Tochter des Börsenmaklers Ludwig L. (1854-1935) und dessen in Melbourne (Australien) geborener zweiter Ehefrau Esther, gen.
Minnie, geb. Ehrmann (1866-1948). Ein Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters: Max L. (später: Linford, 1883-?), emigriert nach London. Ein älterer Bruder aus der Ehe der Eltern:
Fredy Samuel L. (1892-1913).
L.s Elternhaus befand sich in der Freiherr-vom-Stein-Straße 15 im Ffter Westend. Im Jahr 1918 mietete L., die aus einer wohlhabenden Familie kam, ein Atelier im Städelschen Kunstinstitut in der Dürerstraße 10 und zählte bald zur etablierten Ffter Künstlerschaft der 1920er und 1930er Jahre. Seit einem ersten Suizidversuch 1923 war sie wegen manisch-depressiver Zustände bis 1935 wiederholt in psychiatrischer Behandlung. Ihr künstlerisches Wirken beschränkte sich daher auf Ffm.; ihre künstlerische Inspiration bezog sie aus ihrem direkten Umfeld.
Anfangs versuchte sich L. an populären Motiven. Es entstanden Porträtzeichnungen, einige Selbstporträts sowie erste Radierungen. Der Ffter Maler
Ugi Battenberg wird als ihr Lehrer oder Mentor erwähnt, der sicher Einfluss auf ihr Werk hatte. Im Umfeld von
Battenberg, der eng mit
Max Beckmann befreundet war, wirkten auch seine Schwester, die Malerin
Mathilde Battenberg und beider Lehrerin, die Künstlerin
Ottilie W. Roederstein, die junge Kolleginnen förderte und unterstützte.
Ab 1926 änderte sich L.s Stil: Ihre naturnahen Darstellungen zeigten sich nun stärker vereinfacht und verändert. Sie schuf vermehrt Stadtlandschaften, nächtliche Straßenszenen und Ansichten von Ffm., die auf eigene Beobachtungen zurückgingen, und bezog sich damit auf eines der wichtigsten Motive des Expressionismus: die Großstadt, deren Anonymität und das Gefühl des Verlorenseins. L. arbeitete obsessiv. So fertigte sie 1926 innerhalb kurzer Zeit ca. 40 Zeichnungen von Häuserfassaden, Straßenbahnen, der Synagoge, Ost- und Westhafen. Noch expressiver und bedrohlicher wirken ihre scharf konturierten Nachtbilder in Schwarz-Weiß, die sie in Tusche anfertigte: traum- und albtraumhafte Szenen mit Skeletten, Erhängten und Dämonen, symbolische Darstellungen einer allgegenwärtigen Bedrohung.
Die Folgen der Wirtschaftskrise trafen L.s Familie sowie den Kunstmarkt besonders hart. Daher widmete sich L. ab Ende der 1920er Jahre vermehrt der Illustration von historischen und modernen literarischen Werken. So schuf sie 1929 ihre ersten Illustrationen, und zwar zu der Kurzgeschichte „Der verlorene Atem“ von Edgar Allan Poe. Des Weiteren bebilderte sie u. a. Werke von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Julien Green („Fremdling auf Erden“), Franz Kafka („Die Verwandlung“, Kohlezeichnungen, 1931, Buchausgabe 2024), Gottfried Keller („Die drei gerechten Kammmacher“; „Tanzlegendchen“, 1931),
Joseph Roth („Hiob“, 1931). Neben erhaltenen Mappenwerken zu literarischen Vorlagen illustrierte sie eine eigene Novelle („Das Reich ohne Tag“), die nicht überliefert ist.
Am intensivsten beschäftigte L. sich mit dem Buch „Die Legende des Baalschem“ von
Martin Buber, das von dem legendären Begründer der chassidischen Bewegung im Judentum handelt. L. fertigte zahlreiche eindrucksvolle Zeichnungen in starken Hell-Dunkel-Kontrasten dazu an. Im Gemeindeblatt der Ffter Israelitischen Gemeinde vom April 1933 erklärte die Künstlerin, dass sie das Illustrieren dieses Buchs als eine große und wundervolle Aufgabe angesehen habe. Sie erkannte die jüdische Mystik des Textes und bezeichnete die Literaturvorlage als einen „ungeheure[n] Stoff, dessen bildliche Darstellung verlangt, daß das Gegenständliche, scheinbar Reale, irreal wird, symbolhaft für das wirklich Reale, das ist das Geistige, Göttliche, das in und über allen Dingen ist“. [Zit. nach Rosy Lilienfeld: Zu meinen Baalschem-Bildern. In: Gemeindeblatt d. Israelit. Gemeinde Ffm. 11 (1932/33), Nr. 8, April 1933, S. 188f.] Kurz nach der Ausstellung der Werke im Kunstgewerbemuseum hielt
Mathilde Battenberg am 8.11.1932 und erneut im Februar 1933 einen Vortrag über „Die Illustrationen zu den Legenden des Baal-Schem, ein Beitrag zur religiösen Mystik unserer Zeit“ zu L.s Bildern; die Veranstaltung, organisiert von der Ffter Ortsgruppe des Jüdischen Frauenbunds und der Gesellschaft für Jüdische Volksbildung für die Verständigung zwischen den Konfessionen, fand im Gemeindesaal der evangelischen Petersgemeinde statt und stieß auf ein breites Interesse auch beim christlichen Publikum. Im Jahr 1935 veröffentlichte L. schließlich ihr eigenes Buch, in dem sie die Legende des Baalschem nacherzählt und bebildert, erschienen auf Deutsch und Englisch im Verlag Richard Löwit in Wien. In einem kurzen Eingangstext formulierte L. ihre Hoffnungen an die Publikation: „Die Größe und den inneren Reichtum der chassidischen Legenden auch in der zeichnerischen Gestaltung zur Kenntnis zu bringen, ist die Aufgabe dieses Buches. (…) Ich hoffe, daß das Werk allen denen willkommen sein wird, die wünschen, das geistige Gut der Juden der jetzigen Generation nahe zu bringen.“ (Rosy Lilienfeld: Bilder zu der Legende des Baalschem 1935, o. S.) Nur ein Band von geplanten drei Bänden konnte erscheinen. Durch das Nacherzählen der Geschichte reihte L. sich auf ihre Weise in die chassidische Erzähltradition ein, die bis heute fast ausschließlich durch männliche Vertreter geprägt ist. Die Erweiterung der Legende um eine bildliche Ebene ist allein L.s Verdienst.
