Der Vater Georg Gottfried G. (1765-1837) war Gerber, Lederhändler und Gastwirt in Darmstadt. Die Mutter Anna Maria Margarete G., geb. Schwarz (1772-1837), stammte aus einer oberhessischen Glaserfamilie. Von den acht Geschwistern erreichte nur ein Bruder das Erwachsenenalter.
G. verließ das Darmstädter Pädagog (Gymnasium) mit 14 Jahren, um einen kaufmännischen Beruf zu erlernen. Nach kurzer Tätigkeit in der Buchhandlung Adolph Marcus in Bonn trat er 1820 in die Darmstädter Mode- und Schnittwarenhandlung von Ludwig Schwab ein. Neben dem Kaufmannsberuf widmete er sich literarischen Interessen und poetischen Schwärmereien, die er u. a. mit seinen Jugendfreunden
Georg Ludwig Kriegk und
Friedrich Maximilian Hessemer teilte, und er erwog vorübergehend sogar, Schauspieler zu werden. Mit einem strengen Selbststudium erreichte G. gegen alle Widerstände 1825 schließlich die Immatrikulation an der Universität Gießen, um Philosophie und Philologie zu studieren. Auf Anraten von
Kriegk wechselte er an die Universität Heidelberg, wo er unter seinem akademischen Lehrer und Förderer
Friedrich Christoph Schlosser den Weg zum Historiker fand. Von Ende 1827 bis Anfang 1829 unterrichtete G. an dem privaten Erziehungsinstitut für Knaben von Friedrich Gutermann (1798-1882) in Ffm. Anschließend war er ein Jahr als Hauslehrer in Heidelberg tätig, bevor er sich dort 1830, nach seiner Promotion (1829), habilitierte.
Als Historiker sah sich G. – nicht zuletzt unter dem Einfluss seines Lehrers
Schlosser – Liberalismus und Nationalismus als den zentralen bürgerlichen Ideen seiner Zeit verpflichtet. Vor dem Hintergrund der Restaurationspolitik im Deutschen Bund und politischer Ereignisse wie der französischen Julirevolution von 1830 versuchte er, einen Beitrag zum Nationsbildungsprozess und Nationalbewusstsein der Deutschen zu liefern, u. a. mit seiner einflussreichen „Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen“ (Titel der Bände 4 und 5: „Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen“; ges. 5 Bde., 1835-42). Schon das Erscheinen des ersten Bands führte 1835 zu seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor in Heidelberg und schließlich, gefördert durch Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860), zu seiner Berufung als Ordinarius nach Göttingen. Dort gehörte G. 1837 zu den „Göttinger Sieben“, einer Gruppe von sieben Universitätsprofessoren, die gegen die Aufhebung der liberalen Verfassung durch König Ernst August I. von Hannover (1771-1851) protestierten und daraufhin entlassen wurden; drei von ihnen – Dahlmann,
Jacob Grimm und G. – wurden zudem des Landes verwiesen. In seinem Bestreben, den Protest und den anschließenden Prozess öffentlichkeitswirksam zu nutzen, wurde G. von dem Ffter Advokaten
Maximilian Reinganum juristisch unterstützt.
Nach seiner Rückkehr nach Heidelberg 1838 setzte G. die Arbeit an seiner Literaturgeschichte fort, unternahm eine längere Italienreise und lehrte seit 1844 wieder als Honorarprofessor an der Universität. Bedingt auch durch seine wachsende Bekanntheit, widmete er sich verstärkt tagespolitischen Themen. Eine Wahl in die badische Zweite Kammer hatte er 1845 jedoch abgelehnt. G. war einer der Organisatoren der Ersten Germanistenversammlung im September 1846 in Ffm. Sein publizistischer Erfolg führte ihn in die Reihen der 1847 in Heidelberg gegründeten liberalen Deutschen Zeitung. Er gehörte mit Karl Mittermaier (1787-1867), Ludwig Häusser (1818-1867), Karl Mathy (1807-1868) u. a. zu deren Herausgebern. Als verantwortlicher Redakteur prägte er maßgeblich Gestalt und Inhalt des Blatts, nicht zuletzt durch zahlreiche Leitartikel.
