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Schoenflies, Arthur

Arthur Schoenflies

Arthur Schoenflies
Fotografie.

© Institut für Stadtgeschichte (Sign. S7P Nr. 12865) / Historisches Museum (Inv.-Nr. C21582), Ffm.
Schoenflies (auch: Schönflies), Arthur Moritz. Geheimrat. Prof. Dr. phil. Mathematiker. * 17.4.1853 Landsberg/Warthe, † 27.5.1928 Ffm.
Sch. wurde in Landsberg/Warthe [heute: Gorzów Wielkopolski (Polen)] in eine jüdische Familie geboren. Der Vater Moritz (eigentl.: Moses) Isaak Sch. (1812-1886) betrieb eine Zigarrenfabrik.
Verheiratet (seit 1896) mit Emma Amalie Sch., geb. Levin (1868-1939). Das Paar hatte fünf Kinder. Sohn Albert Sch. (1898-1944) wirkte als Landgerichtsrat in Königsberg; er und seine Ehefrau Ilse Sch., geb. Eisenberg, wurden in Auschwitz ermordet. Die Töchter Hanna Kaemmel, geb. Sch. (1897-1985), Elisabeth Bühler, geb. Sch. (1900-1991), und Lotte Levy, geb. Sch. (1905-1981), überlebten Nationalsozialismus und Shoah. Tochter Dr. phil. Eva Sonntag, geb. Sch. (1901-1944), schied durch Suizid aus dem Leben.
Zur Verwandtschaft von Sch. zählten der renommierte Archäologe Gustav Hirschfeld (1847-1895) sowie die Kochbuch-Autorin Julie Elias, geb. Levin (1866-1946), und deren Ehemann, der Kunsthistoriker Julius Elias (1861-1927), außerdem der Großneffe Walter Benjamin und dessen Cousine, die Lyrikerin Gertrud Kolmar (1894-1943). Benjamin, der im Sommersemester 1923 bei Sch. als Gast wohnte, nahm sich 1940 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Portbou das Leben, und Gertrud Kolmar wurde in Auschwitz ermordet.
Nach dem Studium der Mathematik und der Physik in Berlin wurde Sch. 1877 promoviert. Er wirkte zunächst als Lehrer in Berlin, dann als Oberlehrer in Colmar (1880-84). Mitte der 1880er Jahre entschied er sich für die Laufbahn als Hochschullehrer und habilitierte sich in Göttingen. 1891, nach längerer Tätigkeit als unbesoldeter Privatdozent, wurde Sch. an der dortigen Universität auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Angewandte Mathematik berufen. 1899 wechselte er als Professor an die Universität Königsberg. Etwa in dieser Zeit befasste sich Sch. mit der mathematischen Behandlung der Kristallstruktur anhand von gruppentheoretischen Methoden und wies zeitgleich mit dem russischen Mathematiker und Mineralogen Jewgraf Stepanowitsch Fjodorow (1853-1919) nach, dass es gruppentheoretisch genau 230 Raumgruppen von Symmetrien der Kristallstrukturen gibt (1891). Die von ihm entwickelte „Sch.-Symbolik“ als Grundlage für die Beschreibung von Kristallstrukturen begründete seinen Nachruhm. Jahrzehntelang beruhte die internationale Darstellung der 32 Kristallklassen und 230 kristallografischen Raumgruppen auf den von Sch. eingeführten Symbolen; bis heute sind sie in der physikalischen Spektroskopie in Gebrauch. Sch. war u. a. Mitglied der Kaiserlichen St. Petersburger Mineralogischen Gesellschaft (1891), der Leopoldina in Halle (1896) und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München (korrespondierend, 1918) sowie Ehrenmitglied des Deutschen Wissenschaftler-Verbands und einer der Gründer der Deutschen Mathematiker-Vereinigung; ab 1922 fungierte er als deren Präsident.
1911, im Alter von 58 Jahren, zog Sch. nach Ffm. Zunächst wohnte die Familie in der Schumannstraße 62, später in der Grillparzerstraße 59 (heute: Hausnummer 57; Villa nicht erhalten). Sch. bekleidete ab 1911 eine Professur an der von Wilhelm Merton initiierten Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften, Vorgängerinstitution der 1914 eröffneten Ffter Stiftungsuniversität, zu deren Mitbegründern auch Sch. zählte. Zu seinen Aufgaben gehörte die Einrichtung einer selbstständigen Naturwissenschaftlichen Fakultät, der ersten an einer deutschen Universität überhaupt. Die von ihm berufenen Professoren kamen meist aus der Akademie selbst sowie aus den Senckenbergischen Instituten. Nur die Fachbereiche Mineralogie und Theoretische Physik besetzte Sch. mit Professoren von auswärts. Den Lehrstuhl für Theoretische Physik etwa erhielt Nobelpreisträger Max von Laue, der ab 1914 für mehr als vier Jahre zum Ruhm der jungen Universität beitragen sollte.
