Sohn des Offenbacher Brauereibesitzers Johann Konrad Hermann W. (1848-1901) und dessen Frau Mathilde, geb. Reich (1852-1918), einer gebürtigen Amerikanerin. Ein älterer Halbbruder aus der ersten Ehe der Mutter (Name und Lebensdaten unbekannt; bereits 1894 in die USA ausgewandert) und eine jüngere Schwester, Ella W. (später verh. Eichhorn, 1887-1949).
Nach dem Abschluss einer kaufmännischen Lehre arbeitete W. zunächst als Bankangestellter in Offenbach. Ab 1914 führte er mit seinem Lebenspartner Paul Dalquen (1893-1975) einen gemeinsamen Haushalt, und als Dalquen 1931 den väterlichen Eisenkonstruktionsbetrieb in Ffm. übernahm, wurde W. hier als Buchhalter tätig. Die beiden Männer bauten den Betrieb in der Mainzer Landstraße 150 beträchtlich aus, und die Geschäfte gingen bis weit in die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinein gut. Einen Schicksalsschlag stellte erst gegen Kriegsende die Zerstörung ihrer Fabrik und ihrer Mietshäuser im Zuge alliierter Bombenangriffe dar. Als schließlich ihr Wochenendhaus in Oberreifenberg/Taunus 1947 beschlagnahmt wurde, gingen sie daran, sich in Ffm. eine „Notwohnung“ einzurichten und ihre Bauschlosserei wieder aufzubauen. In dieser Zeit fühlte sich der inzwischen über 60-jährige W. „müde und verbraucht“, und er dachte häufiger ans Sterben. Die letzten Jahre seines Lebens war er auf ständige Hilfe durch seinen Partner angewiesen. Insbesondere nachdem er um den Jahreswechsel 1952/53 zwei Herzanfälle erlitten hatte, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend.
Eine Persönlichkeit, die W. zeit seines Lebens verehrte, war der Berliner Arzt und Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld (1868-1935). Hiervon zeugen nicht zuletzt einige kleinere Veröffentlichungen, die W. ab 1949 vorlegte. Hirschfeld war für W. eine monolithische Figur, die für die Emanzipation der Homosexuellen Unschätzbares geleistet habe. W. selbst war 1914 in Kontakt mit Hirschfeld und dessen Wissenschaftlich-humanitärem Komitee (WhK) getreten. Das WhK, 1897 gegründet, war die weltweit erste Interessenorganisation für Homosexuelle. Ihr Hauptanliegen war die Abschaffung des Paragraphen 175 RStGB, der mann-männliche Sexualkontakte mit Strafe belegte. Ab 1921 war W. Leiter der Ortsgruppe Ffm. des WhK und organisierte u. a. wissenschaftliche Vorträge zum Thema, bis die Ortsgruppe sich zehn Jahre später auflöste. 1922 wurde er auch zum Obmann des WhK gewählt, und in dieser Funktion wandte er sich an hochstehende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik, um deren Stimme im Kampf der Homosexuellen gegen die rechtliche Ungleichbehandlung zu gewinnen. Einer, den er zur Unterzeichnung der Petition des WhK an den Reichstag zur Abschaffung des „Homosexuellenparagraphen“ bewegen konnte, war der hessische Staatspräsident Carl Ulrich (1853-1933).
In den 1920er Jahren engagierten sich W. und sein Lebenspartner Dalquen auch im Nerother Wandervogel e. V., der 1921 als reiner Jungenbund von Robert Oelbermann (1896-1941) gegründet worden war. Auf den Touren des Bundes lernten sie einen Jungen kennen, den sie um 1929 in ihren Haushalt aufnahmen und den Paul Dalquen später adoptierte. Walter Dalquen (1917-1998) wurde daraufhin Teilhaber im Geschäft seiner beiden „Väter“. Für seine 1946 geborene Tochter war die Beziehung zwischen „Onkel Hermann“ und „Onkel Paul“ etwas „ganz Normales“.
Den Terror der Nazi-Zeit scheint die „queere Familie“ W.-Dalquen glimpflich überstanden zu haben. Über den Lebenswandel der drei Männer zwischen 1933 und 1945 ist aber kaum etwas bekannt. Auch in erhaltenen Briefen an die befreundeten Schriftsteller Kurt Hiller (1885-1972) und Peter Martin Lampel (1894-1965) teilte W. wenig über seine Erlebnisse während des Nationalsozialismus mit. Nur einmal schrieb er, sein Lebenspartner und er seien einst „wie durch ein Wunder“ der Verhaftung entgangen. Bei einer Hausdurchsuchung habe die Gestapo alle „einschlägigen“ Bücher konfisziert, darunter sämtliche Jahresberichte des WhK sowie die Bücher Hillers und Lampels.
Nach 1945 gab sich W. in Briefen als Anhänger der Monarchie und Patriot zu erkennen, der gewisse Vorbehalte gegenüber den „West-Mächten“ hegte. Doch ging es ihm nun vor allem darum, dass in Deutschland eine Demokratie aufgebaut werde, die dem „Sturm des Kommunismus“ gewachsen sei. Er fürchtete einen dritten Weltkrieg, der vermutlich das Ende aller Kultur sei. Im persönlichen Umgang zeichnete sich W. offenbar durch Wohlwollen und Gutmütigkeit aus. Es war nicht seine Art, scharfe Kritik zu üben bzw. Ecken und Kanten zu zeigen. Vielmehr war er stets auf Ausgleich und Kompromiss bedacht. So nahm er etwa auch „Rolf“ (eigentl.: Karl Meier, 1897-1974), den Herausgeber der Schweizer Zeitschrift für Homosexuelle „Der Kreis“, vor Kritik Hillers in Schutz. Der „gute Rolf“ tue, was er könne. Man dürfe ihm nicht den Mut nehmen, „wenn auch nicht alles immer so ist, wie es sein sollte“.
