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Gielen, Michael

Generalmusikdirektor der Ffter Oper von 1977 bis 1987.

Michael Gielen

Michael Gielen
Fotografie von Kurt Weiner (1986).

© Institut für Stadtgeschichte, Ffm. (Sign. S7FR Nr. 15875).
Gielen, Michael Andreas. Prof. Dr. phil. h. c. Dirigent. Komponist. Pianist. * 20.7.1927 Dresden, † 8.3.2019 Mondsee/Salzkammergut (Österreich).
Der Vater Josef G. (1890-1968) war Schauspieler und Regisseur, später Intendant des Wiener Burgtheaters. Die Mutter Rose G., geb. Steuermann (1891-1973), die aus einer jüdischen Familie aus Sambor (Österreich-Ungarn, später Polen, heute Ukraine) stammte, war Schauspielerin. Eine Schwester: Carola Stella G. (seit 1945 verh. G. de Spiller, * 1925). Verheiratet (seit 1957) mit der Sopranistin (Chorsängerin) Helga G., geb. Augsten (* 1925). Zwei Kinder: Claudia Rose G. (* 1957) und Lucas Christian G. (* 1959).
Unter dem Druck der Nationalsozialisten musste die Familie G. 1937/38 von Berlin nach Wien umziehen, 1940 von Wien nach Argentinien emigrieren, wo der Vater Josef G. bereits 1938/39 am Teatro Colón inszeniert hatte. G. studierte seit 1940 in Buenos Aires u. a. Klavier bei Rita Kurzmann (1900-1942) und Musiktheorie bei Erwin Leuchter (1902-1973), unterstützt durch einen Briefwechsel mit seinem in New York lebenden Onkel Eduard Steuermann (1892-1964). Nach kurzem Studium der Philosophie an der Universität Buenos Aires (1945-46) und ersten Kompositionen (1946) begann er seine berufliche Laufbahn um 1946/47 als Korrepetitor am Teatro Colón in Buenos Aires, u. a. bei Wilhelm Furtwängler und Erich Kleiber (1890-1956). Daneben debütierte er in Buenos Aires als Pianist, u. a. zu Schönbergs 75. Geburtstag 1949 mit sämtlichen Klavierwerken des Meisters. Ende 1950 verließ G. Buenos Aires, um nach Wien zurückzukehren, wo seine Eltern wieder lebten, seitdem der Vater 1948 die Direktion des Burgtheaters übernommen hatte. Seit Anfang 1951 Korrepetitor, seit 1954 zugleich Dirigent und von 1959 bis 1960 Kapellmeister an der Wiener Staatsoper. Von 1960 bis 1965 Generalmusikdirektor an der Königlichen Oper in Stockholm. Daneben Beginn der internationalen Gastspieltätigkeit. Seit 1965 freischaffender Dirigent, u. a. an der Oper Köln. Von 1969 bis 1973 Chefdirigent des Orchestre National de Belgique in Brüssel. Ab 1973 erneut freiberuflicher Dirigent und bis 1975 – als Gast – Chefdirigent der Niederländischen Oper in Amsterdam. 1976/77 Professor für Orchesterleitung an der Musikakademie in Basel. Von 1977 bis 1987 Generalmusikdirektor der Oper Fft.; zugleich künstlerischer Leiter der Ffter Museumskonzerte. Daneben Erster Gastdirigent des BBC Symphony Orchestra London (1978-1981/82) und Leiter des Cincinnati Symphony Orchestra (1980-86). Von 1986 bis 1999 Chefdirigent des SWF-Sinfonieorchesters Baden-Baden (seit 1996: SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg), anschließend dessen ständiger Gastdirigent (1999-2014). Zudem u. a. Erster Gastdirigent der Staatsoper in Berlin (bis 2014). Von 1987 bis 1995 Professor am Mozarteum Salzburg.
In seiner Ffter Zeit als Generalmusikdirektor der Oper (1977-87) war G. beim Ffter Opernpublikum zunächst sehr umstritten und wurde teilweise heftig angefeindet. So kam es am 9.2.1981 bei der Premiere von „Aida“ in der Inszenierung von Hans Neuenfels, in der die Protagonistin als Putzfrau auftrat, zu Tumulten. Schützenhilfe erhielt G. in der lokalen Presse hauptsächlich von Hans-Klaus Jungheinrich, dem Musikkritiker der Ffter Rundschau. G. errang zunehmend große Erfolge, und unter seiner musikalischen Leitung avancierte die Ffter Oper zu einem der bedeutendsten Opernhäuser Europas. Im Nachhinein wurden seine zehn Ffter Jahre zur „Ära Gielen“ verklärt, wozu allerdings beitrug, dass kurz nach seinem Abschied das Ffter Opernhaus am 12.11.1987 abbrannte und G.s Nachfolger Gary Bertini (1927-2005) glücklos blieb. Zu G.s Team gehörten Klaus Zehelein (* 1940) als Chefdramaturg sowie Hans Neuenfels (1941-2022) und Ruth Berghaus als Regisseure.
Als Generalmusikdirektor in Ffm. leitete G. auch die Ffter Museumskonzerte. In seine Amtszeit fiel der Umzug der Museumskonzerte in die nach Kriegszerstörung wiederaufgebaute und 1981 als Konzerthaus wiedereröffnete „Alte Oper“; dort leitete er zahlreiche Konzerte mit Ffter Chören. Berühmt wurde seine programmatische Verschränkung von Beethovens 9. Sinfonie mit Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau“ (24./25.9.1978). Sein letztes Konzert in Ffm. gab G. im Dezember 2012 mit dem SWR-Sinfonieorchester in der Alten Oper.
Seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
G., der sich als Dirigent einen Autodidakten nannte, setzte sich vorwiegend mit Komponisten des 20. Jahrhunderts auseinander, besonders mit den Vertretern der Neuen Wiener Schule (Schönberg, Berg, Webern). Als „epochemachend“ wurde sein Dirigat der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ in Köln (1965) gewertet. Die Oper Fft. stand unter seiner Leitung für avantgardistische Aufführungen, deren Stil durch G.s streng sachliches Musizieren als „getreuer Korrepetitor“ (nach Theodor W. Adorno) wesentlich mitgeprägt wurde. Mit dem SWF- bzw. SWR-Sinfonieorchester realisierte G. zahlreiche Uraufführungen bei den Musikfestspielen in Donaueschingen. Er selbst rühmte sich, erstmals die Aufführung von Beethovens Sinfonien im originalen (vom Komponisten angegebenen) Tempo realisiert zu haben. Er war jedoch Gegner der „historischen Aufführungspraxis“ mit deren Bemühungen um einen möglichst „authentischen“ Originalklang, sondern forderte, die Musik vergangener Zeiten der heutigen Aufführungspraxis anzupassen. Seinen eigenen Kompositionen blieb ein breiteres Echo versagt.
Wichtige Inszenierungen unter der musikalischen Leitung von G. an der Oper Fft. (in Auswahl): Nonos „Al gran sole carico d’amore“ (dt. EA der revidierten Fassung, Regie: Jürgen Flimm, 1978), Schrekers „Die Gezeichneten“ (Regie: Hans Neuenfels, 1979), Bergs „Lulu“ (dt. EA der dreiaktigen Fassung, Regie: Harry Kupfer, 1979), Verdis „Aida“ (Regie: Hans Neuenfels, 1981, mit 100 Aufführungen), Zimmermanns „Die Soldaten“ (Regie: Alfred Kirchner, 1981), Wagners „Parsifal“ (Regie: Ruth Berghaus, 1982), Berlioz’ „Die Trojaner“ (Regie: Ruth Berghaus, 1983) und Wagners „Der Ring des Nibelungen“ (Regie: Ruth Berghaus, 1985-87).
Erinnerungen: „Unbedingt Musik“ (2005, 2. Ausgabe 2012).
Zahlreiche Auszeichnungen, Orden und Ehrungen, u. a. Hessischer Kulturpreis (1985), Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Ffm. (1986), Ernennung zum Ehrenmitglied der Ffter Museums-Gesellschaft (1987), Ffter Musikpreis (1999), Ernennung zum Ehrendirigenten des Ffter Museumsorchesters (2001) und des SWR-Sinfonieorchesters (2002), Cannes Classical Lifetime Achievement Award (2002), Deutscher Theaterpreis Der Faust für sein Lebenswerk (2007), Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern (2010) und Ernst von Siemens Musikpreis („Nobelpreis der Musik“, 2010).
Michael G. Archiv (Nachlass) bei der Akademie der Künste in Berlin.
Am 20.6.2019 Gedenkkonzert für G. in der Oper Fft.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Roman Fischer.

