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Freund, Gisèle

Gisèle (damals noch Gisela) Freund
Gisèle (damals noch Gisela) Freund
Fotografie in ihrem Studierendenausweis der Ffter Universität.
© Universitätsarchiv Frankfurt am Main (UAF Best. 854 Nr. 2915).
Gisèle Freund

Gisèle Freund 1995 in Ffm.

© Barbara Klemm, Frankfurt am Main.
Freund, Gisèle (eigentl.: Sophia Gisela). Dr. phil. Fotografin und Fotohistorikerin. * 19.12.1908 (Berlin-)Schöneberg, † 31.3.2000 Paris.
Der Vater Julius Freund (1869-1941), Unternehmer und Kunstsammler, schenkte F. zum Abitur die erste Kamera: eine Leica. Ab 1929 studierte F. Soziologie, zunächst in Freiburg, ab 1930 in Ffm. bei Karl Mannheim und dessen Assistenten Norbert Elias. Am Institut für Sozialforschung besuchte sie Veranstaltungen u. a. von Max Horkheimer. Politisch stand F. dem Kommunismus nahe; sie engagierte sich in der „Roten Studentengruppe“. Am 1. Mai 1931 (und nicht, wie ursprünglich angenommen, erst am 1. Mai 1932) entstand ihre heute berühmte Fotoserie über die Demonstrationen in der Ffter Innenstadt. Aus dieser Zeit hat sich ebenso ein Foto von F. erhalten, das ein Publikum mit zum „Hitlergruß“ erhobenen Armen am Bismarckdenkmal zeigt; der Entstehungszusammenhang ist nicht geklärt.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 war F. als Linke und Jüdin doppelt gefährdet. Die Geheime Staatspolizei beschlagnahmte das Institut für Sozialforschung wegen vermeintlich „staatsfeindlicher Bestrebungen“; Dozenten und Studierende wurden verfolgt und zuweilen brutal angegriffen. Das noch im selben Jahr publizierte „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“ enthält ein Foto mit dem Titel „Misshandelter Arbeiter aus Ffm.“; gemäß ihrer Angabe war es von F. aufgenommen worden und zeigt einen gefolterten Studenten. Am 30.5.1933 flüchtete F. nach Paris; die wertvollen Negative mit den Ffter Sujets trug sie bei sich. Die Kontrolle im Zug blieb ihr lebhaft in Erinnerung: „‚Sind Sie Jüdin?‘, fragte der misstrauische SS-Mann nach einem Blick in meinen Pass. ‚Ich Jüdin?‘, gab ich zurück. ‚Haben Sie jemals von einer Jüdin namens Gisela gehört?‘ Mit einem Hitlergruß verabschiedeten sie sich. Ich war gerettet.“ (F. in: Ein Leben für die Leica 1983, Ausgabe als CD 2000.)
In der französischen Hauptstadt schloss F. ihr Studium ab und verfasste eine Dissertation mit dem Titel „La photographie en France au XIXe siècle“ (1936, dt. 1968). Darin erforschte sie Aspekte aus der Geschichte der Fotografie und beleuchtete „die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Kunstformen und der Gesellschaft“ sowie die Frage, „wie die Techniken der photographischen Linse unsere Vision von der Welt verändert haben“ (Freund: Photographie u. Gesellschaft 1976, S. 7). Mit viel beachteten