Hellmann, Johanna, gen. Hanna. Dr. phil. Philosophin und Literaturwissenschaftlerin. * 31.10.1877 Nürnberg, † nach 15.6.1942 vermutlich Vernichtungslager Sobibor (ermordet).
H. entstammte einer jüdischen Familie, deren Stammbaum sich mütterlicherseits bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Ihr Vater Lazarus H. (1846-1915) war Sohn eines Rabbiners und betrieb in Nürnberg eine Handelsfirma für Holzschnitzereien, die noch während der Schulzeit seiner Kinder in Konkurs ging. Die Mutter Rosalie H., geb. Hüttenbach (1849-1926), trug als Erzieherin zeitweise zum Familieneinkommen bei, konnte aber stets mit der finanziellen Unterstützung ihrer Verwandten aus Worms rechnen, wo H.s Großvater, ein bekannter Mäzen, eine Knopffabrik betrieb. Zwei Geschwister: Julius H. (1876-1939), Kaufmann, und
Lilly Gertrude H. (1885-1983), verheiratet (seit 1909) mit dem Ffter Philosophen
Carl Gebhardt. Der Sohn von Lilly und
Carl Gebhardt, H.s Neffe, war der Bildhauer
Hans Bernt Gebhardt. Julius und Hanna H. traten nach dem Ersten Weltkrieg aus der Israelitischen Gemeinde aus.
H.s Ausbildungsgang verlief aufgrund der seinerzeit vorherrschenden Bildungsbenachteiligung von Frauen diskontinuierlich. In Nürnberg besuchte sie zunächst eine konfessionell nicht gebundene Grundschule, an der sie aufgrund ihrer Hochbegabung ein Schuljahr übersprang, und danach das Port’sche Töchterinstitut, eine städtische Mittelschule für Mädchen. H. war wie ihr Vater sehr musikalisch und erhielt zusammen mit ihrem Bruder Klavierunterricht. 1895 legte sie am Prinzessin-Wilhelm-Stift, einem Lehrerinnenseminar in Karlsruhe, wo sie im angeschlossenen Internat lebte, die Lehrprüfung für Elementarschulen ab. 1898 bestand sie dort das Examen für den Unterricht an höheren Schulen. Danach wollte H. studieren und bereitete sich – gegen den Wunsch des Vaters – im Selbststudium und durch Privatunterricht auf die Reifeprüfung in den Gymnasialfächern in Latein, Griechisch und Mathematik vor. Aufgrund von Krankheit legte sie die Prüfung nicht ab. Zwischen den Wintersemestern 1903/04 und 1906/07 war sie abwechselnd an den Universitäten Berlin (zwei Semester) und Heidelberg (vier Semester) als Gasthörerin immatrikuliert, wobei in Preußen eine Promotion aufgrund der Zugangsbeschränkungen für Frauen zum Studium nicht möglich war. Ihre Studienfächer waren Philosophie, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte und Nationalökonomie. Nach der vergeblichen Suche nach einem Doktorvater an der Universität Heidelberg ging H. in die in Fragen des Frauenstudiums fortschrittlichere Schweiz, wo sie sich im Sommersemester 1907 an der Universität Bern und im Wintersemester 1907/08 an der Universität Zürich einschrieb. 1909 wurde sie an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich mit einer Arbeit über Heinrich von Kleist promoviert; ihr Betreuer war der Schweizer Schriftsteller und Literaturhistoriker Adolf Frey (1855-1920), der in Zürich einen Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte innehatte und ihr Liebesgedichte widmete. Ihre Prüfungsfächer waren Psychologie, Philosophie und deutsche Literaturgeschichte. Die schon vor der Promotion veröffentlichte Dissertation, in der sich H. als erste mit Kleists bis dahin wenig beachtetem Text „Über das Marionettentheater“ beschäftigte, erlebte aufgrund der großen Resonanz, die sie in Fachkreisen auslöste, insgesamt drei Auflagen („Heinrich von Kleist. Das Problem seines Lebens und seiner Dichtung“, 1908, 1910; überarb. Fassung u. d. T. „Heinrich von Kleist. Darstellung des Problems“, 1911).
