großeltern mütterlicherseits, die liberaler als die katholischen Eltern des Vaters waren. Nachdem der Vater als aktiver Gewerkschafter in seiner Eisenbahnwerkstatt zum Lohnstreik aufgerufen hatte, wurde er um 1910 aus dem aus dem Königreich Bayern, zu dem die Pfalz damals gehörte, ausgewiesen. Nach einer kurzen Zwischenstation in Mannheim, wo der Vater jedoch keine dauerhafte Arbeit fand, zog die Familie 1911 nach Ffm., wo der Vater eine Stelle bei der „Deutschen Nähmaschinen-Fabrik“ der Familie Wertheim in Bornheim bekam. Die Familie G. wohnte auch in Bornheim, zuerst in der Wiesenstraße, später in der Dortelweiler Straße.
G. besuchte die Günthersburgschule. Als er neun Jahre alt war, begann der Erste Weltkrieg. Der Vater wurde zum Kriegsdienst eingezogen und erlitt beim späteren Fronteinsatz eine schwere Kopfverletzung. Die Mutter arbeitete in einer Konservenfabrik, dann bei der „Deutschen Eisenbahn-Speisewagen-Gesellschaft“, für die sie mit dem Zug zwischen Ffm. und Basel pendelte. G. musste derweil Pflichten im Haushalt übernehmen. Im Frühjahr 1919 schloss er die Volksschule ab. Die Eltern hatten auf der Konfirmation von G. bestanden. Zwei Tage danach trat der 14-Jährige aus der Johannisgemeinde in Bornheim aus, was zu einem Konflikt mit den Eltern führte, die ihr Einverständnis dazu geben mussten. Später überzeugte G. seine Eltern, aus der Kirche auszutreten. Um die Mitte der Zwanzigerjahre machte es sich G. zusammen mit politischen Freunden aus dem Freidenkerverband, dem er inzwischen beigetreten war, zur Aufgabe, Kirchenaustritte regelrecht zu „organisieren“, wie er es beschrieb: „Und weil die Arbeiter einen Urlaubstag hätten opfern müssen, um auf dem Amtsgericht ihren Kirchenaustritt zu erklären, hat ein Anwalt, ein Genosse, das für sie übernommen. Es gab dann gewisse Schwierigkeiten, nachdem an einem Tag in Ffm. über 300 Kirchenaustritte registriert wurden.“
Nach dem Ende der Schulzeit 1919 fand G. zunächst keine Lehrstelle. In der „Deutschen Nähmaschinen-Fabrik“, in der sein Vater nach der Genesung von der Kriegsverletzung wieder tätig war, kam er als Hilfsarbeiter unter. Später erhielt er dort eine Lehrstelle als Dreher. Nach dem Ende seiner Ausbildung 1922 war er für fünf Jahre arbeitslos. G. versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, und ging „auf die Walz“, um „etwas von der Welt zu sehen und den Eltern nicht auf der Tasche zu liegen“. Er fuhr mit dem Rad durch die Schweiz nach Italien und dann über Frankreich und Belgien zurück.
Bei Beginn seiner Lehrzeit war G. der Gewerkschaft beigetreten. Er gehörte von 1919 bis 1925 dem Deutschen Metallarbeiter-Verband, von 1925 bis 1933 dem Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter an. Ebenfalls 1919 hatte er sich der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) angeschlossen, und seit 1921 war er Mitglied der SPD. G. erlebte seine Mitgliedschaft in der SAJ zunächst eher als unpolitische Freizeitgestaltung. Ab 1924 war er als Distriktleiter für vier Vorortgruppen der SAJ zuständig. Er organisierte die „Roten Hundertschaften“ der Arbeiterjugend, auch auf Großveranstaltungen. Er leitete den „Turnkreis West“ in der Annaschule, machte sich körperlich fit für die Einsätze, trainierte Abwehrtechniken und übte Jiu Jitsu.