Fotoreportagen, etwa für die Zeitschriften „Life Magazine“ und „Weekly Illustrated“, verdiente sie sich, die ursprünglich Schriftstellerin werden wollte und ihre Karriere als Autodidaktin begonnen hatte, den Lebensunterhalt im Exil. Zwischen 1935 und 1940 entstanden ihre heute weltbekannten Farbporträts damaliger Intellektueller, etwa von James Joyce, André Malraux, Paul Éluard, Walter Benjamin, Stefan Zweig, Virginia Woolf und Simone de Beauvoir; diese Aufnahmen sollten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Ruhm als „Porträtistin des Geistes“ begründen.
1936 heiratete F. Pierre Blum, um die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen; die Ehe wurde 1948 einvernehmlich geschieden. Blum hatte sie indirekt über ihre Freundin Adrienne Monnier (1892-1955) kennengelernt; die Verlegerin und Buchhändlerin galt seinerzeit als wichtigste Persönlichkeit der Pariser Literaturszene und hatte F.s Dissertation ins Französische übersetzt und 1936 publiziert. Nach der Besetzung Frankreichs durch Truppen der deutschen Wehrmacht im Juni 1940 rettete F. sich in die freie Zone und lebte ein Jahr bei Bauern im Département Lot. Mit Unterstützung der argentinischen Schriftstellerin und Feministin Victoria Ocampo (1890-1979), Herausgeberin der Zeitschrift „Sur“, gelang ihr schließlich die Flucht nach Buenos Aires. Hier etablierte sie sich mit Reportagen aus Mittel- und Südamerika rasch zur international gefragten Fotografin. Nach einem kurzen Aufenthalt in Mexiko kehrte F. 1953 nach Paris zurück. Bis 1954 war sie Mitglied der berühmten Fotoagentur „Magnum“. Sie bekleidete später zahlreiche Ehrenämter, wurde Präsidentin der Fédération Française des Associations des Photographes Créateurs und in die Légion d’honneur (Ehrenlegion) aufgenommen. Die Bundesrepublik Deutschland besuchte sie erst wieder 1957.
F. starb im Jahr 2000 in Paris. Sie gilt als eine der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts.
F. publizierte zahlreiche Bücher und auch autobiographische Schriften. Ihr fotografisches Werk wurde zwischen 1963 und 2017 weltweit allein in 30 Einzelausstellungen präsentiert. In Ffm. war F. mit ihren Fotografien regelmäßig vertreten: zu Lebzeiten 1984 im Fotografie Forum, 1995/96 im Museum für Moderne Kunst (Fotoserie Ffm. 1932) und im Literaturhaus (Autorenporträts) sowie posthum 2015 im Historischen Museum und 2017 im Universitätsarchiv der Goethe-Universität.
Grabstätte auf dem Friedhof Montparnasse in Paris.
Umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Briefen, Manuskripten und Fotografien von F. aus dem Nachlass des Journalisten und Kommunikationsdesigners Hans Puttnies (1946-2020) im JMF.
Gisèle-F.-Platz am Campus Westend der Goethe-Universität.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Heike Drummer.

