Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,
vor 90 Jahren, am 12. März 1933, gab es in Frankfurt eine Kommunalwahl. Wenige Wochen nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland konnten die Frankfurter Bürgerinnen und Bürger noch einmal, zum letzten Mal für lange Jahre, eine Stadtverordnetenversammlung wählen. Die NSDAP erhielt damals eine Mehrheit von 47,9 % der Stimmen. Am Tag nach der Wahl wurde die Hakenkreuzflagge auf dem Römer gehisst. Das nationalsozialistische System etablierte sich auch in Frankfurt. Eine von vielen, die künftig im Untergrund gegen den Nationalsozialismus und sein menschenverachtendes Regime arbeiteten, war die Frankfurterin Anna Beyer, der der diesmalige Artikel des Monats gilt.
Artikel des Monats März 2023:
Die Frau mit dem Koffer
Sie war eine der wenigen bekannten Frauen im Frankfurter Widerstandsnetzwerk gegen den Nationalsozialismus: Anna Beyer. Schon bei Beginn ihrer kaufmännischen Lehre im Inflationsjahr 1923 hatte sich die 14-Jährige aus sozialdemokratischem Elternhaus der Gewerkschaft angeschlossen. Von der Sozialistischen Arbeiterjugend wechselte sie später zum Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), der sich bereits seit 1931 auf die Untergrundarbeit gegen einen möglichen nationalsozialistischen Staat vorbereitete.
Seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 kämpfte Anna Beyer mutig und unter dem Einsatz ihres Lebens gegen das NS-Regime. Sie verteilte etwa an der Hauptwache Flugblätter des ISK und ging nachts mit einem präparierten Koffer durch die Frankfurter Straßen und über den Eisernen Steg. Überall, wo sie den Koffer kurz abstellte, hinterließ er den Abdruck einer Parole wie „Weg mit Hitler“, der, weil mit einer speziellen Entwicklerflüssigkeit gestempelt, aber erst im Sonnenlicht am nächsten Tag sichtbar wurde und nur schwer zu entfernen war. Seit 1935 führte Anna Beyer eine vegetarische Gaststätte im Steinweg, die der Finanzierung des Widerstands und als Anlaufstelle für den ISK diente. Als die Gaststätte ins Visier der Gestapo geriet, floh Anna Beyer über Belgien nach Frankreich, von wo aus sie ihren Kampf gegen das NS-Terrorregime fortsetzte, ebenso wie im späteren Exil in England und der Schweiz.
Kurz nach Kriegsende kehrte Anna Beyer in ihre Geburtsstadt Frankfurt zurück. Hier half sie, die SPD wieder zu gründen, und als Vertreterin ihrer Partei wurde sie im September 1945 in den Frankfurter Bürgerrat berufen. Im Mai 1946 wurde sie in die erste Frankfurter Stadtverordnetenversammlung der Nachkriegszeit gewählt, der sie bis 1948 angehörte. Beruflich war sie seit 1946 als Referentin für die hessische Landesregierung tätig, zunächst in der Hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden. Zuletzt Referentin für Frauen-, Mütter-, Kinder- und Jugendarbeitsschutz im Hessischen Sozialministerium, ging sie 1974 als Regierungsdirektorin in den Ruhestand. Bis ins hohe Alter engagierte sie sich für Frauenrechte, in der Erwachsenenbildung und im Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte. Ihre 1991 erschienene Autobiographie, die sich spannend wie ein Spionageroman liest, trägt als Titel das Motto von Anna Beyer: „Politik ist mein Leben“.
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Von zwei Wissenschaftlerkarrieren, die in Deutschland unter dem Druck des Regimes in der NS-Zeit abgebrochen wurden, berichten die Artikel über den Malakologen Fritz Haas und über den Astrophysiker Wolfgang Gleissberg. Der gebürtige Frankfurter Fritz Haas wurde als langjähriger Kustos der Abteilung für wirbellose Tiere am Senckenbergmuseum 1936 entlassen, weil er jüdischer Religion war. Der international renommierte Weichtierforscher konnte 1938 an das Field Museum in Chicago gehen, wo er die malakologische Abteilung und deren Fachbibliothek aufbaute. Sein 1969 erschienenes Hauptwerk, eine umfangreiche Monographie über die „Superfamilia Unionacea“, die Familie großer Süßwassermuscheln, basierte auch auf Forschungen aus seiner Frankfurter Zeit.
Der Breslauer Wolfgang Gleissberg, der nach seiner Promotion im Fach Mathematik 1930 weiterhin an der Sternwarte der Universität in seiner Heimatstadt tätig war, wurde aufgrund des „Berufsbeamtengesetzes“ 1933 entlassen und emigrierte in die Türkei, um an der Schaffung des modernen türkischen Hochschulwesens unter Atatürk mitzuarbeiten. So baute er das Institut für Astonomie und dessen Sternwarte an der Universität Istanbul mit auf und verfasste ein Lehrbuch für Astronomie in türkischer Sprache. Ende der 1950er Jahre entschloss sich Gleissberg zur Rückkehr nach Deutschland. Seit 1958 lehrte er als Honorarprofessor an der Frankfurter Universität, und von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1977 leitete er deren Astronomisches Institut. Es ist ihm wesentlich zu verdanken, dass die Astrophysik nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß an der Frankfurter Hochschule fassen konnte.
Unabhängig vom historischen Gedenken und vom aktuellen Geschehen steht immer im März der Frühlingsbeginn an, und egal, ob Sie den Frühling nun nach meteorologischer, kalendarischer oder phänologischer Sicht anfangen möchten, wünsche ich Ihnen einen guten und sonnigen Start, der den trüben Winter bald vergessen lassen möge.
Mit schönen Frankfurter Frühlingsgrüßen
Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons
P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. April 2023.