Über eine Vortragsveranstaltung mit Maria Hodann (1897-1976) kam G. in Kontakt zum Internationalen sozialistischen Jugendbund (ISJ/IJB) um den Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882-1927). Aus dem ISJ ging 1925 der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) hervor, eine kleine, aber hoch motivierte Partei, die Nelson zusammen mit Minna Specht (1879-1961) und Willi Eichler (1896-1971) nach Ausschluss seiner Anhänger aus der SPD gegründet hatte. 1927 trat G. in den ISK ein, für den er später auch Jugendgruppen leitete, und geriet damit in die politische Opposition. Die auf ethischen Idealen basierende Lehre des ISK musste von den Mitgliedern auch gelebt werden: Vorausgesetzt wurden Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit und persönliche Opferbereitschaft, zudem die vegetarische Lebensweise aus Achtung vor den Tieren, der Verzicht auf jegliche Drogen und der Kirchenaustritt. Laut G. trug der ISK „ganz wesentlich“ zu seiner Erziehung bei: „Ich habe dort absolute Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit gelernt.“ Infolge seiner Zugehörigkeit zum ISK wurde G. von der SPD ausgeschlossen.
Vermittelt über ISK-Kontakte wurde G. 1927 bei der „Dreiturm-Seifenfabrik Victor Wolf“ angestellt, die ihren Sitz in Schlüchtern bzw. ab 1930 in Steinau an der Straße und eine Geschäftsstelle mit Lager in Ffm. hatte. Max Wolf (1887-1948), einer der Firmeninhaber, war Mitglied des ISK und förderte den Bund nicht nur ideell, sondern auch finanziell. So bot er arbeitslosen ISK-Anhängern eine Beschäftigung in seinem Unternehmen, beispielsweise
Anna Beyer, die seit 1926 im Büro der Ffter Niederlassung in der Schloßstraße arbeitete. Nach der „Arisierung“ des Betriebs unter Enteignung der jüdischen Gründerfamilie in der NS-Zeit erhielt G. ab 1934 drastisch weniger Lohn. Wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ wurde er nach siebenjähriger Tätigkeit als Ausfahrer und Kassierer bei „Dreiturm“ 1935 entlassen.
Seit der Verlegung der Produktion der „Deutschen Nähmaschinen-Fabrik“ nach Spanien 1932 war auch G.s Vater arbeitslos. Schon einige Zeit zuvor war die Familie G. von der Dortelweiler Straße in Bornheim in ein kleines gemietetes Haus am Engelsplatz 12 im Arbeiterviertel Riederwald gezogen. Die Familie hatte sich mit politischen Freunden G.s zusammengetan: Mit der schweizerischen Genossin Natascha Oettli und der chinesischen Studentin Chiyin Chen lebten sie seit 1931 in einer Wohngemeinschaft. Später zog auch
Anna Beyer ein. Mit ihr und ihrem Bruder Rudolf B. (1912-1943) hatte sich G. besonders angefreundet. In der NS-Zeit gaben sich G. und
Anna Beyer zur Tarnung gegenüber den Behörden als Verlobte aus.
Spätestens ab Mitte 1932 bereiteten sich die Mitglieder des ISK für den Fall einer Machtübernahme durch die Nationalsozialisten intensiv auf die politische Arbeit im Untergrund vor. In der NS-Zeit zählte der relativ kleine Kreis des ISK zu den äußerst wirkungsvoll arbeitenden Widerstandsgruppen. G. als überzeugter Antifaschist beteiligte sich ab 1933 an vielen Aktionen im aktiven Widerstand und blieb über vier Jahre lang unentdeckt. Seine Tarnnamen waren „Frank“ und „der Chauffeur“. Der erste Name bezog sich – naheliegend und daher nicht ganz ungefährlich – auf seine Heimatstadt und symbolisierte Freiheit und Unabhängigkeit; der zweite Deckname stand für seine Tätigkeit als Fahrer bei der Seifenfabrik, aber auch als Transporteur von Menschen und Informationsmaterial über die Grenzen. Für die Arbeit im politischen Untergrund hatte sich das ISK in Fünfer-Gruppen organisiert, wobei jeweils nur ein Mitglied aus einer Gruppe ein Mitglied aus einer anderen Gruppe kannte. „Frank“ leitete eine der drei, später bis zu sieben in Ffm. tätigen Fünfer-Gruppen. Gleichzeitig war er Bezirksleiter aller Gruppen in Ffm. und dem Rhein-Main-Gebiet, die Verbindungen zu Gruppen in Mainz, Oppau, Ludwigshafen, Mannheim, Offenbach, aber auch in Köln, München, Paris und der Schweiz aufgebaut hatten.