Lexika: Dictionnaire des Photographes. Les Dictionnaires d’Universalis. o. O. 2017, als E-Book-Ausgabe 2019.Dictionnaire des Photographes, o. S. | Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945. 3 Bde. München/New York/London/Paris 1980-83.Emigrantenlex. II.1, S. 333. | Koetzle, Hans-Michael: Fotografen A-Z. Köln 2011.Koetzle: Fotografen A-Z 2011, S. 131.
Literatur:
                        
Aura. Jahresgabe [des Historischen Museums Fft.; mit wechselndem Untertitel.] Bisher 17 Ausgaben. Ffm. 2005/06-2021/22.Aura 2014/15, S. 22. | Aura. Jahresgabe [des Historischen Museums Fft.; mit wechselndem Untertitel.] Bisher 17 Ausgaben. Ffm. 2005/06-2021/22.Aura 2015/16, S. 30, 61. | Gisèle Freund – Fotografien. [Katalog zur Ausstellung „Gisèle Freund – Fotografien – Ffm. 1932“ im Museum für Moderne Kunst, Ffm., 1995. Red.: Hubert Beck, Marita Braun-Ruiter.] Ffm. 1995. (Schriften zur Sammlung des Museums für Moderne Kunst Ffm.).Beck/Braun-Ruiter (Red.): Gisèle Freund – Fotografien [– Ffm. 1932] 1995. | Böhme, Günther (Hg.): Die Ffter Gelehrtenrepublik. Leben, Wirkung und Bedeutung Ffter Wissenschaftler. Idstein 1999.Sievert, Adelheid: Gisèle Freund – Fotografin, Wissenschaftlerin, Künstlerin. In: Böhme (Hg.): Gelehrtenrepublik 1999, S. 125-149. | Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror. Vorwort Lord Marley. Basel 1933.Braunbuch über Reichstagsbrand u. Hitlerterror 1933. | Gisèle Freund. Berlin – Fft. – Paris. Fotografien 1929-1962. [Katalog zu einer Ausstellung der 46. Berliner Festwochen 1996. Hg. v. Marita Braun-Ruiter.] Berlin 1996.Braun-Ruiter (Hg.): Gisèle Freund. Berlin – Fft. – Paris 1996. | Büchner. Literatur, Kunst, Kultur. Mit dem Kulturprogramm für Rhein-Main. 4 Jahrgänge. Ffm. 1999-2002.Picard, Tobias: Gisèle Freund. Geschichten in Bildern. In: Büchner 2 (2000), H. 2 (Februar), S. 34-40. | Cosnac, Bettina de: Gisèle Freund. Porträt. [Untertitel auch: Ein Leben.] Zürich/Hamburg 2008.Cosnac: Gisèle Freund 2008. | Ein Leben für die Leica. Gisèle Freund im Gespräch. [Hg.: Südwestrundfunk (SWR). Hörfunkfeature von Sabine Mann aus dem Jahr 1983. Audio-CD.] [Berlin] 2000.Ein Leben für die Leica. Gisèle Freund im Gespräch 1983, Ausgabe als CD 2000. | Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. Bisher 39 Jahrgänge (154 Hefte). Marburg 1981-2019.Yoon, Hyewon: Porträts im Exil. Gisèle Freund in Fft. und Paris. In: Fotogeschichte 39 (2019), H. 151, S. 27-34. | Frecot, Janos/Kostas, Gabriele (Hg.): Gisèle Freund. Fotografische Szenen und Porträts. Im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. [Begleitbuch zur Ausstellung der Akademie der Künste, Berlin, 2014.] Berlin 2014.Frecot/Kostas (Hg.): Gisèle Freund. Fotografische Szenen u. Porträts 2014. | Freund, Gisèle: Memoiren des Auges. Ffm. 1977.Freund: Memoiren des Auges 1977. | Freund, Gisèle: Photographien. [Spätere Auflagen u. d. T.: Photographien und Erinnerungen.] Mit autobiographischen Texten und einem Vorwort von Christian Caujolle. [Übersetzt aus dem Französischen von Verena von der Heyden-Rynch.] München [u. a.] 1985.Freund: Photographien [u. Erinnerungen] 1985. | Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft. Aus dem Französischen übersetzt von Dietrich Leube. München 1976. (Reihe Passagen).Freund: Photographie u. Gesellschaft 1976. | Freund, Gisèle: Portraits von Schriftstellern und Künstlern. Mit einem autobiographischen Text. München 1989. (Schirmer’s visuelle Bibliothek 14).Freund: Portraits von Schriftstellern u. Künstlern 