Gerothwohl, Siegmund, gen. Sigismund. Maler und Fotograf. Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.* 11.3.1811 Ffm., † um 1890/95 Kopenhagen.
G. stammte aus einer jüdischen Familie, die 1800 von Büdingen nach Ffm. gezogen war. Sein Vater
Menke Simon G. (?-1846) war Handelsmann und daneben Mitglied der Israelitischen Verwaltungsbehörde in Ffm. G. hatte mindestens vier Brüder und eine Schwester, die das Erwachsenenalter erreichten; weitere Geschwister sind offenbar früh gestorben. Gelegentlich werden in der Literatur (z. B. bei Dessoff und Thieme/Becker) G.s Vorname falsch mit Joseph und dementsprechend sein Geburtsjahr unrichtig mit 1808 angegeben, wohl unter Verwechslung mit dem älteren Bruder Joseph G. (1808-?), der früh nach London ging und dort ein Handelsgeschäft gründete. Der richtige Vorname Siegmund ist im Geburtseintrag im jüdischen Standesregister verzeichnet und wird auch in zeitgenössischen Inseraten und Berichten in der Ffter Lokalpresse (hier: Sigismund) verwendet.
G. erhielt eine Berufsausbildung als Maler und besuchte bereits in jungen Jahren das Städelsche Kunstinstitut (1829-34). Danach ging er für einige Zeit nach England, schon damals ein Zeichen der Umtriebigkeit, die sein Leben prägte. Er kam wieder nach Ffm. und lernte hier 1842 den Wanderfotografen Carl Reisser aus Wien kennen. 1839 war die Erfindung der Fotografie in Paris bekannt gegeben worden. An vielen Orten, auch in Ffm., experimentierten insbesondere Maler und Lithografen mit diesen Kenntnissen, aber feste Fotoateliers hatten sich noch nicht etabliert. Wanderfotografen zogen durch das Land und boten ihre Künste an, so auch Carl Reisser. Er hielt am 5.11.1842 einen Vortrag im Physikalischen Verein, über den die Ffter Didaskalia berichtete, und inserierte am 19.11.1842 u. a. im Ffter Intelligenz-Blatt, dass er in seiner Wohnung, einem Gartenhaus, Daguerre’sche Porträts aufnehme. Dabei handelt es sich um seitenverkehrte Porträts auf versilberten Kupferplatten, die nicht vervielfältigt werden konnten. G. erlernte von Reisser die neue Technik der Fotografie und arbeitete für ihn. Reisser reiste bereits im Dezember 1842 ab und übertrug sein wohl noch etwas provisorisches Atelier auf G. Am 3.1.1843 gab G. im Ffter Intelligenz-Blatt und danach im Ffter Journal bekannt, dass er mit Reisser „während seines hiesigen Aufenthaltes gemeinschaftlich gearbeitet, ich bei dessen Abreise seine gänzlichen Apparate übernommen und nach dessen Methode im bisherigen Lokale hier fortarbeiten werde“. Sein Atelier befand sich im Heyne’schen Haus vor dem Eschenheimer Tor und in dem dazugehörigen Garten. Beispiele seiner Porträts stellte er bei einem Buchhändler und einem Optiker aus. G. war damit der zweite Fotograf, der hauptberuflich ein Fotoatelier in Ffm. gründete. Der erste Fotograf, Johann Heitmann (1814-1867), der einige Monate vor G. sein Atelier eröffnete, hielt sich nicht lange. Beide bekämpften sich als Konkurrenten mit regelrechten Anzeigen-Kampagnen im April 1843. Im März 1844 fuhr G. für kurze Zeit nach Paris und machte sich dort „mit den neuesten Verbesserungen“, wie er in einem Inserat schrieb, bekannt. Im Dezember 1844 eröffnete er einen neuen Glaspavillon und warb damit, dass er mit Heizung und künstlichem Licht jetzt auch bei Regen und Schnee arbeiten könne.