Lexika: Kosch, Wilhelm: Deutsches Theaterlexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. Fortgef. v. Ingrid Bigler-Marschall. 7 Bde. Klagenfurt, ab 4 (1998) Bern/München, ab 5 (2004) Zürich, ab 7 (2012) Berlin 1953-2012. Bisher 6 Nachtragsbände (bis Sr). Berlin 2013-18.Kosch: Theater, Nachtr. 2 (2014), S. 31f. | Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Unter Mitarb. zahlreicher Musikforscher (...) hg. v. Friedrich Blume. 17 Bde. Kassel/Basel 1949-86. Neuausgabe (2., völlig überarb. Aufl.): Hg. v. Ludwig Finscher. 10 Bde. (Sachteil), 18 Bde. (Personenteil) und ein Supplementband. Kassel/Stuttgart 1994-2008. Erschlossen, fortgesetzt, aktualisiert und erweitert als Online-Datenbank: MGG Online (unter: www.mgg-online.com). Kassel u. a. ab 2016.Andreas Jaschinski in: MGG, 2. Aufl., Personenteil 7 (2002), Sp. 929f. | Riemann Musiklexikon. 12. Aufl. Hg. v. Willibald Gurlitt, Hans Heinrich Eggebrecht u. Carl Dahlhaus. 3 Bde. u. 2 Ergänzungsbde. Mainz 1959-75.Riemann: Musik, Personenteil A-K (1959), S. 623; Ergänzungsbd., Personenteil A-K (1972), S. 423.
Literatur:
                        
