Das Ehepaar Gunnar und
Alva M. wurde 1970 in Ffm. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In der Verleihungsurkunde hob der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Stifter des Preises hervor, dass beide „in wissenschaftlicher Forschung und im persönlichen Engagement (...) für den Frieden eingetreten“ seien, „wo immer er ihnen besonders gefährdet erschien“. [Zit. nach: Börsenverein d. Dt. Buchhandels (Hg.): Alva u. Gunnar Myrdal. Ansprachen anlässlich d. Verleihung d. Friedenspreises 1970, S. 5.] Der Stiftungsrat, der die Preisvergabe an Gunnar und
Alva M. am 15.4.1970 beschlossen hatte, wollte damit „ein Beispiel für die tätig nüchterne, gleichwohl ideelle Bewältigung der Friedensaufgabe“ oder, in anderen Worten, für das Streben nach „Gleichgewicht zwischen Friedenssehnsucht und Friedenswirklichkeit“ herausstellen. [Aus der Begründung des Stiftungsrats für den Friedenspreis zit. nach: Der Dt. Buchhandel 210 (1970), o. S.]
Mit ihrem Buch „Kris i befolkningsfrågan“ (Die Krise in der Bevölkerungsfrage, 1934), das für den Aufbau des schwedischen Wohlfahrtsstaats wegweisend wurde, waren Gunnar und
Alva M. über Schweden hinaus bekannt geworden. Diese bevölkerungspolitische Schrift ist heute jedoch kritisch zu betrachten, zumal Gunnar und
Alva M. damit ein Sterilisationsprogramm für „hochgradig lebensuntaugliche Personen“ (wortwörtlich: „höggradigt livsodugliga individer“) nach eugenischen, sozialen, pädagogischen und wirtschaftlichen Kriterien und wohl durchaus nach NS-deutschem Vorbild förderten, wie es in Schweden ab 1935 gesetzlich eingeführt wurde und noch bis 1976 galt. Von 1938 bis 1942 erstellte M. im Auftrag der Carnegie-Stiftung in Amerika eine umfassende Untersuchung über das Rassenproblem in den USA („An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy“, 2 Bde., 1944); aufgrund von M.s Studie entschied der Oberste Gerichtshof der USA 1954, dass die Rassentrennung an öffentlichen Schulen ungesetzlich sei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte M., überzeugter Sozialist und zusammen mit seiner Frau seit 1932 Mitglied der schwedischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, als Handelsminister der schwedischen Regierung an (1945-47). Er galt als Befürworter der „Baltenauslieferung“, der Auslieferung von über 2.800 internierten Soldaten der deutschen Wehrmacht durch Schweden überwiegend an die Sowjetunion im Winter 1945/46, weswegen später die nationalkonservative „Deutschland-Stiftung” unter dem rechtsgerichteten Publizisten Kurt Ziesel (1911-2001) als geschäftsführendem Vorstandsmitglied die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an M. mehrfach öffentlich kritisierte. Im Juli 1970 verteidigte der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Preisverleihung an M. in einer Erklärung, wonach M. an dem Auslieferungsbeschluss nicht beteiligt gewesen sei: „In der Erklärung heißt es, die (...) ‚Baltenauslieferung‘ (...) sei am 15. Juni 1945 vom schwedischen Kriegskabinett beschlossen worden. ‚Diesem Kabinett gehörte Gunnar Myrdal nicht an.‘ (...) [D]er Auslieferungsbeschluß sei zustande gekommen, als die vier Siegermächte die Regierungsgewalt in Deutschland ausübten und übereinkamen, daß alle Soldaten dorthin zurückgeführt werden sollten, wo sie am Tag der Kapitulation (8. Mai) ihren Standort hatten. Die schwedische Regierung, der Myrdal als Handelsminister angehörte, habe sich nach eingehenden Diskussionen an den Beschluß des Stockholmer Kriegskabinetts gebunden gefühlt und die internierten deutschen Soldaten ‚entsprechend ihren eigenen Angaben‘ den britischen oder sowjetischen Besatzungsbehörden übergeben. (...) Auch der Vorwurf, daß die von Myrdal als Handelsminister 1946 mit der Sowjetunion und Polen geschlossenen schwedischen Handelsverträge im Zusammenhang mit der Auslieferungsaktion standen, wird vom Börsenverein zurückgewiesen. (...) Außerdem habe sich Myrdal als einer der ersten nach Kriegsende für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas unter Einbeziehung Deutschlands eingesetzt. Daher habe er (...) 1947 in Frankfurt eine Kontaktstelle für die Verbindung der deutschen Wirtschaft mit dem Ausland eingerichtet. Für die Verleihung des Friedenspreises an das schwedische Ehepaar sei jedoch nicht dessen Hilfe für Deutschland in der Nachkriegszeit ausschlaggebend gewesen, ‚sondern allein dessen weltweites Wirken auf dem Gebiet der Friedensforschung‘.“ (dpa in: FAZ, 24.7.1970, S. 24.) Die Vertreter der „Deutschland-Stiftung” akzeptierten die Erklärung des Börsenvereins nicht und protestierten während der Feierstunde zur Preisverleihung an Gunnar und
Alva M. mit „einigen wenigen Demonstranten” vor der Paulskirche. (Vgl. FAZ, 24.9.1970, S. 24 u. 28.9.1970, S. 33.)
