Neuerscheinungen vom 10. August 2020

Einleitung: 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

wieder setzen wir unsere kleine Reihe zum 175. Jubiläum des Clementine Kinderhospitals fort. Der entsprechende Beitrag und diesmalige Artikel des Monats beschäftigt sich mit einem äußerst prominenten und bedeutenden Frankfurter des 19. Jahrhunderts, der heute – zu Unrecht – fast vergessen ist.

Artikel des Monats August 2020:
Der vergessene Hofrat

Er war ein gesuchter Arzt, forschender Naturwissenschaftler, wegweisender Balneologe, fortschrittlicher Kinderarzt und begabter Gelegenheitsdichter: Salomon Friedrich Stiebel. Geboren wurde der Sohn einfacher Leute 1792 in der Frankfurter Judengasse. Sein Studium der Medizin unterbrach er, um 1813/14 an den Befreiungskriegen teilzunehmen. Im Frühjahr 1815 legte er in Göttingen seine Dissertation vor, die geradezu revolutionäre Erkenntnisse zur Entwicklungsbiologie enthielt, aber wegen des eher entlegenen Titels („Über die Anatomie der Teichhornschnecke“) weitgehend unbeachtet blieb.
Am 20. Juli 1815 ließ sich Stiebel als praktischer Arzt und Chirurg in seiner Heimatstadt Frankfurt nieder. Zu seinen Patienten gehörten bald die Rothschilds ebenso wie die Brentanos. Doch erst der Entschluss, sich taufen zu lassen, trug ihm 1828 die vollen Bürgerrechte in Frankfurt ein. Bei einem Aufenthalt in Soden, bei dem er sich eigentlich von seiner ausgedehnten Tätigkeit als Arzt erholen sollte, erforschte Stiebel die Wirksamkeit der dortigen Heilquellen. Für seine Förderung des Kurbetriebs in dem seinerzeit noch sehr beschaulichen Ort am Taunus wurde ihm 1840 der Titel eines Herzoglich Nassauischen Geheimen Hofrats verliehen.
Dem testamentarischen Wunsch seines Patienten und Freundes Theobald Christ entsprechend, begann der vielbeschäftigte Doktor 1841, das von Christ gestiftete Kinderhospital in Frankfurt aufzubauen. Das Kinderkrankenhaus, das am 14. Januar 1845 eröffnet wurde, leitete Stiebel als Chefarzt bis 1853. Danach blieb er weiterhin Administrator der Trägerstiftung bis zu seinem Tod 1868.
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Schluss: 

