Jüngste Tochter des Arztes Georg W. (1802-1868) und seiner Ehefrau Elisabeth, geb. von Garr (1816-1892). Die Mutter gebar 13 Kinder, von denen – neben W. – neun das Kindesalter überlebten: Leopold (1836-1892), Wildrich (1839-1905), Anna (1841-1901), Georg (1843-1878), Candida (1845-1930), Max (1848-1908), Wilhelm (1850-1867), Conrad (1852-1914), Caroline (1854-1925).
Nach dem Tod des Vaters veranlasste W.s Vormund die weitere Erziehung der Elfjährigen in einer Klosterschule bei Wolfratshausen. W. wollte, nach dem Vorbild des Vaters und vieler Männer in ihrer Familie über mehrere Generationen, Ärztin werden. Aber der Vormund gestattete ihr lediglich die Teilnahme am neugegründeten ersten bayerischen Lehrerinnenseminar (etwa 1871). Nach dem Examen als Elementarlehrerin war sie ab 1874 als Hilfslehrerin in Schwabing tätig. Später setzte W. gegen den Willen des Vormunds und ihrer Mutter ein Medizinstudium in der Schweiz durch: Sie studierte von 1884 bis 1889 in Zürich und Bern und schloss mit einem Schweizer Staatsexamen ab, das in Deutschland jedoch nicht anerkannt wurde. Im Anschluss bildete sie sich in Paris, München und Stockholm in den Fachgebieten Gynäkologie und Chirurgie fort.
In der Schweiz lernte W. 1885 die Malerin
Ottilie W. Roederstein kennen, die ihre Lebensgefährtin wurde. Womöglich auf Anraten von zwei Ffter Kollegen siedelte das Paar
Roederstein und W. 1891 nach Ffm. über, um dort ein gemeinsames Leben zu beginnen. Sie wohnten anfangs in der Bleichstraße 60, wo W. als eine der ersten Ärztinnen der Stadt eine Praxis eröffnete. Zugleich bot W. ihre Sprechstunden in einer Poliklinik für Frauenkrankheiten an, zunächst beim Schwesternhaus Bethanien im Mittelweg 18-20, dann (seit 1894) beim neuen „Krankenpensionat“ des Vaterländischen Frauenvereins in der Eschenheimer Anlage 7; dort behandelte sie „Unbemittelte unentgeltlich“. W.s Kollegen förderten auch ihre weitere Ausbildung und ermöglichten ihr 1895, wohl als erster Frau in der Geschichte der Medizin eine Laparotomie (Öffnung der Bauchdecke, hier vermutlich „Kaiserschnitt“ zur Entbindung) durchzuführen. Mit dem Arzt
Ludwig Edinger (1855-1918), dessen wissenschaftlich interessierte Ehefrau
Anna Edinger (1863-1929) mit
Roederstein und W. eng befreundet war, sowie mit dem Pathologen
Carl Weigert (1845-1904) arbeitete sie am Dr. Senckenbergischen Institut für Pathologie. W. war nicht nur als Chirurgin, sondern auch als Geburtshelferin tätig: Zwischen 1893 und 1899 stand sie beispielsweise der Sozialpolitikerin
Henriette Fürth (1861-1938) bei mehreren Geburten zur Seite.
Als sich 1898 eine Ffter Ortsgruppe des Vereins Frauenbildung – Frauenstudium gründete, wurde W. deren Vorsitzende. In dieser Funktion initiierte sie zusammen mit der Altphilologin Gabriele von Wartensleben (1870-1953) und der Sozialpolitikerin
Meta Quarck-Hammerschlag Fft.s erstes Mädchengymnasium, das im April 1901 seine (privaten) „Kurse“ startete und 1908 der neu gegründeten Schillerschule als städtischer höherer Mädchenschule angegliedert wurde. Auch bei der 1900 einberufenen „Sittlichkeitskommission“ des Bundes Deutscher Frauenvereine brachte W. sich ein. 1903 nahm sie am 1. Kongress der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten teil. Weil sie in Deutschland immer noch als „Kurpfuscherin“ galt, holte W. ab 1902 die deutsche Approbation für Medizin nach; ihr deutsches Staatsexamen legte sie im Alter von 47 Jahren 1904 in Heidelberg, baldmöglichst nach der Zulassung von Frauen zum ordentlichen Medizinstudium in Baden, ab. Erst daraufhin wurde sie auch in den Ffter Ärztlichen Verein aufgenommen.
1907 beauftragten
Roederstein und W. den Architekten Hermann August Eduard Kopf (1883-?) mit dem Bau eines Landhauses in Hofheim am Taunus am Deschweg 2 (heute: Roedersteinweg 2). Das Anwesen wurde 1909 bezugsfertig und sollte neben Ateliers für
Roederstein auch ein Gartenhaus und Anbaufläche für gärtnerische Arbeiten bieten. Denn W. litt inzwischen an einer Einschränkung des Hörvermögens. Bis 1911 konnte sie noch in Ffm. praktizieren, dann zog sie sich ganz aus dem Beruf zurück und widmete sich der Gartenarbeit, den Finanzen und auch dem Netzwerk des Paares. Außerdem sorgte W. in Hofheim für einen Volksbildungsverein und dessen Bücherbestände. 1917 errichteten W. und
Roederstein eine gemeinsame Stiftung für notleidende Malerinnen und Maler sowie für die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Ffm., die nach
Roedersteins Tod von W. 1938 umgesetzt wurde. 1929 wurde W. – wie
Roederstein – Ehrenbürgerin der Stadt Hofheim.
1937 starb
Roederstein. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin sorgte W. als Erbin für eine umfassende Retrospektive von deren Werken im Ffter Kunstverein und gleichzeitig in der Schweiz. Zusammen mit dem langjährigem Freund und späteren Biographen Hermann Jughenn (1888-1967) richtete W. im ehemaligen Atelierhaus für die Künstlerin eine Gedenkstätte ein, die bis zur Aufhebung durch die Gestapo 1944 existierte.
An ihrem 95. Geburtstag im Dezember 1951 wurde W. durch Bundespräsident
Theodor Heuss (1884-1963) für ihre Leistung, medizinische Berufe für Frauen zu öffnen, geehrt. W. starb am 12.2.1952. Die
Roederstein-Schülerin und gemeinsame Freundin
Hanna Bekker vom Rath zeigte den Sterbefall beim Standesamt an. W. wurde neben
Ottilie W. Roederstein in dem Ehrengrab auf dem Waldfriedhof in Hofheim bestattet. Nach ihrem Tod wurde die „
Ottilie W. Roederstein und Dr. med. Elisabeth H. Winterhalter’sche Stiftung“ in die Heussenstamm-Stiftung eingegliedert; das mittlerweile stark entwertete Kapital fiel an diese Stiftung und die SNG.
Medizinische Publikationen: „Zur Entstehung der Scheidenharnfisteln mit besonderer Berücksichtigung der durch Geburtstrauma bedingten Fälle“ (1890), „Ein sympathisches Ganglion im menschlichen Ovarium nebst Bemerkungen zur Lehre von dem Zustandekommen der Ovulation und Menstruation“ (in: Archiv für Gynäkologie, 1896).
Zwei Bildnisse (von
Ottilie W. Roederstein, 1887/88 und 1902) im Besitz des Städelschen Kunstinstituts. Ölporträt (von
Ottilie W. Roederstein, 1927) im Besitz der Dr. Senckenbergischen Stiftung.
Elisabeth-W.-Straße im Mertonviertel.
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Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 566,
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