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Würzburger, Siegfried

Siegfried Würzburger
Siegfried Würzburger am Klavier
Fotografie von Ken Ward (1936).
© Joyce Ward.
Würzburger, Siegfried. Organist. Musikpädagoge. Komponist. Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.* 29.5.1877 Ffm., † 12.2.1942 Ghetto Lodz („Litzmannstadt“).
Aus einer liberalen jüdischen Familie. Sohn des Kaufmanns Josef W. und dessen Ehefrau Amalie, geb. Brandeis. Der Vater verließ die Familie in den 1890er Jahren, um in die USA zu emigrieren.
Verheiratet (seit 1910) mit der aus Offenbach gebürtigen Lehrerin Gertrude W., geb. Hirsch (1889-1942), die aus einer jüdisch-orthodoxen Familie stammte und sich rasch den liberalen Vorstellungen ihres Mannes anschloss. Vier Söhne: Hans (1911-?), Walter (1914-1995), Paul Daniel (1918-2000) und Karl Robert W. (nach der Emigration: Kenneth Ward, 1922-2010).
W. war von Geburt an fast blind. Seine musikalische Begabung wurde früh erkannt und gefördert. Seit seinem 16. Lebensjahr studierte W. Orgel an Dr. Hoch’s Konservatorium in Ffm. In dessen Jahrbüchern ist er ab 1892/93 verzeichnet als Schüler von Heinrich Gelhaar (1835-1907), damals zugleich Organist an der Deutsch-reformierten Kirche in Ffm., und er trat mehrfach bei den öffentlichen Konzerten im Konservatorium auf. Er studierte Kontrapunkt bei Iwan Knorr und seit 1895 zusätzlich Klavier bei Lazzaro Uzielli (1861-1943), einem ehemaligen Schüler Clara Schumanns. Auf den Programmen der Vortragsabende, bei denen er mitwirkte, finden sich vor allem Kompositionen von Johann Sebastian Bach und Felix Mendelssohn Bartholdy auf der Orgel, er begleitete eine Sonate von Johannes Brahms auf dem Klavier und spielte als Pianist Werke von Frédéric Chopin und Johannes Brahms. Am 19.5.1897 legte W. nach neun Semestern sein erstes Prüfungskonzert an der Orgel ab; das zweite folgte 1898 mit Fantasie und Fuge g-Moll von Bach. Wichtige Impulse erhielt er auch von dem Dozenten Karl Breidenstein, dem Organisten an der Ffter St. Katharinenkirche, der seit 1895 allgemeine Musiklehre und Orgel am Konservatorium unterrichtete.
Im Jahresbericht für das Schuljahr 1903/04 wird W. nicht mehr als Student am Hoch’schen Konservatorium geführt. Er hatte dort eine gründliche Ausbildung in Orgel, Klavier, Gesang und Kontrapunkt genossen und ließ sich nun als Musiklehrer in Ffm. nieder, zunächst in der Lange Straße 63 (lt. Adr. 1905-12). Außerdem wirkte er als Organist an der im Herbst 1910 eingeweihten Westendsynagoge, wo er über eine hervorragende Orgel der Firma Walcker mit der Opuszahl 1535 verfügte. Für die besondere Bedeutung, die dem Orgelspiel im Gottesdienst in der liberalen Westendsynagoge zukam, spricht allein schon der zentrale Standort der Orgel auf einer Empore oberhalb des Thoraschreins.
Wohl bald nach seiner Heirat mit der Lehrerin Gertrude Hirsch (1910) richtete W. in einer geräumigen Wohnung in der Friedberger Landstraße 9 (unweit des Hessendenkmals) eine private Musikschule ein (erstmals im Adr. 1913). Dort erhielten jüdische und nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler eine ausgezeichnete Ausbildung in Musiktheorie, Gesang und Klavier. Um zu Hause Orgelunterricht geben zu können, ließ W. einen seiner Konzertflügel mit einem Pedal versehen. 1931 zog W. mit seiner Familie und der privaten Musikschule, die großen Zulauf hatte, in die Bockenheimer Landstraße 9 in unmittelbarer Nähe des Opernhauses. Die Familie führte ein weltoffenes Haus und veranstaltete zahlreiche Künstlerfeste. Gertrude W. lehrte Religion, Englisch und Französisch an der Holzhausenschule in Ffm. und war mit Edith Frank, geb. Holländer (1900-1945), der Mutter von Anne Frank, befreundet.