Als sich 1949 mit dem Verein für humanitäre Lebensgestaltung (VhL) in Ffm. eine erste Organisation für Homosexuelle nach dem Zweiten Weltkrieg bildete, war W. erneut bereit, seinen „guten Namen“ zu riskieren, um den auch in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor gültigen (und 1935 erheblich verschärften) Paragraphen 175 StGB zu Fall zu bringen. An Hiller schrieb er, er hoffe, „noch ein paar Jahre an dem wieder auflebenden Kampf um unser Recht teilnehmen zu können“. Erster Vorsitzender des VhL war der kaufmännische Angestellte
Heinz Meininger (1902-1983), und W. übernahm den Ehrenvorsitz des Vereins. Der VhL hatte anfänglich 90 Mitglieder, doch geriet er nicht zuletzt im Zuge der „Ffter Homosexuellenprozesse“ von 1950/51 in eine tiefe Krise, an der er zu zerbrechen drohte. Trotz allem soll die Mitgliederzeitschrift des VhL, die unter dem Titel „Die Gefährten“ als „Monatsschrift für Menschlichkeit, Wahrheit und Recht“ von Mai 1952 bis August 1954 erschien, mehrere tausend Leser erreicht haben.
Über den VhL lernte W. auch den Arzt
Hans Giese (1920-1970) kennen, der sich 1949 mit der Gründung eines Ffter Instituts für Sexualforschung in die Tradition Magnus Hirschfelds einschreiben wollte.
Giese ließ gleichzeitig das WhK im „alten Stil“ wiederbeleben. In diesem Nachkriegs-WhK übernahm W. die Präsidentschaft; er entzweite sich aber schon bald mit dessen Gründer. Bereits als sich
Giese 1950 öffentlich für ein Jugendschutzalter von 21 Jahren für Männer bei gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten aussprach (während W. sich für ein allgemeines Jugendschutzalter von 16 Jahren einsetzte, das für Männer wie Frauen gleichermaßen gelten sollte), erklärte W. dies als „Unsinn“. Als
Giese, der selbst homosexuell war, dann auch noch die Homosexualität als „Funktionsstörung“ bezeichnete, war für W. das Maß voll, und er bat
Giese, ihn vom Amt des WhK-Präsidenten zu entbinden.
Weil W. im Alter unter großen gesundheitlichen Problemen litt, musste er sein Engagement für die homosexuelle Emanzipation immer wieder zurückstellen. Als er im Herbst 1949 von einer massiven Polizeiaktion gegen das Vereinslokal des VhL – das „Kleist-Casino“ in der Großen Bockenheimer Straße 6-10 – erfuhr, unterließ er es gleichwohl nicht, zusammen mit dem Wirt des Lokals und
Heinz Meininger Beschwerde beim Ffter Polizeipräsidenten Willy Klapproth (1892-1967) einzulegen. Am frühen Morgen des 9.10.1949 war das „Kleist-Casino“ von etwa 60 amerikanischen und deutschen Polizisten umstellt worden. Unter dem Aufgebot von 16 Fotografen gingen die Polizisten dann im Lokal mit vorgehaltenen Waffen von Tisch zu Tisch, um alle Anwesenden fotografieren zu lassen. W. und sein Lebenspartner Dalquen hatten die Räumlichkeiten nur wenige Minuten vor dem Eintreffen der Polizei verlassen.
Am 29.8.1952 eröffnete W. mit einer Ansprache den zweiten Kongress für sexuelle Gleichberechtigung des in den Niederlanden gegründeten International Committee for Sexual Equality (ICSE), der in den Räumen der Ffter Universität stattfand, und zwei Monate später verfasste er zusammen mit
Heinz Meininger ein Memorandum an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, in dem die beiden Aktivisten im Namen aller Homosexueller, deren Angehöriger und Freunde die „Aufhebung bzw. Änderung der diskriminierenden Strafgesetze gegen gleichgeschlechtliche Betätigung“ forderten. W.s Kampfgeist war bis kurz vor seinem Lebensende ungebrochen.
Ideologisch gehörte W. der Generation homosexueller Männer an, die weniger provozieren, sondern „nett“ und „freundlich“ bleiben wollten. W. war kein Intellektueller und auch kein Theoretiker, für ihn war „Anständigkeit“ ein zentraler Wert. W.s große Leistung im Kampf um die rechtliche Gleichstellung der homosexuellen Minderheit liegt darin, dass er diesen Kampf sowohl vor 1933 als auch nach 1945 im Einklang mit seinen Mitmenschen und gesellschaftlichen Autoritäten – anderen gleichgeschlechtlich empfindenden Männern sowie Juristen, Ärzten und Vertretern von Polizei und Politik – führte. W. zeichnete sich dabei weniger durch Spontaneität und Sprunghaftigkeit aus als vielmehr durch Ausdauer, Gleichmut und Geduld. Er suchte nicht die Konfrontation, sondern den Konsens und das Miteinander.
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