Bald nach ihrer Promotion ging H. nach Ffm., wo sie anfänglich bei ihrer Studienfreundin aus der Heidelberger Zeit, der promovierten Philosophin Elisabeth Schmitt (1877-?), im Röderbergweg 63 wohnte, unweit der Wohnung der Familie Gebhardt im Röderbergweg 170 (bis 1932). Im Ersten Weltkrieg war sie in der Kriegsfürsorge tätig und gründete zusammen mit ihrem Schwager
Carl Gebhardt, dem sie seit der Heidelberger Studienzeit freundschaftlich verbunden war, eine Lazarett-Zeitung. Am 30.9.1916 fiel ihr Geliebter Hans Meidlein. Der promovierte Diplom-Ingenieur war einige Jahre jünger als H. und stammte aus Nürnberg. Sie reagierte auf seinen Tod mit einer psychischen Krise und monatelangem Rückzug. Nach dem Tod des Vaters nahm sie ab 1917 eine Wohnung in der Luxemburgerallee 36, wo sie fortan mit ihrer aus Nürnberg übergesiedelten Mutter und einer langjährigen Haushälterin lebte und mit den um die Ecke wohnenden Gebhardts eine Art Großfamilie bildete. H., die stets Reformkleidung trug, führte in Ffm. das Leben einer modernen, unverheirateten Intellektuellen. Sie entschied sich gegen eine Habilitation, publizierte aber in angesehenen Fachzeitschriften (u. a. in der „Germanisch-Romanischen Monatsschrift“ und in „Euphorion“, 1922-25) philosophisch-literaturwissenschaftliche Aufsätze über die Romantik, Heinrich von Kleist sowie den Ffter Schriftsteller und
Goethe-Freund
Friedrich Maximilian Klinger. Außerdem schrieb sie gelegentlich für die Ffter Zeitung (u. a. „Penthesilea“, 25.11.1911, und „Bergson und Deutschlands Krieg der Freiheit“, 20.8.1914) und hielt weltanschaulich-philosophische Vorträge im Rahmen des Ffter Ausschusses für Volksvorlesungen, u. a. einen Zyklus zum Thema „Träume und ihre Deutung“ (1920). Gleichzeitig war sie Dozentin am 1914 gegründeten Frauenseminar für soziale Berufsarbeit, einer Vorläuferinstitution des heutigen Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit der Fft. University of Applied Sciences. Ihre Vorlesungen dort trugen Titel wie „Die deutsche Romantik“, „Ethische Grundanschauungen bei
Goethe und in der neueren Dichtung“ und „Einführung in die Sozialliteratur“.
H. war mit Gertrud Bäumer (1873-1954) und Helene Lange (1848-1930) bekannt und schrieb für die von ihnen herausgegebene Zeitschrift „Die Frau“ einen Artikel über „Frauenstimmrecht, Krieg und Frieden“ (August 1919). Im Hause von
Carl Gebhardt, der den geistigen Austausch mit H. schätzte, begegnete sie bedeutenden Wissenschaftlern, Gelehrten und Künstlern aus dem In- und Ausland, u. a. Else Lasker-Schüler,
Albert Schweitzer, Stanislaus von Dunin-Borkowski (1864-1934) und
Martin Buber, dessen „Chassidische Bücher“ (1928) sie besonders hochachtete. Mit
Gebhardt besuchte sie zweimal den Philosophen Henri Bergson (1859-1941) in Frankreich. Zu ihrem Freundeskreis gehörten außerdem ihr Vetter, der Arzt Friedrich Hüttenbach (1880-?), die Ethnologin Ida Lublinski (1862-1942), mit der sie 1913/14 in Briefwechsel stand, sowie die Schriftstellerin Franziska Mann (1859-1927), die Schwester des Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868-1935). Auch Briefe an Paul Geheeb (1870-1961) und dessen Frau Edith, geb. Cassirer (1885-1982), die Gründer der Odenwaldschule in (Heppenheim-)Ober-Hambach, sind überliefert.