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft, die W. mit Sorge beobachtete, meldeten sich nicht-jüdische Schülerinnen und Schüler nach und nach von der privaten Musikschule ab. Für W. und seine Familie ergaben sich dadurch große finanzielle Probleme. Der älteste Sohn, Hans W., arbeitete als Kaufmann in der Konfektionsfirma „Schwarzschild Ochs“ in Ffm. Der zweite Sohn, Walter W., studierte an der 1928 gegründeten Jazzklasse von Dr. Hoch’s Konservatorium bei Mátyás Seiber (1905-1960), emigrierte aber bereits 1933 zunächst nach Paris und schlug sich als Straßenmusiker durch; nach Übergangsstationen in Singapur und Australien ließ er sich 1950 in London nieder und wurde ein anerkannter Komponist verschiedener Genres, von der Unterhaltungsmusik über den Jazz bis zu Werken für Kammerensembles, Gesang und Orchester. Der dritte Sohn, Paul W., emigrierte 1939 nach Palästina und kehrte erst 1971 nach Deutschland zurück. Der Jüngste, Karl Robert W., musste 1936 die Wöhlerschule verlassen und zwangsweise auf das Philanthropin wechseln; er wurde am 24.8.1939 mit einem der letzten Kindertransporte nach England gebracht. Für W., seine Frau und den ältesten Sohn Hans kam eine Emigration nicht in Frage; dem Vater wurden aufgrund seiner Sehbehinderung und dem Sohn aufgrund einer chronischen Asthma-Erkrankung keinerlei Chancen im Ausland eingeräumt. Um 1939 war die Familie gezwungen, in die Bockenheimer Landstraße 73 umzuziehen (erstmals im Adr. 1940), wo sie in beengten Verhältnissen lebte.
In der NS-Zeit engagierte sich W. intensiv im Jüdischen Kulturbund. Ein bedeutender Schüler W.s jener Jahre war Herbert Fromm (1905-1995), der 1933 eigens nach Ffm. kam, um bei W. zu studieren und im Jüdischen Kulturbund in Ffm. mitzuwirken. W. initiierte dort auch die Aktion „Jugend musiziert“. W.s Schülerinnen und Schüler traten im Rahmen des Kulturbundes im gesamten Rhein-Main-Gebiet auf.
Nachdem die Westendsynagoge beim Novemberpogrom 1938 äußerlich zwar wenig zerstört, aber im Inneren verwüstet worden war, kam sie für den synagogalen Gottesdienst nicht mehr in Frage, weshalb W. auch die Orgel dort nicht mehr spielen konnte. Die letzte „religiös-musikalische Weihestunde“ der Ffter Israelitischen Gemeinde fand unter Mitwirkung von W. im Juni 1941 im Philanthropin statt. Mit der ersten Massendeportation aus Ffm. am 19.10.1941 wurde W. zusammen mit seiner Frau und seinem ältesten Sohn Hans ins Ghetto Lodz („Litzmannstadt“) verschleppt. W. starb dort am 12.2.1942 an Hunger und Entkräftung. Gertrude W. wurde 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet. Das weitere Schicksal von Hans W. ist unbekannt.
Bereits seit 1926 hatte W. die begabte Pianistin und Organistin Marthel (auch: Martel, Martha) Sommer (später verh. Hirsch, 1918-2011) unterrichtet, die 1936 eine Stelle als Organistin an der Wiesbadener Synagoge erhielt. Sie machte es sich zur Aufgabe, die liturgischen Kompositionen durch Abschriften vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten zu retten, und nahm sie 1939 mit ins Exil in die USA. Ihr ist zu verdanken, dass zumindest zwei Kompositionen von W. erhalten blieben: Passacaglia und Fuge über „Kol Nidre“ (UA 1934) und Passacaglia über „Moaus Zur“ (UA 1934). Beide liegen sowohl in der ursprünglichen Orgelfassung als auch in einer Klaviertranskription vor und wurden auf CD eingespielt (in der Klavierfassung von Angelika Nebel, 2021).
Seit 2006 Stolpersteine für Siegfried, seine Frau Gertrude und den Sohn Hans W. an der früheren Wohnadresse der Familie in der Bockenheimer Landstraße 9.
Anlässlich des 70. Jahrestags von W.s Deportation 2011 Gedenkkonzert in der St. Katharinenkirche in Ffm.