Aus einem Artikel der Kunstkritikerin Sascha Schwabacher (1875-1943) geht hervor, dass die Auseinandersetzung mit religiösen Themen die Künstlerin weiter beschäftigte. Für ihren Artikel „Atelierbesuch bei Ffter Künstlerinnen“ 1935 besuchte Schwabacher auch L., die sich nun an die schwierigsten Motive des Alten Testaments herangewagt hatte und davon großformatige Zeichnungen fertigte. Darstellungen einer hebräischen Bibel von L. sind jedoch nicht erhalten. Sie schuf viele weitere Zeichnungen zu chassidischen Geschichten und jüdischer Kunst, u. a. in einem Mappenwerk zu dem „mystischen Messias“ Schabbatai Zvi (1626-1676) und als Illustrationen zur Erzählung „Das Kopftuch“ in dem Buch „In der Gemeinschaft der Frommen“ von Samuel Joseph Agnon. Bereits seit 1933 war L. als erwerbslos gemeldet, und 1936 musste sie aus finanziellen Gründen ihr Atelier räumen. Zu ihrer ersten Ausstellung hatte
Ugi Battenberg der Künstlerin verholfen, 1930 im Ffter Kunstverein; später wurden ihre Werke im Kupferstichkabinett des Städel (Sommer 1931) und in Bad Homburg (Dezember 1931) gezeigt. Als ihre letzte Ausstellung gilt die Teilnahme an der „Reichsausstellung jüdischer Künstler“ vom 26.4. bis 7.6.1936 im Jüdischen Museum in Berlin.
Unterlagen der Volkszählung vom Mai 1939 belegen, dass L. um diese Zeit zusammen mit ihrer Mutter Minnie in der Arndtstraße 53 in Ffm. lebte, wie auch im Adressbuch (1939, T. I, S. 433) angegeben. Am 17.7.1939 beantragte Minnie L. die Ausreise nach England und kündigte die Wohnung in der Arndtstraße zum 1.10.1939. Stattdessen flüchteten beide Frauen in die Niederlande. L. war gezwungen, sich zu verstecken, zumal sie von der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach der deutschen Besetzung (ab Mai 1940) auch in den Niederlanden eingeholt wurde. Mehrmals wechselte sie ihren Aufenthaltsort, zunächst innerhalb Rotterdams (ab 23.11.1939 Katshoek 26a, ab 28.12.1939 Adrien Mildersstraat 38b und ab 31.5.1940 Adrien Mildersstraat 15b). Ab dem 26.2.1941 lautete ihre Adresse Abstederdijk 317a in Utrecht, wo man sie im darauffolgenden Jahr verhaftete. Anfang August 1942 wurde sie in das niederländische Durchgangslager Westerbork gebracht. Von dort wurde sie am 28.9.1942 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert, in dem sie vermutlich sofort nach ihrer Ankunft am 30.9.1942 ermordet wurde.
Die britisch-stämmige Mutter der Künstlerin, Minnie L., deren Verbleib nach der Flucht aus Ffm. lange unbekannt war, war bis 1945 im „Duitse Huis“ in Utrecht, einem ehemaligen Stiftskloster und nunmehrigen Militärkrankenhaus, untergebracht und überlebte die Shoa. Im Jahr 1945 stellte sie eine Suchanfrage nach ihrem Stiefsohn Max L. beim „Search Bureau“ der britischen Militärregierung in Deutschland – erfolgreich. In ihrer letzten überlieferten Nachricht, die die mittlerweile gelähmte Mutter über den behördlichen Vermittlungsweg an ihren Stiefsohn weiterleiten ließ, schrieb sie: „Rosie in Poland no news for three years“.
Das Frühwerk von L., ihre Ölgemälde und Holzskulpturen, gilt als verschollen. Von den Gemälden zeugt heute nur ein einziges Foto aus ihrem Atelier. Das Jüdische Museum in Ffm. erwarb im Lauf der Jahre zahlreiche Grafiken, Tusche- und Kohlezeichnungen von L. Diese rund 200 Werke bilden die größte Sammlung von L.s Arbeiten und geben einen Einblick in die verschiedenen Schaffensphasen der Künstlerin. Einige Werke L.s befinden sich im Städel Museum in Ffm., im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und im Jüdischen Museum in Berlin.
2009 Kabinettausstellung „Ffter Stadtansichten“ im Jüdischen Museum Fft., u. a. mit Werken von L. 2022/23 Ausstellung „Zurück ins Licht. Vier Künstlerinnen – Ihre Werke. Ihre Wege“ im Jüdischen Museum Fft. zur Erinnerung an Rosy L.,
Ruth Cahn,
Erna Pinner und
Amalie Seckbach.
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