Neuerscheinungen vom 10. Oktober 2023

Einleitung: 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

jede Lebensgeschichte hat ihre Zeit. Wenn die Geschichte neu erzählt wird, zeigt es sich oft, ob sie in die Gegenwart passt oder ob sie, zumindest für den Moment, der Vergangenheit angehört. Zu den Geschichten, die es immer und gerade jetzt zu berichten gilt, gehören die Biographien zweier mutiger Frauen in der aktuellen Lieferung des Frankfurter Personenlexikons. Beide Frauen setzten, jede auf ihre Weise, ihr Leben im Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime ein. Eine von beiden war bisher noch gar nicht im Frankfurter Personenlexikon vertreten. Ihr ist daher der diesmalige Artikel des Monats gewidmet.

Artikel des Monats Oktober 2023:
Vertrauen und Mut im Widerstand

Sie war die erste Frau mit einer Pfarrstelle in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau: Katharina Staritz. In ihrer Heimatstadt Breslau war die vollausgebildete Theologin ab 1932 mit Sonderaufgaben in der Jugend- und Frauenarbeit sowie in der Krankenhausseelsorge betraut worden. Erst im Alter von 35 Jahren konnte sie 1938 als „Stadtvikarin“ eingesegnet werden, während der Titel „Pfarrer“ mit dem Recht, den Gottesdienst zu halten und darin zu predigen, ihren männlichen Kollegen vorbehalten blieb. Im Auftrag der Bekennenden Kirche leitete Katharina Staritz seit Ende 1938 eine Hilfsstelle für evangelische Christen jüdischer Herkunft. Etwa 100 Menschen verhalf sie damals zur Auswanderung.
Als im September 1941 eine Polizeiverordnung alle Jüdinnen und Juden ab dem sechsten Lebensjahr zum Tragen des „Gelben Sterns“ verpflichtete, erinnerte Katharina Staritz in einem amtlichen Rundbrief die Breslauer Pfarrer an ihre seelsorgliche Verantwortung für die getauften Jüdinnen und Juden. Sie sollten zu diesen Gemeindegliedern stehen und sie nicht vom Gottesdienst ausschließen. Daraufhin wurde S. vom Dienst suspendiert und musste Breslau verlassen. Sie fand zunächst Zuflucht in Marburg, wurde jedoch im März 1942 von der Gestapo verhaftet. Nach einem Monat im Polizeigefängnis in Kassel und zwei Monaten im Arbeitserziehungslager Breitenau kam sie als politische Gefangene in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Ihre Entlassung im Mai 1943 verdankte sie ihrer Schwester Charlotte, die sich bei kirchlichen und staatlichen Behörden mutig und beharrlich für sie eingesetzt hatte.
Im Januar 1945 mit Mutter und Schwester nach Marburg geflüchtet, wurde Katharina Staritz 1949 von Martin Niemöller nach Frankfurt geholt, wo sie als erste ordinierte Theologin in ein Beamtenverhältnis bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) übernommen wurde. Als Stadtvikarin war sie ab 1950 für die evangelische Frauenarbeit in Frankfurt zuständig, und sie bekam endlich das hartnäckig von ihr eingeforderte Recht, den Gottesdienst zu halten, zu predigen und die Sakramente zu verwalten, wobei sie nun auch einen Talar tragen durfte. Der Titel „Pfarrerin“ blieb ihr jedoch bis zu ihrem frühen Tod 1953 verwehrt.
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Schluss: 

Dass Katharina Staritz als erste Frau in Frankfurt den evangelischen Gottesdienst halten durfte, verdankte sie vor allem Pfarrer Wilhelm Fresenius, der sie – anders als die anderen männlichen Kollegen – im Amt auf Altar und Kanzel akzeptierte und als Vikarin an der St. Katharinengemeinde aufnahm. Obwohl ihre Amtsnachfolgerin Gerlind Schwöbel seit den 1980er Jahren unermüdlich an Katharina Staritz erinnerte und schließlich deren Biographie veröffentlichte, lehnte die St. Katharinengemeinde damals eine Gedenktafel für Staritz ab, nach langwierigen Diskussionen mit teilweise hanebüchenen Argumenten, wie z. B. dass Katharina Staritz ja gar nicht in der St. Katharinenkirche gepredigt habe, weil das kriegszerstörte Gotteshaus erst nach dem Wiederaufbau ab 1954 zur Verfügung gestanden hätte.
Immerhin blieb die Grabstätte der vor 70 Jahren verstorbenen Theologin auf dem Bockenheimer Friedhof erhalten. Derzeit plant die Kirchengemeinde Bockenheim, das Grab von Katharina Staritz in eine projektierte Gemeinschaftsgrabstätte zu integrieren; in diesem Zuge sollen das Grabmal restauriert und eine Infotafel aufgestellt werden.