Im Zuge der Revolution von 1848 war G. zunächst in einigen Versammlungen und Gremien vertreten, etwa in der Heidelberger Versammlung (5.3.1848), im Ffter Vorparlament (31.3.-3.4.1848) und als Vertreter der Freien Städte im Siebzehnerausschuss des Bundestags zur Vorbereitung einer Revision der Bundesverfassung in Ffm. (März/April 1848). Als Abgeordneter für den preußischen Wahlkreis Provinz Sachsen 4 (Wanzleben) wurde G. in die Nationalversammlung gewählt, wo er sich der Casino-Fraktion anschloss; seit dem 29.5.1848 gehörte er dem Ausschuss für völkerrechtliche und internationale Fragen an. Am 31.7.1848 gab er sein Mandat auf und kommentierte seitdem die Ereignisse nur noch im Rahmen seiner publizistischen Tätigkeit für die Deutsche Zeitung. Er begründete seinen Rücktritt mit seiner schlechten Gesundheit, wohinter sich jedoch eine tiefe Enttäuschung über die Nationalversammlung und deren Wirken verbarg. Schon zu Beginn der Revolution hatte G. immer wieder mäßigend für eine Vereinbarungslösung zwischen den Fürsten bzw. den Regierungen des Deutschen Bundes und den liberalen bürgerlichen Kräften geworben. Die Heidelberger Erklärung und die Konstituierung des Vorparlaments hatte er in der Deutschen Zeitung skeptisch kommentiert. Auch vielen Beschlüssen der Nationalversammlung stand er kritisch gegenüber und lehnte etwa
Gagerns „kühnen Griff“ – die Wahl einer provisorischen Zentralgewalt durch das Parlament – ab. In seinem Eintreten für eine Politik der Vereinbarung war G. durch eine Angst vor einer Ausweitung der Revolution durch radikale Kräfte motiviert, und er befürchtete eine Brüskierung und dadurch ausgelöste Reaktion der Fürsten. Die von ihm gewünschte zügige Schaffung eines geeinten, macht- und außenpolitisch handlungsfähigen Nationalstaats sah G. zunehmend durch die politische Zersplitterung innerhalb des Parlaments und die Kompetenzstreitigkeiten mit den deutschen Staaten in Gefahr. So kritisierte er die langen Debatten um die Grundrechte, deren Einführung er lieber den Einzelstaaten überlassen hätte. In der Schleswig-Holstein-Frage aber lehnte er den Waffenstillstand von Malmö zwischen Preußen und Dänemark ab. Während er sich für einen Ausschluss Österreichs aussprach, zeigte sich G. über die Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) enttäuscht, denn in Preußen erblickte er, trotz aller Kritik an dessen innenpolitischen Zuständen, die führende deutsche Macht auf dem Weg zu einem geeinten Nationalstaat. Nachdem im Frühjahr 1849 viele seiner Hoffnungen nicht erfüllt worden waren, kam es bei G. wiederum, ähnlich wie bei seinem „Rechtsruck“ zu Beginn der Revolution, zu einer radikalen Umkehr seines Denkens. Enttäuscht vom politischen Agieren des liberalen Bürgertums und der Fürsten plädierte er jetzt für eine revolutionäre Umwälzung, um dadurch die verfahrenen Zustände grundlegend zu verändern. Damit trennte er sich endgültig von seinen früheren liberalen Mitstreitern. Bereits im März 1849 hatte er den Antrag Welckers, das Parlament solle die Reichsverfassung in einem Gesamtbeschluss annehmen, publizistisch begrüßt, und er zeigte anfänglich Sympathien für die Badische Revolution. Das Gothaer Nachparlament im Juni 1849 lehnte G. ab, da er, nachdem er seine Hoffnungen auf eine Führungsrolle Preußens begraben hatte, nun eine Art Föderation für Deutschland wünschte.
Diese Überzeugungen ließ G. auch in der Anfang 1853 erschienenen „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ erkennen, worin er das Ende der Monarchie postulierte. Das brachte ihm einen Hochverratsprozess ein. Zwar wurde das Verfahren in der Revision vor dem Oberhofgericht in Mannheim eingestellt, aber G. wurde die Lehrbefugnis entzogen. In den folgenden Jahren widmete er sich vor allem der Arbeit an dem Werk zur „Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen“ (8 Bde., 1855-66). Von seinen Fachgenossen und Teilen der bürgerlichen Nationalbewegung isoliert, lehnte G. eine Mitgliedschaft im 1859 in Ffm. gegründeten Nationalverein ab; allerdings sympathisierte er zunächst mit den badischen Bundesreformplänen Franz von Roggenbachs (1825-1907) und war für die badische Regierung tätig. Seine Aversionen gegen Preußen und die Politik
Bismarcks begründeten seine Ablehnung des Norddeutschen Bundes und der Reichsgründung von 1871. Das neue Reich sah G. als einen Ausdruck zentralistischer, preußischer Hegemonie und als eine Gefahr für den Frieden in Europa.
Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien (seit 1848) und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (seit 1863).
Weitere Werke: „Grundzüge der Historik“ (1837), „Shakespeare“ (4 Bde., 1849-50) u. a.
Autobiographie (1860, posthum erschienen unter dem Titel „Georg Gottfried Gervinus’ Leben. Von ihm selbst“ 1893).
G. war in kinderloser Ehe seit 1836 mit Victoria (auch: Victorie) G. (1820-1893), Tochter des Heidelberger Professors, Mediziners und Botanikers Franz Joseph Schelver (1778-1832), verheiratet. Zusammen förderten sie die Verbreitung der Musik von Georg Friedrich Händel (1685-1759), u. a. durch private Aufführungen in Heidelberg und durch Übersetzungen, die teilweise Victoria G. nach dem Tod ihres Mannes mit dessen Schriften herausgab.
Teilnachlässe u. a. in der Universitätsbibliothek Heidelberg und dem Bundesarchiv Berlin.
G.straße im Westend.
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Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 248,
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