Über Themen aus seiner ärztlichen Praxis am Dr. Christ’schen Kinderhospital, dem ersten Kinderkrankenhaus in Frankfurt, schrieb Salomon Friedrich Stiebel regelmäßig im Jahresbericht der Klinik. Diese Aufsätze zeigen ihn als erfahrenen Säuglings- und Kinderarzt, der mit seinen Ansichten seiner Zeit weit voraus war. So veröffentlichte er unter dem – wieder wenig glücklich gewählten – Titel „Skizzen zur Gehirn-Diätetik der Säuglinge“ (1855) eine Abhandlung über die Entwicklung des Gehirns im ersten Lebensjahr, die er durchaus mit praktischen Ratschlägen für die Eltern verband. Seine These war, dass die Fähigkeiten des Gehirns im ersten Lebensjahr weit mehr ausgebildet würden, als man damals vermutete. Diese Entwicklung beginne am ersten Lebenstag und werde entscheidend durch die Verarbeitung von Sinnesreizen in Form von einem Lernprozess gefördert. Ein wichtiger Reiz für neugeborene und auch ältere Babys sei etwa die Empfindung des mütterlichen Körpers, weswegen ein Säugling nachts ins Bett der Mutter und nicht in die Wiege gehöre. Durch den Regelkreis Hunger – Trinken – Sättigung – Befriedigung sollten Mutter und Kind die unterschiedlichen Bedürfnisse des Kindes unterscheiden lernen. Wenn die Mutter erkenne, dass der Säugling trinken möchte, solle sie ihn auf Verlangen stillen. Auch sollten Säuglinge nicht fest eingewickelt werden, weil das Spiel mit Händen und Füßen wiederum Lernprozesse in Gang setze, die zur Ausbildung bestimmter geistiger Fähigkeiten führen. Die Mimik des Säuglings entwickele sich durch Nachahmung des mütterlichen Gesichtsausdrucks, und – davon war Stiebel überzeugt – wenn man das Kind in der Wiege möglichst freundlich ansehe, dann wirke sich das positiv auf seine ganze Entwicklung aus. Solche und andere Erkenntnisse zur Säuglingspsychologie lesen sich überraschend – auch angesichts der üblichen Ratschläge für folgende Müttergenerationen bis ins 21. Jahrhundert hinein, wie der Säugling zu einem strengen Drei-Stunden-Rhythmus und einer festen Schlafenszeit gebracht werden sollte.
Es spricht für Stiebel, dass er immer das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Deshalb initiierte er auch die Gründung der ersten Kinderkrippe in Frankfurt (1851), womit er nicht nur zur Entlastung der arbeitenden Mütter aus unteren Schichten beitragen wollte. „Wenn er durch die engen, bevölkerten Theile der Stadt und namentlich durch Sachsenhausen ging“, so erinnert sich sein Sohn, „da war des Grüßens kein Ende und die Kinder umringten ihn wie einen alten Freund und streckten ihm die Händchen entgegen, und er nahm sie gern, gewaschen oder ungewaschen, wie’s kam (…).“
Bei den Eltern dagegen konnte sich der Hofrat manchmal unbeliebt machen, wenn er etwa gegen althergebrachte Erziehungs- und Behandlungsmethoden vorging – oft mit drastischen Mitteln: Er riss im ungelüfteten Krankenzimmer ungefragt die Fenster auf oder schmiss den „Dauerlutscher“ – einen aus Lappen angefertigten und mit süßem Brei gefüllten Schnuller – einfach fort. Auch die modebewussten Damen unter seinen erwachsenen Patienten dürfte er durchaus verärgert haben: Er verurteilte die „Schnürleiber“ nicht nur theoretisch in einer Veröffentlichung (1861), sondern soll auch ganz praktisch dagegen vorgegangen sein – indem er seiner Patientin während der Untersuchung einfach die Korsettstangen aus dem Mieder zog.

Ein anderer Artikel in diesem Monat berichtet über einen bis heute ungeklärten Mordfall in Frankfurt im Jahr 1957. Nein, es geht nicht um Rosemarie Nitribitt, der sich in diesem Jahr das Lesefest „Frankfurt liest ein Buch“ widmen wird. Im Frankfurter Personenlexikon lesen Sie vielmehr die tragische Geschichte des Buchhändlers Julius Neuß.
Aus aktuellem Anlass sei außerdem daran erinnert, dass der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre am 22. August vor 100 Jahren in Frankfurt geboren wurde. Seine frühen Jahre verbrachte er in Oberrad und Eschersheim, bevor er mit dem Vater 1928 nach Berlin umzog. Dort spielen seine Kindheitserinnerungen „Als Vaters Bart noch rot war“ (1958), mit denen er bekannt wurde (und lange in vielen Schullesebüchern vertreten war). Doch auch seine Frankfurter Zeit hat Schnurre literarisch verarbeitet, wie in dem schon länger verfügbaren Artikel über ihn im Frankfurter Personenlexikon nachzuschlagen ist.

Es zeigt sich also auch in diesem Monat wieder einmal: Mit dem Frankfurter Personenlexikon kann es eigentlich nie langweilig werden.

Herzliche Grüße – und bleiben Sie gesund!
Ihre Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons

P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. September 2020.