Tochter des Kaufmanns Reinhard R. (1828-1891) und seiner Frau Alwine, geb. Baum (1828-1892), die 1857 von (Wuppertal-)Barmen nach (Zürich-)Enge übergesiedelt waren. R. hatte drei Geschwister: Johanna Maria (später verh. Voos, 1858-1897), ihren Zwillingsbruder Otto Ludwig, der kurze Zeit nach der Geburt 1859 starb, Helene (1862-?).
Nach großem Widerstand der Eltern gelang es R. mit 17 Jahren (1876), ersten künstlerischen Unterricht bei dem Schweizer Maler Eduard Pfyffer (1836-1899) durchzusetzen. Die Verheiratung ihrer Schwester Johanna nach Berlin ermöglichte R. durch einen ausgedehnten familiären Besuch die Weiterbildung bei dem Berliner Professor Karl Gussow (1843-1907). Dort lernte R. auch Kolleginnen kennen, mit denen sie lebenslang befreundet blieb.
Eine von ihnen war die Schweizerin Anni Hopf (später Stebler-Hopf, 1861-1918). Gemeinsam gingen R. und Hopf 1882 nach Paris. R. ließ sich im „Atelier des Dames“ von Emile Auguste Carolus-Duran (1837-1917), Jean-Jacques Henner (1829-1905) und Luc-Olivier Merson (1846-1920) weiter ausbilden. Dort konnte sie sogar an den für Frauen eigentlich verschlossenen Aktkursen teilnehmen. Bereits 1883 stellte sie das erste Mal und dann bis 1914 regelmäßig in Paris aus. Fortan pendelte sie arbeitend und Kontakte knüpfend jahrelang zwischen Paris und Zürich; 1902 erhielt sie schließlich das wiederholt beantragte Schweizer Bürgerrecht. Während eines Zürich-Aufenthalts lernte R. 1885 die Medizinstudentin
Elisabeth H. Winterhalter kennen, die ihre Lebensgefährtin wurde. Schon bald planten sie ein gemeinsames Leben, das sich aber wohl erst 1891, nach dem Tod von R.s Vater, realisieren ließ. Da in Ffm. gute berufliche Aussichten für
Winterhalter als Ärztin bestanden, fiel ihre Wahl auf die Stadt am Main.
Das Paar zog nach Ffm. in die Bleichstraße 60. Wenige Gehminuten entfernt richtete R. sich in der Hochstraße 40 ein eigenes Atelier ein, an dem sich auch ihre Kollegin Marie Sommerhoff-Bertuch (1851-1932) beteiligte. Zahlreiche Anfragen für Porträts angesehener Ffter Persönlichkeiten folgten und sorgten für Akzeptanz in der Stadt und der Umgebung. Dabei bildete sich R. als angesehene Porträtmalerin heraus. Viele Ffter Prominente wurden im Laufe der Jahre von R. porträtiert, z. B. der Maler
Heinrich Hasselhorst, der Dermatologe
Karl Herxheimer (1911), der Schriftsteller
Adolf Stoltze (1924) sowie die Frauenstimmrechtsaktivistin und SPD-Politikerin
Meta Quarck-Hammerschlag (1926). Der Impressionist
Jakob Nussbaum, ein langjähriger Freund, und R. porträtierten sich 1909 gegenseitig (beide Bildnisse in der Sammlung des Städel Museums).
Bereits 1891 wurden R.s Werke im Ffter Kunstverein ausgestellt. Auch andernorts erhielt sie immer häufiger Gelegenheit, ihre Bilder zu zeigen und in Künstlervereinigungen mitzuwirken. In Ffm. zählten dazu das Städelsche Kunstinstitut und der 1902 gegründete Fft.-Cronberger Künstlerbund. Der Kontakt mit den Malern Karl von Pidoll (1847-1901),
Bernhard Mannfeld (1848-1925) und
Hans Thoma (1839-1924) beeinflusste ab 1894 ihren Stil. Eine Handverletzung zwang R., ihren feinen Pinselstrich gegen eine freiere Maltechnik zu ersetzen.
Ein größerer Platzbedarf und eine ausgeprägte Lehrtätigkeit führten zur Anmietung zweier Ateliers im Städelschen Kunstinstitut (bis 1911), denn wie bereits in Zürich und Paris erteilte R. auch in Ffm. und später ebenso in Hofheim Malunterricht. Zu ihren Schülerinnen gehörten u. a.
Mathilde Battenberg (1878-1936), deren Bruder
Ugi Battenberg (1879-1957),
Hanna Bekker vom Rath (1893-1983),
Jenny Fleischhauer (1879-1932), Berta Henkel, Paula Klotz, Emma Kopp (1864-1941), Marie Mössinger (später verh. Swarzenski, 1889-1967),
Erna Pinner (1890-1987), Lina von Schauroth (1874-1970), Lore Sonntag, Maria Wagner, Frieda Werner-Wachs und Sophie Wirth.