H. wird als eine hochintelligente, charismatische Persönlichkeit beschrieben, die sich ihrer besonderen Begabungen bewusst war. Mit jüngeren Menschen, insbesondere Frauen, pflegte sie intensive Freundschaftsbeziehungen auf Augenhöhe. Zugleich galt sie als widersprüchlich, schwankte zwischen aufopferungsvoller Hingabe und Überempfindlichkeit. Ihr Denken war einerseits rational, kritisch und nüchtern, andererseits war sie – jenseits konfessioneller Bindungen – gegenüber mystischen und religiösen Erfahrungen aufgeschlossen. Nach dem Tod der Mutter, zu der sie eine intensive Beziehung hatte, stellten sich bei ihr in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Persönlichkeitsveränderungen ein. H. besuchte häufig das mütterliche Grab auf dem Hauptfriedhof, brach Beziehungen ab und zog sich sozial und emotional zunehmend zurück. Später hatte sie ekstatische Visionen, sprach zeitweise in Versen oder sang. Ihrem ledigen Bruder Julius H., der 1928 zu ihr in die Wohnung in der Luxemburgerallee 36 zog und sie finanziell unterstützte, führte sie den Haushalt. 1937 wurde Julius H. von den Eltern seiner englischen Freundin wegen „Rassenschande“ angezeigt. Obwohl von dem Vorwurf freigesprochen, behielt ihn die Ffter Gestapo ab dem 19.8.1937 in Schutzhaft. Er wurde am 22.1.1938 in das KZ Dachau eingeliefert und von dort am 22.9.1938 in das KZ Buchenwald überstellt, wo er am 2.1.1939 starb.
Im Mai 1938 wurde H. aufgrund einer antisemitisch motivierten Denunziation durch einen neuen Nachbarn, den NSDAP-Kreisleiter Otto Schwebel (1903-1976), verhaftet und zwangsweise in die Nervenklinik der Stadt und Universität Ffm. eingewiesen. Anschließend wurde durch ein amtsärztliches Gutachten ihre Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie angeordnet. Am 21.8.1938 kam H. dank der Unterstützung ihrer Schwester Lilly Gebhardt zunächst in das private anthroposophische Sanatorium Wiesneck bei Freiburg im Schwarzwald. Als man dort keine jüdischen Patienten mehr behandeln durfte, wurde H. am 31.7.1939 in die Jacoby’sche Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke, ein jüdisches Privatkrankenhaus, in Bendorf-Sayn bei Koblenz überführt. Am 14.6.1942 wurden H. und weitere Personen aus der Heilanstalt (circa 250 Patientinnen und Patienten sowie 80 Ärzte, Krankenschwestern und Bedienstete) in neun bereitstehende Güterwagen auf dem Bahnhof Bendorf-Sayn verbracht. Der Deportationszug verließ einen Tag später Köln-Lützel und endete schließlich im Vernichtungslager Sobibor.
Eine Kiste mit Schriften von H. wurde bei der Zwangsräumung ihrer Wohnung in der Luxemburgerallee 36 zunächst gerettet, ging dann aber wahrscheinlich während des Krieges verloren, zumal die Schwester Lilly Gebhardt am 19.1.1944 in das Lager Theresienstadt deportiert wurde und erst nach Kriegsende nach Ffm. zurückkehrte. Doch ein Großteil von H.s unzähligen Zeichnungen wurde 1995 bei der Auflösung der Wohnung ihres Neffen
Hans Bernt Gebhardt vor der Vernichtung bewahrt. Mit Hilfe der Zeichnungen, die in der Zeit ihrer Klinikaufenthalte entstanden sind, kommunizierte H. mit der Außenwelt, insbesondere mit ihrer Schwester. H. zeichnete vorwiegend expressiv-farbige Blumenmotive, die sie mit Pastellkreide auf Butterbrotpapier festhielt. Die Materialien dafür bekam sie von ihrer Schwester, die stets Kontakt zu ihr hielt und die Aufenthalte in den privaten Kliniken finanzierte. Seit 2016 befinden sich die rund 1.800 Blätter in der Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikum Heidelberg. Sie wurden in Auswahl in verschiedenen Ausstellungen gezeigt.
Seit 2020 Stolpersteine für Hanna und Julius H. vor dem Haus Luxemburgerallee 36 im Ostend.
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