Nach seinem Rücktritt als Handelsminister im Zusammenhang mit der schwedischen Währungskrise 1947 wirkte M. als erster Leiter (Executive Secretary) der UN-Wirtschaftskommission für Europa in Genf (1947-57). Ab 1957 erarbeitete er eine wissenschaftliche Studie über die wirtschaftliche Entwicklung Südostasiens („Asian Drama. An Inquiry into the Poverty of Nations“, 3 Bde., 1968, dt. 1973) und machte sich international einen Namen als Vorreiter einer Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe, die er selbst unter dem Eindruck zunehmenden Missbrauchs später kritisierte, um sich für eine direkte Verteilung an Bedürftige einzusetzen. Von 1960 bis 1970 lehrte M. als Professor für internationale Wirtschaft an der Universität Stockholm, wo er zugleich dem von ihm 1961 gegründeten Institut für internationale Wirtschaftsstudien vorstand; zudem war er Vorsitzender des neu eingerichteten Lateinamerikanischen Instituts (1969-73). Zum Zeitpunkt der Friedenspreisverleihung leitete M. insbesondere das Internationale Institut für Friedensforschung in Stockholm (Stockholm International Peace Research Institute, abgekürzt: SIPRI; als Vorstandsvorsitzender, 1967-73), das auf Initiative von ihm und vor allem von seiner Frau
Alva M. 1964 gegründet worden war. Das Stockholmer Institut war auch Vorbild für das Friedensforschungsinstitut in Ffm., das sich 1969/70 konstituierte, worauf Oberbürgermeister
Walter Möller in seiner Begrüßungsansprache zur Friedenspreisverleihung an Gunnar und
Alva M. am 27.9.1970 in der Ffter Paulskirche ausdrücklich hinwies. [Vgl. Börsenverein d. Dt. Buchhandels (Hg.): Alva u. Gunnar Myrdal. Ansprachen anlässlich d. Verleihung d. Friedenspreises 1970, S. 17.] Keine zwei Wochen zuvor, am 15.9.1970, hatte die hessische Landesregierung die Verfassung der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (seit 2023: Peace Research Institute Frankfurt – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, abgekürzt: PRIF) verabschiedet, und mit der Übergabe der Stiftungsurkunde am 30.10.1970 wurde das Ffter Friedensforschungsinstitut offiziell eröffnet.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wurde Gunnar und
Alva M. traditionell in einem Festakt am Buchmessensonntag (27.9.1970) in der Ffter Paulskirche von Börsenvereinsvorsteher Werner E. Stichnote (1908-1994) überreicht. Die Laudatio hielt der bundesdeutsche Politologe und Friedensforscher Karl Kaiser (* 1934). Gunnar und
Alva M. dankten mit jeweils einer eigenen Rede. In seiner (auf Deutsch gehaltenen) Dankesrede zeigte Gunnar M. wesentliche Gefahren auf, die seiner Ansicht nach den Frieden und damit die Welt bedrohten: das Wettrüsten der Industrienationen, die Situation in den Entwicklungsländern, die „Vergiftung” der Umwelt und der Missbrauch von Drogen. Die Situation der Menschheit sei „tatsächlich verzweifelter (...) als je zuvor”, konstatierte er, aber er sei „nicht Defaitist”: „Die Entwicklung läßt sich wenden, die schrecklichen Gefahren lassen sich in herausfordernde Chancen verwandeln. Die Geschichte ist nicht blindes Schicksal, sie wird von Menschen bestimmt. Wenn wir unsere Völker, unsere Mitmenschen dahin bringen könnten, die Gefahren einzusehen – die Gefahren, die letzten Endes alle auf Unwissenheit und auf opportunistischem, kurzsichtigem Verrat an den Idealen beruhen –, dann könnten sie, dann könnten wir alle unsere Regierungen zwingen, einen anderen Kurs einzuschlagen. Das bisherige Versagen der Vereinten Nationen könnte durch Reformen in Erfolg gewendet werden; das Wettrüsten könnte zum Stillstand kommen, wenn wir uns dazu entschlössen, daß es aufhören soll.” (Zit. nach: ebd., S. 54f.)
Zahlreiche weitere Publikationen, u. a. zur Wirtschaftstheorie, Soziologie und Entwicklungspolitik.
Weitere Auszeichnungen, vor allem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften (mit Friedrich August von Hayek, 1974).
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