G. beteiligte sich etwa an der Verteilung der „Neuen politischen Briefe“ des ISK, die von dem nach Frankreich geflohenen ISK-Vorsitzenden Willi Eichler in Paris herausgegeben und nach dessen Tarnnamen auch „Reinhart-Briefe“ genannt wurden, an dem Abwurf regimefeindlicher Flugblätter vom Dach eines Ffter Hochhauses und an Störaktionen wie dem Legen von Stinkbomben bei öffentlichen NS-Versammlungen. Zu den aufwendiger geplanten Aktionen von G.s Gruppe gehörten die Einsätze mit einem präparierten Koffer, dessen Boden mit ausgeschnittenen Buchstaben aus Schaumstoff versehen war, die von einer innen befestigten Schaumgummieinlage mit farbiger Entwicklerflüssigkeit (Silbernitratlösung) durchtränkt wurden. Nachts ging G. zusammen mit
Anna Beyer, „als Liebespaar getarnt“, durch Fft.s Straßen. Von Zeit zu Zeit stellten sie den Koffer kurz auf dem Asphalt ab und hinterließen dabei Abdrücke von Parolen wie „HITLER = KRIEG“ oder „NIEDER MIT HITLER“, beispielsweise auf dem Eisernen Steg. Die Silbernitratlösung entwickelte sich durch Tageslicht, so dass die nur schwer zu entfernende Schrift erst am nächsten Tag sichtbar wurde. Bei einer anderen nächtlichen Aktion wurde das Auto des Gauleiters
Jakob Sprenger vor dessen Villa im Kettenhofweg 129 mit einem dünnen Stahlseil an eine Gaslaterne gebunden. Als
Sprenger am Morgen mit einigem Schwung losfuhr, kippte die Laterne auf sein Auto. Die Geschichte verbreitete sich rasch in der Stadt und handelte
Sprenger einigen Spott ein. G.s gefährlichste Aktion war für die Eröffnung des ersten Streckenabschnitts der Reichsautobahn durch Hitler am 19.5.1935 geplant. An der neuen Autobahnstrecke zwischen Ffm. und Darmstadt wurden antifaschistische Parolen mit Farbe auf Brücken, Pfeiler und auch direkt auf die Straße geschrieben. Trotz eifriger Bemühungen der Behörden konnten sie nicht mehr rechtzeitig zum Festakt entfernt werden. Die Inschriften an Brücken und Pfeilern wurden mit Hakenkreuzfahnen verhängt, die Parolen auf dem Boden mit Sand abgedeckt. Außerdem war der Sprecherturm für den Rundfunk angesägt, und die Lautsprecherkabel waren durchgeschnitten. Obwohl einige Lautsprecher am Tag der Veranstaltung repariert wurden, war Hitlers Rede nicht überall zu hören. Mit diesen Aktionen wollte die Gruppe um G. ein Zeichen setzen, auch wenn sie wusste, dass sie das NS-Regime damit nicht aufhalten oder stürzen konnte.