Das Gedenken an Rose Schlösinger, die zweite Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime, über die in diesem Monat ein neu bearbeiteter Artikel im Frankfurter Personenlexikon erscheint, wird in Frankfurt traditionell gepflegt. So erinnert an sie seit 1994 eine Gedenktafel an ihrem Geburtshaus Münzenberger Straße 4 im Frankfurter Nordend. Auch im 1996 erschienenen zweiten Band der „Frankfurter Biographie“ war Rose Schlösinger bereits mit einem Artikel vertreten. Rose Schlösinger, Tochter der linken Sozialdemokratin Sophie Ennenbach, musste ihre Heimatstadt Frankfurt in der NS-Zeit notgedrungen verlassen, engagierte sich später in Berlin zusammen mit ihrem Mann Bodo Schlösinger in einer Widerstandsgruppe der „Roten Kapelle“ und wurde vor 80 Jahren, am 5. August 1943, im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Dieser Tage ist eine neue Biographie über Rose und Bodo Schlösinger erschienen, die sich auf umfangreiches und bisher unveröffentlichtes Quellenmaterial aus dem Nachlass Schlösinger-Ennenbach-Sideri (jetzt in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin) stützt, darunter die bewegenden Briefe von Rose Schlösinger aus der Haft. Der Verfasser Gerhard Hochhuth hat auf dieser Quellenbasis auch den neuen, grundlegend überarbeiteten und ergänzten Artikel über Rose Schlösinger für das FP geschrieben. Sein Buch stellt er während des Lesefests „Open Books“ zur Frankfurter Buchmesse am 21. Oktober 2023 im Historischen Museum vor.

Zu den Biographien aus der NS-Zeit in der aktuellen Monatslieferung gehört auch der Beitrag über den Organisten, Musikpädagogen und Komponisten Siegfried Würzburger, der fast 30 Jahre lang als Organist an der Westendsynagoge wirkte, bis zu deren innerer Zerstörung beim Novemberpogrom 1938. Würzburger wurde mit dem ersten Deportationszug aus Frankfurt im Oktober 1941 in das Ghetto Lodz („Litzmannstadt“) verschleppt, wo er wenige Monate später an Hunger und Entkräftung starb. Der gegenüber der Buchfassung wesentlich ergänzte Artikel, der jetzt im Frankfurter Personenlexikon an Siegfried Würzburger erinnert, setzt zugleich die Serie der Musikerartikel fort, die im Rahmen der Kooperation mit dem Projekt „Musikstadt Frankfurt“ der Frankfurter Bürgerstiftung entsteht.

An die in den vorigen Lieferungen erschienenen Künstlerbiographien des 20. Jahrhunderts, etwa über Christian Dell und Richard Martin Werner, die angesichts der affirmativen Haltung der Dargestellten zum Nationalsozialismus kritisch zu lesen sind, knüpft die Neufassung des Artikels über den Maler Rudolf Gudden an. Gudden, der seit den 1880er Jahren sein Atelier in Frankfurt hatte, galt aufgrund seiner freien Auffassung in der Landschaftsmalerei als Wegbereiter der Moderne; zudem war er ein gesuchter Auftragsmaler von Porträts. In zahlreichen Häusern der besseren Frankfurter Gesellschaft hingen seine Bilder. Neuere Recherchen haben ergeben, dass Gudden sich schon früh der nationalsozialistischen „Bewegung“ anschloss und sich im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ ab 1933 nicht scheute, seine Kollegen zu denunzieren. Abschließende Forschungen zu seiner Biographie, nicht nur in der NS-Zeit, stehen noch aus.

Als der Lyriker Horst Bingel in seinem Gedicht „Wir suchen Hitler“ 1965 in der FAZ den Umgang der Nachkriegsgesellschaft mit ihrer NS-Vergangenheit kritisierte, löste er einen solchen Sturm der Entrüstung aus, dass die Feuilletonredaktion der Zeitung eine eigene Poststelle zur Bearbeitung der Protestbriefe eingerichtet haben soll. Bingel, der von 1957 bis 1969 Herausgeber der „Streit-Zeit-Schrift“ war, gründete auch das „Frankfurter Forum für Literatur e. V.“ (1965), mit dem er in den Zeiten des Kalten Krieges internationale Autorentreffen zwischen West und Ost organisierte. In den 1960er und 1970er Jahren veranstaltete der Schriftsteller zudem Lesungen in der Straßenbahn, in Werkshallen und auf Baustellen, um breitere Kreise für die Literatur zu gewinnen. Damals war Horst Bingel einer der bekanntesten und einflussreichsten Vertreter der Frankfurter und hessischen Literaturszene. Von 1974 bis 1976 amtierte er sogar als Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller. Mitte der 1980er Jahre zog sich der in Frankfurt lebende Autor ganz zum Schreiben zurück. Es wurde still um ihn. Seine Poesie schien plötzlich aus der Zeit gefallen, und vielleicht ist sie gerade deshalb so aktuell geblieben.
Am 6. Oktober 2023 hätte Horst Bingel seinen 90. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass erscheint jetzt ein Artikel über den 2008 verstorbenen Schriftsteller im Frankfurter Personenlexikon.

Die Zeiten können nachdenklich machen, vielleicht auch beim Lesen der Lebensgeschichten im Frankfurter Personenlexikon. Es wäre zumindest eine Hoffnung, wenn es so wäre.

Beste Herbstgrüße – und bleiben Sie gesund!
Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons

P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. November 2023.