1989. | Gramatzki, Susanne/Kroll, Renate (Hg.): Keine Bilder ohne Worte. Fotografinnen und Filmemacherinnen und ihre Texte. Berlin 2021.Freund, Gisèle: Auszüge aus ihren fotosoziologischen Schriften, ihrer Autobiografie, autobiografischen Fragmenten und einem Interview. In: Gramatzki/Kroll (Hg.): Keine Bilder ohne Worte 2021, S. 250-260. | Gramatzki, Susanne/Kroll, Renate (Hg.): Keine Bilder ohne Worte. Fotografinnen und Filmemacherinnen und ihre Texte. Berlin 2021.Lemke, Verena: (Keine) Bilder ohne Worte. Zum Zusammenwirken von Bild- und Sprachmedium bei Gisèle Freund. In: Gramatzki/Kroll (Hg.): Keine Bilder ohne Worte 2021, S. 261-271. | Einzeln & Gemeinsam. 100 Jahre starke Frauen an der Goethe-Universität. Hg. v. Helma Lutz, Marianne Schmidbaur, Verena Specht-Ronique u. Anja Wolde zum 100-jährigen Bestehen der Goethe-Universität Ffm. Ffm. 2014.Hundert Jahre starke Frauen a. d. Goethe-Univ. 2014, S. 38f. | Gisèle Freund. Portrait. Entretiens avec Rauda Jamis. Paris 1991. Dt. Ausgabe: Gisèle Freund. Gespräche mit Rauda Jamis. [Aus dem Französischen übertragen von Peter Wanninger.] München/Paris/London 1993.Jamis: Gisèle Freund. Portrait 1991, dt. 1993. | Gisèle Freund. Die Frau mit der Kamera. Fotografien 1929-1988. Mit einem Essay von Hans Puttnies. [Katalog zur Ausstellung im BAT-Kunstfoyer Hamburg im Rahmen der Hammoniale – Festival der Frauen und in Kooperation mit der BAT-Cigarettenfabriken-GmbH, Hamburg, 1992.] München/Paris/London 1992.Kat. Gisèle Freund. Die Frau mit der Kamera 1992. | Klemp, Klaus/Sellmann, Annika/Wagner K, Matthias/Weber, Grit: Moderne am Main 1919-1933. Stuttgart/Ffm. [2019].Klemp u. a.: Moderne am Main 2019, S. 256, 297. | Koetzle, Hans-Michael (Hg.): Augen auf! 100 Jahre Leica. Heidelberg/Berlin 2014.Koetzle (Hg.): 100 Jahre Leica 2014, S. 533.
Quellen: Historisches Museum Ffm.HMF, Fotoserie 1. Mai 1931 (früher irrtümlich datiert: 1. Mai 1932). | Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC), Saint-Germain la Blanche-Herbe, Frankreich.Nachlass: Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC). | ISG, Dokumentationsmappe in der Sammlung S2 (mit Kleinschriften, Zeitungsausschnitten und Nekrologen zu einzelnen Personen und Familien).ISG, S2/16.516. | Jüdisches Museum Ffm.JMF, Sammlung Hans Puttnies – Gisèle Freund, JMF2022-0101.
Internet: FotografenWiki, digitales Lexikon über Fotografinnen und Fotografen, Hg.: Foto-Historie e. V. und Irene und Sigurd Greven Stiftung (im Kontext des Digitalprojekts Greven Archiv Digital), Köln. https://fotografenwiki.greven-archiv-digital.de/index.php?title=Gisèle_FreundFotografenWiki, 24.7.2024. | Johann Wolfgang Goethe-Universität Ffm. https://www.uni-frankfurt.de/66990242/Gisèle_Freund__1908_2000
Hinweis: Artikel über Gisèle Freund im Gedenkplan Campus Westend.
Goethe-Universität Ffm., 9.5.2020.
| Städel Museum, Ffm. https://sammlung.staedelmuseum.de/de/person/freund-gisele
Hinweis: Eintrag zu Gisèle Freund in der digitalen Sammlung.
Städel, 7.5.2020.
| Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, Hg.: Wikimedia Foundation Inc., San Francisco/Kalifornien (USA). https://de.wikipedia.org/wiki/Gisèle_FreundWikipedia, 7.5.2020.

GND: 11853534X (Eintrag der Deutschen Nationalbibliothek).
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Empfohlene Zitierweise: Drummer, Heike: Freund, Gisèle. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/6514

Stand des Artikels: 18.12.2023
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 05.2020.