Eggert, Mara/Jungheinrich, Hans-Klaus: Durchbrüche. 10 Jahre Musiktheater mit Michael Gielen. Weinheim 1987.Eggert/Jungheinrich: Durchbrüche 1987. | Fiebig, Paul: Michael Gielen. Dirigent, Komponist, Zeitgenosse. Stuttgart 1997.Fiebig: Michael Gielen 1997. | Gielen, Michael: „Unbedingt Musik“. Erinnerungen. Ffm./Leipzig 2005.Gielen: „Unbedingt Musik“ 2005. | [Gielen, Michael/Levin, Walter:] Musiker im Gespräch. Michael Gielen. Ffm./New York/London [Copyright 1982]. (Edition Peters 8494).Gielen/Levin: Musiker im Gespräch. Michael Gielen 1982. | Hoffmann, Hilmar: Fft.s Stardirigenten. Erinnerungen. Ffm. 2008.Hoffmann: Stardirigenten 2008, S. 153-190. | Hessischer Kulturpreis. Eine Dokumentation. Hg.: Hessendienst der Staatskanzlei. [Verantwortl.: Rolf Müller.] [Neuaufl.] Wiesbaden 1989.Müller: Hess. Kulturpreis 1989, S. 22f. | Städtische Bühnen Ffm. GmbH (Hg.): Ein Haus für das Theater. 50 Jahre Städtische Bühnen Ffm. 1963-2013. Leipzig 2013.Jungheinrich, Hans-Klaus: Oper Fft. Eine Fortsetzungsgeschichte. In: Städt. Bühnen Ffm. (Hg.): Ein Haus für das Theater 2013, S. 18-123, hier S. 55-77; vgl. auch S. 290-292. | Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Ffm. 1986: Michael Gielen. Hg.: Stadt Ffm., Amt für Wissenschaft und Kunst, Geschäftsstelle des Theodor-W.-Adorno-Preises. Ffm. 1987.Theodor-W.-Adorno-Preis d. Stadt Ffm. 1986: Michael Gielen.
Quellen: Ffter Rundschau. Ffm. 1945-heute.Jungheinrich, Hans-Klaus: Die Idee einer „ästhetischen Linken“. Furor der Genauigkeit: Zum Tode des Dirigenten Michael Gielen. In: FR, 11.3.2019. | ISG, Büro Stadtrat Nordhoff (Best. A.06.04), Vorzimmerregistratur des von 1998 bis 2006 amtierenden Kulturdezernenten Hans-Bernhard Nordhoff, 1990-2006.ISG, Büro Stadtrat Nordhoff 4. | ISG, Aktenbestand des Kulturamts (Best. A.41), 1912-2004.ISG, Kulturamt 1.999 (Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises an Michael Gielen, 1986). | ISG, Dokumentationsmappe in der Sammlung S2 (mit Kleinschriften, Zeitungsausschnitten und Nekrologen zu einzelnen Personen und Familien).ISG, S2/8.483.
Internet: Hessische Biografie, Kooperationsprojekt des Instituts für Personengeschichte in Bensheim und des Hessischen Instituts für Landesgeschichte in Marburg zur Erstellung einer umfassenden personengeschichtlichen Dokumentation des Landes Hessen. https://www.lagis-hessen.de/pnd/118539159Hess. Biografie, 8.10.2020. | Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM), Projekt der Universität Hamburg (Musikwissenschaftliches Institut), hg. v. Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer u. Friedrich Geiger, ab 2005. https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003456
Hinweis: Artikel über Michael Gielen, verfasst von Claudia Maurer Zenck, 2014 (aktualisiert am 19.3.2019).
Lex. verfolgter Musiker u. Musikerinnen d. NS-Zeit, 7.10.2020.
| Oesterreichisches Musiklexikon (oeml) online, Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Institut für kunst- und musikhistorische Forschungen (IKM), Abteilung Musikwissenschaft, Wien. https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_G/Gielen_Michael.xml
Hinweis: Artikel von Barbara Boisits.
Oesterreichisches Musiklex., 9.10.2020.
| Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, Hg.: Wikimedia Foundation Inc., San Francisco/Kalifornien (USA). https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_GielenWikipedia, 8.10.2020.

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Empfohlene Zitierweise: Fischer, Roman: Gielen, Michael. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/10999

Stand des Artikels: 27.3.2024
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 10.2020.