Ihre Wohnung hatten
Winterhalter und R. inzwischen im Oeder Weg 7 (lt. Adressbuch 1894-1900) und später in der Unterlindau 35 (lt. Adressbuch 1901-11). Beide Frauen waren seit Jahren erfolgreich und damit finanziell unabhängig. So konnten sie bereits 1907 den Architekten Hermann August Eduard Kopf (1883-?) mit dem Bau eines Landhauses in Hofheim am Taunus beauftragen, wo das Paar am Kapellenberg im Deschweg 2 (heute: Roedersteinweg 2) gemeinsam ein Grundstück erworben hatte. Das Haus wurde 1909 bezugsfertig. Auf einem angrenzenden Grundstück ließen die beiden Frauen 1911 ein Atelierhaus für R. und ein Gärtnerhaus für
Winterhalter bauen, die wegen eines Hörproblems ihren Beruf hatte aufgeben müssen. Um 1910 formierte sich die Freie Vereinigung Ffter Künstler im Ffter Kunstverein, der auch R. beitrat. Noch vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, der ab August 1914 die Reichweite der Künstlerin stark einschränkte, gründete sich in Ffm. ein Frauenkunstverband, in dem R. Mitglied wurde. Der Zusammenschluss stand dem Ffter Verein Frauenbildung – Frauenstudium nah, und zur Hauptleitung des Verbandes gehörten Käthe Kollwitz (1867-1945) als Vorsitzende, Dora Hitz (1856-1924), Eugenie Kaufmann (1867-1924) und Anna von Mertens. R. setzte sich immer wieder nachdrücklich für die Ffter und die Hofheimer Kunstszene ein, regte Sammlungen sowie Ausstellungen an und kümmerte sich um sehenswerte Gemälde. Sie nutzte dabei ihre Kontakte zu Sammlerinnen und Sammlern, internationalen Künstlerinnen und Künstlern sowie zahlreichen Kunstkreisen, die auch in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft entstanden. 1917 entschieden R. und
Winterhalter die Errichtung einer gemeinsamen Stiftung für notleidende Malerinnen und Maler und für die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Ffm. Die „Ottilie W. Roederstein und Dr. med.
Elisabeth H. Winterhalter’sche Stiftung“ wurde allerdings erst 1938, nach R.s Tod, von
Elisabeth H. Winterhalter rechtskräftig unterzeichnet und nach deren Tod 1952 in die Heussenstamm-Stiftung eingegliedert; das mittlerweile stark entwertete Restvermögen ging an diese Stiftung und die SNG.
Für ihre Verdienste erhielt R. 1929 die Ehrenplakette der Stadt Ffm. Außerdem wurde sie Ehrenbürgerin der Stadt Hofheim, Ehrenmitglied des Ffter Künstlerbundes sowie des Bundes deutscher Künstlerinnen und Kunstfreundinnen Ortsgruppe Fft. Der nationalsozialistischen Politik stand R. kritisch gegenüber; trotzdem stellte sie einen Antrag auf Mitgliedschaft bei der Reichskammer der bildenden Künste und nahm 1934 an der Ausstellung „Kraft durch Freude“ teil. Zu ihrem 75. Geburtstag richtete die GEDOK Ffm. eine Jubiläumsausstellung für sie aus. In Ffm. beteiligte sie sich insgesamt an über 40 Ausstellungen.
R. hat mit rund 1.800 Arbeiten als Porträt-, Stillleben- und Landschaftsmalerin überregionale Bedeutung erlangt. Besondere Beachtung verdienen R.s 80 Selbstbildnisse aus allen Lebensphasen, die zu den Höhepunkten ihrer Porträtkunst zählen. Das Städel besitzt etwa das „Selbstbildnis mit weißem Hut“ (1904), das „Selbstbildnis mit verschränkten Armen “ (1926) und das „Selbstbildnis mit Schlüsseln“ (1936).
Noch zu Lebzeiten sorgte R. für ihr künstlerisches Vermächtnis und verteilte ihre Werke an bedeutende Sammlungen. Gemälde von R. befinden sich in Ffm. u. a. im Besitz des Städel Museums, der Dr. Senckenbergischen Stiftung und der Stadt Ffm.
Ehrengrab auf dem Waldfriedhof in Hofheim am Taunus.
Im Jahr 2019 erhielt das Städel Museum als großzügige Schenkung aus Privatbesitz ein umfangreiches Archivkonvolut des Nachlasses von R. (Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum), zu dem Bilder, Briefe und Fotografien gehören und das seitdem sukzessive ausgewertet wird.
In der Ausstellung „Künstlerin sein! Ottilie W. Roederstein – Emy Roeder –
Maria von Heider-Schweinitz“ im Museum Giersch in Ffm. wurden 2013/14 zahlreiche Bilder von R. gezeigt. Die Kooperation zwischen Kunsthaus Zürich und dem Ffter Städel Museum lieferte eine umfassende Werkschau (in Zürich u. d. T. „Ottilie W. Roederstein. Eine Schweizer Künstlerin wiederentdeckt“ 2020/21 und in Ffm. u. d. T. „Frei. Schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein“ 2022).
Ottilie-R.-Stipendien des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst zur Förderung von in Hessen lebenden oder arbeitenden Künstlerinnen und Kultur schaffenden Frauen (in den Kategorien Haupt- und Nachwuchsstipendium sowie Arbeitsstipendien für Künstlerinnen in einer besonderen familiären Belastungssituation), erstmals vergeben 2021.
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Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 203f.,
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