1935 gründete die Gruppe um G. die vegetarische Gaststätte „Vega“ im Steinweg 10. Dieser als Restaurant getarnte Betrieb wurde von
Anna Beyer geführt und diente als Erwerbsquelle für den ISK – in Ffm. wie auch in anderen Städten. Die Mitarbeitenden waren allesamt Genossen, die für Essen und ein geringes Taschengeld arbeiteten. G. half beim Ausbau zur Gaststätte, sorgte für die Einkäufe und war als Hilfskoch engagiert. Wegen Beihilfe zur Flucht und illegaler Betätigung wurde er am 19.12.1936 an seiner Arbeitsstätte im Restaurant verhaftet. Letztlich war er von einem auf der Flucht aufgegriffenen ISK-Mitglied im Verhör unter Folter der Gestapo verraten worden. Insgesamt wurde gegen 41 Personen „wegen Vorbereitung zur Hochverrat“ ermittelt, darunter
Anna Beyer, die aber rechtzeitig ins Ausland fliehen konnte. Nach kurzer Zeit im Ffter Gefängnis kam G. über Offenbach, Darmstadt, Butzbach und Hannover in das Konzentrationslager Fuhlsbüttel, wo er physische und psychische Misshandlungen erlitt. Er hielt in 77 Verhören, davon nur zwei ohne Prügel, stand und machte den Vernehmungsbeamten lediglich erfundene und irreführende Angaben. Der Prozess gegen G. und sieben andere ISK-Mitglieder fand am 25. und 26.3.1938 in Hamburg statt. G. (der als einziger der Angeklagten aus Ffm. kam) erhielt die härteste Strafe, wohl aufgrund seiner Standhaftigkeit in den Verhören, im Nazi-Jargon: „wegen Unverbesserlichkeit des Angeklagten“. Um andere zu schützen, musste er bei seinen unglaubwürdigen Lügengeschichten bleiben. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und illegaler Arbeit“ wurde G. am 26.3.1938 vom 1. Senat des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Rechte für zwei Jahre verurteilt; die Untersuchungshaft wurde angerechnet.
Zunächst blieb G. als Strafhäftling mit der Nummer 3960 in Fuhlsbüttel, wo sich Zuchthaus und KZ in einem Gebäudekomplex befanden und er den KZ-Trakt während der Untersuchungshaft bereits kennengelernt hatte. Später kam er auf Betreiben der Gestapo in das Moorlager Schülp bei Nortorf in Holstein. Zum Ende der Strafhaft wurde er ins Zuchthaus Fuhlsbüttel zurückverlegt, aus dem er am 24.12.1938 entlassen wurde, allerdings nicht in die Freiheit. Nach einem Zwischenaufenthalt im Gestapo-Gefängnis am Berliner Alexanderplatz wurde er am 17.1.1939 in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Dort sollte er (jetzt mit der Häftlingsnummer 2245) planmäßig bis 1950 inhaftiert bleiben. Ende Juni 1943 jedoch wurde G. zum Strafbataillon 999 der Wehrmacht abkommandiert, in dem KZ-Häftlinge und Strafgefangene für besonders gefährliche Einsätze als „Kanonenfutter“ herangezogen wurden. Nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald am 24.6.1943 musste sich G. zunächst in der Kaserne „Bürgeraue“ in Gotha melden, von wo aus er mit einem Sammeltransport zum Truppenübungsplatz Heuberg auf der Schwäbischen Alb gebracht wurde. Für die dortige drei- bis viermonatige militärische Ausbildung blieb er als Häftling in einem Lager hinter Stacheldraht untergebracht. Später wurde G. auch in Baumholder in der Pfalz ausgebildet; von dort aus konnte er einmal heimlich zu einem Besuch nach Ffm. gelangen. Sein erster Einsatz führte ihn nach Skopje, dann weiter nach Nikolajew (heute: Mykolajiw/Ukraine) und schließlich über Odessa zurück nach Baumholder, wo er am 1.4.1944 wieder ankam. Anfang Juli 1944 wurde er mit seiner Einheit nach Griechenland geschickt und in Thessalien eingesetzt, zuerst in Larissa, dann in Farsala und in Volos, wo er an Malaria erkrankte.