Artikel aus: Frankfurter Personenlexikon, verfasst von Ulrike Kienzle.
Artikel in: Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 576, verfasst von: Birgit Weyel.

Lexika: Martini, Joachim Carlos: Musik als Form geistigen Widerstandes. Jüdische Musikerinnen und Musiker 1933-1945. Das Beispiel Ffm. 2 Bde. Ffm. 2010.Martini, Bd. 1, S. 252, 293.
Literatur:
                        
Freise, Judith/Martini, Joachim: Jüdische Musikerinnen und Musiker in Fft. 1933-1942. Musik als Form geistigen Widerstandes. Begleitheft zur Ausstellung in der Paulskirche. Ffm. 1990.Martini/Freise: Jüd. Musiker 1990, S. 83. | Rieber, Angelika/Lieberz-Gross, Till (Hg.): Rettet wenigstens die Kinder. Kindertransporte aus Ffm. – Lebenswege von geretteten Kindern. Ffm. 2018.Giesen, Waltraud: „...sah ich meinen Vater zum ersten Mal in meinem Leben weinen“. Karl Robert Würzburger, später Kenneth Ward. In: Rieber/Lieberz-Gross (Hg.): Rettet wenigstens die Kinder 2018, S. 218-231. | Ward, Ken: …And Then The Music Stopped Playing. Suffolk 2006.Ward: And Then The Music Stopped Playing 2006.
Quellen: Adressbuch der Stadt Ffm., 1832-2003.Adr. 1905, T. I, S. 388; 1912, T. I, S. 534; 1913, T. I, S. 552; 1931, T. I, S. 826; 1932, T. I, S. 793; 1939, T. I, S. 815; 1940, T. I, S. 831. | ISG, Kirchen- bzw. Standesbücher: Heiratsbücher, Ffm., 1533-1848 bzw. 1849-1939.Eintrag der Heirat mit Gertrude Hirsch, Ffm., 3.11.1910: ISG, Kirchen- bzw. Standesbücher: Heiratsbuch, Bestand STA 11/438: Standesamt Ffm. V, Heiratsurkunde 1910/V/822 (Bd. 3, Bl. 237). | ISG, Dokumentationsmappe in der Sammlung S2 (mit Kleinschriften, Zeitungsausschnitten und Nekrologen zu einzelnen Personen und Familien).ISG, S2/14.468.
Internet: Bundesarchiv, Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, Onlineversion. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de996413 - https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de996377 - https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de996356 -
Hinweis: Einträge für Siegfried, Gertrude und Hans Würzburger.
Bundesarchiv, Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland, 7.10.2023.
| Ffter Bürgerstiftung im Holzhausenschlösschen, Ffm. https://www.frankfurter-buergerstiftung.de/informationen/mediathek/video/musikstadt-frankfurt-das-schicksal-siegfried-wuerzburger-179
Hinweis: Vortrag „Musikstadt Fft.: Das Schicksal Siegfried Würzburger. Leben, Untergang und Emigration einer assimilierten jüdischen Familie“ von Ulrike Kienzle, Mitschnitt der Veranstaltung vom 19.1.2023 in der Mediathek.
Ffter Bürgerstiftung, 8.10.2023.
| Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM), Projekt der Universität Hamburg (Musikwissenschaftliches Institut), hg. v. Claudia Maurer Zenck, Peter Petersen, Sophie Fetthauer u. Friedrich Geiger, ab 2005. https://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00003091
Hinweis: Artikel über Siegfried Würzburger, verfasst von Tina Frühauf, 2008 (aktualisiert am 9.4.2019).
Lex. verfolgter Musiker u. Musikerinnen d. NS-Zeit, 7.10.2023.
| Stadt Ffm., Hg.: Magistrat der Stadt Ffm., Ffm. https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtgeschichte/stolpersteine/stolpersteine-im-westend/familien/wuerzburger-gertrude-hans-und-siegfried
Hinweis: Stolperstein-Biographien im Westend: Würzburger, Gertrude, Hans und Siegfried.
Stadt Ffm., 8.10.2023.
| Stolpersteine in Ffm., Internetdokumentation der Initiative Stolpersteine in Ffm. e. V., Ffm. https://www.stolpersteine-frankfurt.de/media/pages/dokumentation/98f56efbda-1624115967/doku2006_neu.pdf
Hinweis: Initiative Stolpersteine Ffm., 4. Dokumentation 2006, S. 23.
Stolpersteine in Ffm., 8.10.2023.
| Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, Hg.: Wikimedia Foundation Inc., San Francisco/Kalifornien (USA). https://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_WürzburgerWikipedia, 8.10.2023.

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Empfohlene Zitierweise: Kienzle, Ulrike: Würzburger, Siegfried. In: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe), https://frankfurter-personenlexikon.de/node/1789

Stand des Artikels: 25.10.2023
Erstmals erschienen in Monatslieferung: 10.2023.