Inzwischen war die Technik der Fotografie weiterentwickelt worden. In England hatte
William Henry Fox Talbot die Fotografie auf Papier erfunden, die auf dem Einsatz von Papiernegativen in der Kamera basierte. Davon wurden Positive auf Papier abgezogen, sogenannte „Kalotypien“, so dass von einer Aufnahme mehrere Positivabzüge hergestellt werden konnten. Die künstlerisch wirkenden, kolorierten Porträts waren Aquarellen vergleichbar (und wurden manchmal tatsächlich mit solchen verwechselt); auch konnten Kupferstiche mit dem neuen Verfahren vervielfältigt werden. Ein Engländer namens E. Tanner kam Ende 1844 von London auf den Kontinent und brachte das Know-how mit. Er hielt sich zunächst in Mainz auf, kam anschließend nach Ffm. und inserierte im Ffter Intelligenz-Blatt vom 17.12.1844, dass er Interessierte in das neue Verfahren einführe gegen „billige Bedingungen“. G. machte davon Gebrauch und führte als erster Fotograf in Ffm. das Papierverfahren ein. Bereits ab 18.1.1845 bot er mehrfach in Inseraten derartige Porträts an und erwähnte dabei die Unterstützung durch Tanner. Die anderen in Ffm. ansässigen Fotografen zogen nach, als erster
Jacob Seib, und übernahmen ebenfalls das neue Verfahren. Damit sorgte G. für die Verbreitung der Kalotypie in Ffm., und zwar in einem sehr frühen Stadium, denn in anderen deutschen Städten wurde die Papierfotografie erst etwas später eingeführt. Im April 1845 machte G. seine Kunden per Inserat darauf aufmerksam, dass er „einige Probebilder“ seiner Papierfotografien im Städelschen Kunstinstitut ausgestellt habe. Vermutlich nutzte er hier seine Kontakte zu den früheren Lehrern. Im Städel – damals noch in der Neuen Mainzer Straße – war der Direktor
Johann David Passavant schon früh an der Fotografie interessiert. Die Ausstellung von 1845 war die erste ihrer Art in Kunstmuseen in Deutschland und nach den Recherchen des Städel wahrscheinlich auch weltweit. In den Jahren danach stellte das Städel wiederholt Fotografien aus und erwarb später insbesondere Architektur- und Landschaftsfotografien als Lehrmaterial für die Städelschüler.
Im März 1846 übergab G. sein Atelier an
Carl Friedrich Vogel, der sich eine neue Existenz aufbauen wollte, und verließ Ffm. zusammen mit E. Tanner. In den Folgejahren traten sie als Partner unter der Bezeichnung „Gerothwohl & Tanner“ auf. Sie gingen zunächst nach Wien, wo sie im Mai 1846 in Zeitungsanzeigen um Kunden warben. Anschließend sind sie von November 1846 bis 1847 in Triest nachweisbar. Danach zogen sie nach Paris, Turin und später ab Januar 1852 nach Madrid, wie aus Inseraten in La Nación vom 23.1. und 5.4.1852 hervorgeht. Dort fielen ihre Porträts der Königsmutter auf; sie rief beide in den Palast, wo sie den König porträtieren konnten. Ab 1853 hielten G. und Tanner sich wieder in Paris auf und nahmen an der Weltausstellung 1855 teil. Für die dort gezeigten Porträts erhielten sie eine „Ehrenvolle Erwähnung“, und sie galten als bedeutende und angesehene Fotografen. Der Kontakt zu Ffm. bestand offenbar weiterhin. So werden in einem Artikel in der Didaskalia vom 3.6.1853 G.s „photographische Bilder in voller natürlicher Größe“ gewürdigt, und er wird als Mitbürger bezeichnet, der gegenwärtig in Paris weile; Tanner wird als Mitarbeiter erwähnt. Über die Zeit danach ist wenig bekannt. Beide sind jedenfalls – der weiteren Entwicklung folgend – auf das Albuminverfahren übergegangen und haben auch kleine Visitfotos hergestellt, wie ein in Paris erhaltenes Exemplar zeigt. Sie sollen ein Wanderleben geführt, später die Fotografie aufgegeben und sich wieder der Malerei zugewandt haben. G. war inzwischen wohlhabend geworden, auch durch den jeweiligen Verkauf ihrer örtlichen Ateliers, z. B. des Ateliers in Wien. Als Folge des Pariser Börsenkrachs 1882 soll er sein gesamtes Vermögen verloren und später in Kopenhagen „aus Not“ Suizid begangen haben. Das Todesjahr von G. ist nicht bekannt. Aus einem Artikel in der Photographischen Chronik vom 10.8.1902 ist zu schließen, dass er deutlich vor 1902, nämlich um 1890 bis 1895, gestorben sein dürfte. Tanner verlebte seine letzten Jahre in Innsbruck als Landschaftsmaler.
Einzelne Originale von G. haben sich erhalten im ISG (Bethmann-Archiv) und im Städel in Ffm., im Museum Ludwig (Agfa Foto-Historama) in Köln sowie in ausländischen Museen und in Privatbesitz.
Porträtaufnahmen von G. waren zu sehen in Ausstellungen in Köln 1979, im Haus Giersch 2003 und im Städel 2014.
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