In Griechenland entschied sich G., sich der Griechischen Volksbefreiungsarmee (ELAS) anzuschließen. Er lief am Abend des 18.9.1944 in einer Gruppe von acht Soldaten über und kämpfte fortan auf der Seite der Partisanen gegen die deutschen Besatzer. Im 54. Regiment der ELAS leitete er als eine Art Kompanieführer eine Gruppe von insgesamt 64 ehemaligen „999ern“ in der Nähe des Dorfs Keramidi. Im November 1944 schloss er sich zudem dem „Antifaschistischen Komitee deutscher Soldaten – Freies Deutschland“ (AKFD) an. Zu dieser Zeit war er der Überzeugung, dass „das Nazi-Regime ohne Gewalt nicht zu beseitigen“ sei. Nach seiner Desertion von der Wehrmacht wurde er vom deutschen Kriegsgericht in Abwesenheit viermal zum Tode verurteilt: wegen des Überlaufens, des Unschädlichmachens einer Kanone im Panzerturm, der Mitnahme schwerer Waffen und der Verteilung von Flugblättern, mit denen ehemalige Kameraden für die ELAS abgeworben werden sollten.
Am 19.10.1944 wurde Volos befreit, und G. kam zurück nach Larissa, später nach Skopje. Nach Abzug der Deutschen verlangten die Briten von der Partisanenbewegung die Entwaffnung, später die Auslieferung aller Ausländer. Weihnachten 1944 verbrachte G. auf einem britischen Schiff im Hafen von Piräus, mit dem er zu Beginn des Jahres 1945 in Port Said in Ägypten anlegte. Er kam in das britische Kriegsgefangenenlager Camp 379 in Quassassin (El-Kasasin) in Unterägypten. Zu seinem Entsetzen machten die Briten dort anfangs keinen Unterschied, auf welcher Seite die deutschen Kriegsgefangenen gekämpft hatten: Antifaschisten und Nazis waren gemeinsam inhaftiert, und die Nazis wurden bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8.5.1945 deutlich besser behandelt. Zur politischen Umerziehung der Soldaten wurden nun Schulungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen im Lager eingerichtet, gelegentlich mit prominenten Gästen aus England, u. a. Gerhard Gleissberg (1905-1973). Zu jeder Zeit seiner Gefangenschaft machte sich G. Gedanken über die Zukunft Deutschlands. Brieflich konnte er jetzt Kontakt zu seinen Eltern aufnehmen, auch zu Erna Blencke (1896-1991) in den USA, zu Willi Eichler in London, später zu Erich Ollenhauer (1901-1963) und Wilhelm Sander (1895-1978) in London sowie zu
Anna Beyer in Ffm. In diesen Briefen fand schon bald ein politischer Gedankenaustausch statt. An Max Mayr (1896-1985), der im Lagerwiderstand im KZ Buchenwald aktiv gewesen war und nach seiner Rückkehr 1945 zum Dezernenten für Wiedergutmachung beim Regierungspräsidium in Kassel ernannt worden war, schrieb G.: „Ich bin der Ansicht, daß die Nachwuchsschulung die wichtigste Aufgabe in der Partei sein muß. Für besonders erforderlich halte ich das Beschäftigen mit den Zwanzig- bis Dreißigjährigen, auf die auch ich alle Hoffnung setze.“
Obwohl schon Ende 1945 eigentlich kein Gefangener mehr, musste G. noch in Ägypten bleiben und auf eine Reisemöglichkeit nach Europa warten. Allerdings verbesserte sich seine Situation ab Jahresbeginn 1946 erheblich, denn künftig gehörte er – wie etwa 30 Deutsche aus dem Camp 379 – einem „Segregation Team“ an. Die Mitglieder erhielten ein eigenes Lager (Camp 380) als Standort, wurden mit allem Nötigen zur Selbstversorgung ausgestattet und waren lediglich verpflichtet, keine Fluchtversuche zu unternehmen. Ihre Aufgabe bestand darin, britische Kriegsgefangenenlager zu besuchen und Befragungen mit Gefangenen zu deren politischer Einstufung (als aktiver Nationalsozialist, Mitläufer oder NS-Gegner) zu führen. Vom 15.1. bis 19.12.1946 reiste G. zu diesem Zweck nach Alexandria, Bengasi, El-Alamein, Kairo, Port Said, Suez, Tobruk, Tripolis, Tunis.
