Der Vater Julius Freund (1869-1941), Unternehmer und Kunstsammler, schenkte F. zum Abitur die erste Kamera: eine Leica. Ab 1929 studierte F. Soziologie, zunächst in Freiburg, ab 1930 in Ffm. bei
Karl Mannheim und dessen Assistenten Norbert Elias. Am Institut für Sozialforschung besuchte sie Veranstaltungen u. a. von
Max Horkheimer. Politisch stand F. dem Kommunismus nahe; sie engagierte sich in der „Roten Studentengruppe“. Am 1. Mai 1931 (und nicht, wie ursprünglich angenommen, erst am 1. Mai 1932) entstand ihre heute berühmte Fotoserie über die Demonstrationen in der Ffter Innenstadt. Aus dieser Zeit hat sich ebenso ein Foto von F. erhalten, das ein Publikum mit zum „Hitlergruß“ erhobenen Armen am
Bismarckdenkmal zeigt; der Entstehungszusammenhang ist nicht geklärt.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 war F. als Linke und Jüdin doppelt gefährdet. Die Geheime Staatspolizei beschlagnahmte das Institut für Sozialforschung wegen vermeintlich „staatsfeindlicher Bestrebungen“; Dozenten und Studierende wurden verfolgt und zuweilen brutal angegriffen. Das noch im selben Jahr publizierte „Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror“ enthält ein Foto mit dem Titel „Misshandelter Arbeiter aus Ffm.“; gemäß ihrer Angabe war es von F. aufgenommen worden und zeigt einen gefolterten Studenten. Am 30.5.1933 flüchtete F. nach Paris; die wertvollen Negative mit den Ffter Sujets trug sie bei sich. Die Kontrolle im Zug blieb ihr lebhaft in Erinnerung: „‚Sind Sie Jüdin?‘, fragte der misstrauische SS-Mann nach einem Blick in meinen Pass. ‚Ich Jüdin?‘, gab ich zurück. ‚Haben Sie jemals von einer Jüdin namens Gisela gehört?‘ Mit einem Hitlergruß verabschiedeten sie sich. Ich war gerettet.“ (F. in: Ein Leben für die Leica 1983, Ausgabe als CD 2000.)
In der französischen Hauptstadt schloss F. ihr Studium ab und verfasste eine Dissertation mit dem Titel „La photographie en France au XIXe siècle“ (1936, dt. 1968). Darin erforschte sie Aspekte aus der Geschichte der Fotografie und beleuchtete „die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Kunstformen und der Gesellschaft“ sowie die Frage, „wie die Techniken der photographischen Linse unsere Vision von der Welt verändert haben“ (Freund: Photographie u. Gesellschaft 1976, S. 7). Mit viel beachteten Fotoreportagen, etwa für die Zeitschriften „Life Magazine“ und „Weekly Illustrated“, verdiente sie sich, die ursprünglich Schriftstellerin werden wollte und ihre Karriere als Autodidaktin begonnen hatte, den Lebensunterhalt im Exil. Zwischen 1935 und 1940 entstanden ihre heute weltbekannten Farbporträts damaliger Intellektueller, etwa von James Joyce, André Malraux, Paul Éluard,
Walter Benjamin, Stefan Zweig, Virginia Woolf und Simone de Beauvoir; diese Aufnahmen sollten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Ruhm als „Porträtistin des Geistes“ begründen.
1936 heiratete F. Pierre Blum, um die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen; die Ehe wurde 1948 einvernehmlich geschieden. Blum hatte sie indirekt über ihre Freundin Adrienne Monnier (1892-1955) kennengelernt; die Verlegerin und Buchhändlerin galt seinerzeit als wichtigste Persönlichkeit der Pariser Literaturszene und hatte F.s Dissertation ins Französische übersetzt und 1936 publiziert. Nach der Besetzung Frankreichs durch Truppen der deutschen Wehrmacht im Juni 1940 rettete F. sich in die freie Zone und lebte ein Jahr bei Bauern im Département Lot. Mit Unterstützung der argentinischen Schriftstellerin und Feministin Victoria Ocampo (1890-1979), Herausgeberin der Zeitschrift „Sur“, gelang ihr schließlich die Flucht nach Buenos Aires. Hier etablierte sie sich mit Reportagen aus Mittel- und Südamerika rasch zur international gefragten Fotografin. Nach einem kurzen Aufenthalt in Mexiko kehrte F. 1953 nach Paris zurück. Bis 1954 war sie Mitglied der berühmten Fotoagentur „Magnum“. Sie bekleidete später zahlreiche Ehrenämter, wurde Präsidentin der Fédération Française des Associations des Photographes Créateurs und in die Légion d’honneur (Ehrenlegion) aufgenommen. Die Bundesrepublik Deutschland besuchte sie erst wieder 1957.
F. starb im Jahr 2000 in Paris. Sie gilt als eine der bedeutendsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts.
F. publizierte zahlreiche Bücher und auch autobiographische Schriften. Ihr fotografisches Werk wurde zwischen 1963 und 2017 weltweit allein in 30 Einzelausstellungen präsentiert. In Ffm. war F. mit ihren Fotografien regelmäßig vertreten: zu Lebzeiten 1984 im Fotografie Forum, 1995/96 im Museum für Moderne Kunst (Fotoserie Ffm. 1932) und im Literaturhaus (Autorenporträts) sowie posthum 2015 im Historischen Museum und 2017 im Universitätsarchiv der Goethe-Universität.
Grabstätte auf dem Friedhof Montparnasse in Paris.
Umfangreiche Sammlung von Dokumenten, Briefen, Manuskripten und Fotografien von F. aus dem Nachlass des Journalisten und Kommunikationsdesigners Hans Puttnies (1946-2020) im JMF.
Gisèle-F.-Platz am Campus Westend der Goethe-Universität.
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