Kurzer Höhepunkt und gleichzeitig altersbedingtes Ende der beruflichen Karriere von Sch. war 1921 die Übernahme des Rektorats der Universität Ffm.; offensichtlich war Sch. seinerzeit reichsweit nicht nur der erste Mathematiker, sondern auch der erste Jude in dieser Position. Große Verdienste erwarb er sich bei der Intensivierung der Beziehungen zwischen der Universität und ihren großzügigen Förderern. Überliefert ist Sch.’ Antrittsrede, die sich auf sein Fach, die Mathematik, bezog: „Abseits aller der Tagesfragen, die unser Denken und Empfinden heute in erster Linie erfüllen, verläuft das Arbeitsgebiet der mathematischen Wissenschaft. Jenseits von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, liegt das Reich ihrer Probleme, bewegt sich die weite Welt ihrer Gedanken. Doch ist sie keineswegs jeder Beziehung zu den großen Zwecken des staatlichen Organismus bar. Neue mathematische Begriffe und Erkenntnisse sind oftmals gerade aus der Versenkung in die praktischen Bedürfnisse von Naturwissenschaft und Technik entstanden.“ (Auszug aus: Über allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Geschehens, 1920; zit. nach Rudolf u. Gerda Fritsch: Der Verkünder und Verbreiter der Mengenlehre, in: Forschung Fft. 2/2003, S. 65.)
Sch.’ Leben und berufliches Wirken war augenscheinlich mit mathematischer Präzision geplant und stark von Verstand und Vernunft geprägt. Privat galt er als autoritärer Familienpatriarch. Wie so viele Akademiker seiner Zeit war er Kenner und Liebhaber der Antike, ihrer Sprachen und Kultur. Ludwig van Beethoven soll sein Lieblingskomponist gewesen sein.
Im Alter von 75 Jahren starb Sch. in Ffm. Der Nachruf im Israelitischen Familienblatt würdigte u. a. seine national-liberale Gesinnung, wie sie seinerzeit im akademischen Bildungsbürgertum stark verbreitet war, seine Treue zum jüdischen Glauben und sein Traditionsbewusstsein.
Sch.’ wissenschaftliche Arbeiten, etwa zu Mengenlehre und Kinematik, über Symmetrie und Struktur der Kristalle sowie über „Projektive Geometrie“, haben das Fach Mathematik und das mathematische Denken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst. Sch. veröffentlichte u. a. die Schriften „Geometrie der Bewegung in synthetischer Darstellung“ (1886), „Krystallsysteme und Krystallstructur“ (1891) und „Einführung in die Hauptgesetze der zeichnerischen Darstellungsmethoden“ (1908). Bekannt wurde außerdem der erstmals 1895 erschienene „Nernst-Sch.“, ein Lehrbuch zur Differential- und Integralrechnung, erarbeitet gemeinsam mit dem späteren Nobelpreisträger für Chemie Walther Nernst (1864-1941). Die Veröffentlichungen wurden in viele Sprachen übersetzt. Berühmtheit erlangte der „Satz von Sch.“. Dieser besagt, dass jedes von einer einfach geschlossenen Kurve berandete beschränkte Gebiet umkehrbar eindeutig auf die Kreisscheibe abgebildet werden kann. Der Satz ist bis heute Grundlage weiterführender mathematischer Untersuchungen, die sich darum bemühen, den Beweis zu vereinfachen und die Aussage in Richtung auf Differenzierbarkeitseigenschaften der auftretenden Funktionen und höherdimensionale Verallgemeinerungen zu verschärfen.
Nach dem „Machtantritt“ der Nationalsozialisten 1933 gehörten auch Wissenschaftler, die einst von Sch. gefördert worden waren, zu den Vertretern einer „Deutschen Mathematik“. Diese wandten sich teils mit antisemitisch motivierten Begründungen gegen den abstrakten Darstellungsstil der Mathematik, der ab Anfang des 20. Jahrhunderts Eingang in die moderne mathematische Fachliteratur gefunden hatte.
Gedenktafel (2021) an der letzten Wohnadresse Grillparzerstraße 57 (früher: 59) für Sch. und Walter Benjamin.
Sch.’ Grabmal auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann XIV 403 UG) ziert die Abbildung eines verlängerten Rhombendodekaeders aus der Theorie der kristallografischen Raumgruppen.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Heike Drummer.

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Quellen: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.SUB Göttingen, v. a. Briefe von Arthur Schoenflies in Nachlässen Georg Cantor, Ernst Ehlers, David Hilbert, Felix Klein u. Edward Schröder sowie in Abt. Mathematiker-Archiv u. Handschriften. | Universitätsarchiv Ffm. (UAF), Archiv der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Ffm.Universitätsarchiv Ffm., Bestände 1, 4, 14, 144, 604 u. 854.
Internet: chemie.de, Chemie-Fachportal der LUMITOS AG, Berlin. https://www.chemie.de/lexikon/Arthur_Moritz_Schönflies.htmlchemie.de, 4.7.2021. | Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, Hg.: Wikimedia Foundation Inc., San Francisco/Kalifornien (USA). https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Moritz_SchoenfliesWikipedia, 3.7.2021.

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Empfohlene Zitierweise: Drummer, Heike: Schoenflies, Arthur. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/4476

Stand des Artikels: 6.7.2021
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 07.2021.