Schließlich gelangte G. zusammen mit zahlreichen früheren Kriegsgefangenen auf einem Truppentransportschiff von Port Said über Algier nach Wilhelmshaven. Mit der Bahn fuhr er weiter in das ehemalige KZ Dachau, wo die Kriegsgefangenen auch formell entlassen wurden. In der Nacht am 4.1.1947, etwas mehr als zehn Jahre nach seiner Verhaftung, kam G. auf dem Südbahnhof in Ffm. an. Wenige Tage nach seiner Rückkehr bekam er schon Ablehnung und Zurückweisung aufgrund seiner Geschichte zu spüren. Daher vermied er es bald, über die Zeit im KZ zu reden: „Ich habe nur noch gesagt: ‚Ich komme eben aus der Kriegsgefangenschaft.‘“
G. kehrte, wie die meisten ISK-Angehörigen, in die SPD zurück. Sofort nach seiner Heimkehr begann er, sich als Mitglied der SPD am Wiederaufbau der demokratischen Republik zu engagieren. Das Büro der SPD in der Gutleutstraße besuchte er schon drei Tage nach seiner Ankunft in Ffm., an einer Jahreshauptversammlung der Partei nahm er Anfang Februar 1947 erstmals wieder teil. G. betrachtete sich weiterhin als Mitglied der SPD, denn er hatte die Partei nie freiwillig verlassen. Für ihn hatte eine Unvereinbarkeit zwischen ISK- und SPD-Mitgliedschaft nie bestanden. Er blieb als aktiver Antifaschist, Verfolgter des NS-Regimes und kritischer Sozialist vielen unbequem. Innerparteilich kritisierte G. stets, dass ein wirklich neuer Anfang nach 1945 nicht gemacht worden sei. Mitunter hatte er Schwierigkeiten mit den eigenen sozialdemokratischen Genossen, die sich im Umgang mit ihren Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime schwertaten. Doch die Ffter SPD-Jugend stellte sich hinter G. Sie wünschte sich ihn als Parteisekretär für die Jugendarbeit und damit auch als Zuständigen für die Arbeit der Jungsozialisten – eine Aufgabe, die G. lag und gefiel. Ab 1.5.1947 war er als hauptamtlicher Jugendsekretär in der Geschäftsstelle des SPD-Unterbezirks Ffm. tätig. In dieser Funktion lernte G. die „Falken“-Sekretärin für Hessen-Süd kennen, die kaufmännische Angestellte und junge Kriegerwitwe Klara
Ilse Rothenbücher, geb. Stühler (1917-1986), die er am 26.9.1947 heiratete. Vor seiner Verhaftung hatte G. zusammen mit seinen Eltern zuletzt in der Schäfflestraße 7 im Riederwald gewohnt. Nachdem er seit seiner Rückkehr nach Ffm. 1947 wieder bei den Eltern im Riederwald, mittlerweile in der Friedrich-List-Straße 21, gelebt hatte, zog er mit seiner Frau Ilse in ein Reihenhaus Am Ebelfeld 198 in Praunheim; dort nahm er auch die Eltern in deren Rentenalter auf.
Bis zur Pensionierung 1970 blieb G. hauptamtlich im Parteibüro der Ffter SPD tätig. Als SPD-Jugendsekretär ab 1947 baute er die Jugendarbeit der Partei wieder auf und richtete erste Jungsozialisten-Gruppen ein, aus deren Arbeit führende Sozialdemokraten des Rhein-Main-Gebiets hervorgingen, u. a. Willi Birkelbach (1913-2008),
Walter Hesselbach (1915-1993),
Walter Möller (1920-1971), Rudi Arndt (1927-2004) und Rudi Schmitt (* 1928; Oberbürgermeister von Wiesbaden von 1968 bis 1980). Zudem war G. als Parteisekretär u. a. für die Kriegsgefangenenbetreuung, später für die Frauenarbeit sowie für Schulungs- und Bildungsarbeit zuständig. Schon im September 1947 leitete er die erste Frauenschulung auf der Walkemühle bei Melsungen.
Von 1958 bis 1972 gehörte G. der Ffter Stadtverordnetenversammlung an. Er war u. a. stellvertretender Vorsitzender im Wirtschaftsausschuss, Mitglied im Kultur-, im Jugendwohlfahrts- und im Wahlvorschlagsausschuss, Beisitzer im Schöffenwahlausschuss, im Beschwerdeausschuss Lastenausgleich (1960-69) und im Widerspruchsausschuss Planen und Bauen (bis 1980). Er gehörte der Betriebskommission für die Stadtwerke (1970-72), dem Vorstand des Vereins „Haus der Jugend“ und dem Aufsichtsrat der Saalbau AG bzw. GmbH an. Nach seinem Abschied aus der Stadtverordnetenversammlung arbeitete er von 1972 bis 1975 noch als Mitglied im Ortsbeirat 7 mit, bevor er sich altersbedingt ganz aus der aktiven Politik zurückzog.
G. wird als bescheiden und solidarisch beschrieben, als mutiger Gegner der NS-Herrschaft, der lieber gestorben wäre, als seine Mitkämpfer zu verraten und dadurch in Gefahr zu bringen. Seine politische Überzeugung ließ ihn durchhalten, denn, so G., er habe zu jeder Zeit Menschen gekannt, vor denen er Achtung hatte und auf die er sich verlassen konnte. Über seine Zeit im Konzentrationslager konnte G. lange nicht sprechen. Für den Fernsehfilm erzählte er 1982 erstmals von seinen Erlebnissen im KZ, von den erlittenen Misshandlungen, aber auch von der erfahrenen Solidarität der Mitgefangenen. So berichtet er in dem Film von einem Tag, an dem er durch zwei Stunden „Baumhängen“ schwer misshandelt wurde und infolgedessen für fast ein Vierteljahr nicht mehr arbeiten konnte, da er kaum stehen und seine Hände nicht benutzen konnte – ein sicheres Todesurteil. Seine Mitgefangenen stützten ihn bei den Morgen- und Abendappellen mit Gürteln und versteckten ihn tagsüber unter einer Baracke, wo sie ihn heimlich fütterten. Diese Erzählung fällt G. sichtlich schwer, aber auch in dieser Szene nimmt er sich selbst zurück: „Ich möchte nicht, dass Sie einen Helden aus mir machen. (…) Ich war einer von vielen. Mehr nicht, und mehr möchte ich auch nicht sein.“ In dem Fernsehfilm „Ludwig Gehm, ein deutscher Widerstandskämpfer“ (von Hans-Dieter Grabe, ES: ZDF, 1983) und dem Buch „Der treue Partisan“ (von Antje Dertinger, 1989) wurde der schwere Lebensweg von G. dokumentiert und dadurch überhaupt erst bekannt. Bis zu seinem Tod im Alter von 97 Jahren engagierte sich G. als Zeitzeuge in Ffm. für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen, wobei er insgesamt über 300 Veranstaltungen absolvierte, besonders mit Jugendlichen.
Seit 1947 Mitglied der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Stellvertretender Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten (AvS).
1965 Ehrenplakette der Stadt Ffm. Römerplakette in Bronze (1968), Silber (1975) und Gold (1980). 1970 Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen. 1973 Ehrenbrief des Landes Hessen. 1980 Stadtältester. 1991 Johanna-Kirchner-Medaille. 1987 wurde G. in Griechenland geehrt, als er bei einer Konferenz im Athener Goethe-Institut zu Gast war.
Bestattet in der Urnengrabstätte der Familie auf dem Westhausener Friedhof (Gewann G 301).
Nachlass (mit Unterlagen aus dem SPD-Unterbezirk Ffm. ab 1949) im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.
Ludwig-G.-Weg in Praunheim.
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