Tochter des Hilfslehrers und Leutnants der Reserve
Albert Richard H. (1895-?) und dessen Ehefrau Rosa Babetta, geb. Förderreuther (1896-?), die beide in Schwabach geboren wurden und dort 1918 geheiratet hatten. Geschwister: Hermann Heinrich H. (1919-?) und Anna Maria H. (1922-?).
Nach der Scheidung von ihrem Ehemann wurde H. ihr neuer Name von Wolfgang Krohn, damals Suhrkamp-Hauptverlagsvertreter für Süddeutschland, gegeben. Krohn wählte für die Liebhaberin der Werke von Theodor Fontane (1819-1898) den Namen einer Figur aus dessen letztem Roman „Der Stechlin“ (1895-97), worin Melusine als kluge, gebildete, selbstbewusste (und nach kurzer Ehe geschiedene) Frau auftritt. Der Kunsttheoretiker Bazon Brock (* 1936) war von 1961 bis 1976 der Lebensgefährte von H.
Nach einer Buchhändlerlehre in Nürnberg kam H. 1951 nach Ffm. Seitdem arbeitete sie in der Buchhandlung Naacher in Bockenheim, zunächst in einem kleinen Laden auf der Fläche vor der Universitätsbibliothek, dann in dem Betonbau der (bis 1970 zur Buchhandlung Naacher gehörenden) „Bockenheimer Bücherwarte“. Dort übernahm sie die Geschäftsführung und machte aus ihrem Beruf eine Kunst, die weit über das Verkaufen von Büchern hinausging. Zu ihren Mitarbeitenden in der „Bockenheimer Bücherwarte“ gehörten etwa Peter Anton von Arnim (gen. Pava, 1937-2009) und Renate von Metzler, geb. Haas (* 1941), die von H. zur Buchhändlerin ausgebildet wurde.
H. wohnte 1955 in der Gräfstraße 78, spätestens ab 1959 in der Hans-Sachs-Straße 1 in Bockenheim, dort zwölf Jahre gemeinsam mit Bazon Brock. Brock bezeichnete das Fft. der 1960er Jahre als „das Weltzentrum der Avantgarde“ – mit H. und ihm mittendrin. Man traf sich in der Städelschule oder in neuen Ausstellungsräumen wie der dato Galerie von Rochus Kowallek (1926-2020), bei
Hermann Goepfert,
Hanna Bekker vom Rath oder eben bei H. Deren „freundliche Zuneigung“, „Gemütshelligkeit“ und „aus dem Herzen kommende Humanität“ beschrieb Brock als „einzigartig“.
Als Buchhändlerin wurde H. zu einer Institution in Ffm. Mit ihrer Begeisterung für die Literatur und ihrer Lust an Neuentdeckungen machte sie die Buchhandlung zu einem kulturellen Mittelpunkt für Fft.s Intellektuelle. Am 11.11.1982 musste sie die „Bockenheimer Bücherwarte“ verlassen, weil ihr der neue Besitzer gekündigt hatte. Mit der Abfindung, die ihr in einem Prozess zugesprochen wurde, konnte sie mit einigen Freundinnen eine Kommanditgesellschaft gründen und am 25.8.1983 die „Huss’sche Universitätsbuchhandlung“ eröffnen. Der Rechtsanwalt und Mäzen Rüdiger Volhard (1931-2023) hatte ihr den Raum dafür in seinem Haus in der Kiesstraße 41 zur Verfügung gestellt. Dort arbeiteten u. a. Sibylle Jud (1965-2016), Jürgen Lentes (1961-2016), später Norbert Rojan (* 1965) für sie.
Die Buchhändlerin führte ein offenes Haus und galt als überaus generöse Gastgeberin. Auch nach Ladenschluss traf „man“ sich regelmäßig bei „der Huss“, dann in einem kleinen Hinterraum der Buchhandlung bei Baguette, Käse und Rotwein. Legendär waren die Feste zur Zeit der Buchmesse bei H. in der Wohnung in der Hans-Sachs-Straße. H. kochte gerne und gut, am liebsten italienisch. Ihre Wohnung wurde zu einem literarischen Salon, in dem sie als Grande Dame der Ffter Kultur die Kunst des geistreichen Gesprächs pflegte. Ihre zahllosen Gäste, die sie zusammenführte, kamen aus der Welt von Kunst und Wissenschaft, Verlagswesen und Presse, Theater und Film, Politik und Wirtschaft, Medizin und Recht. „Sie lebte für ihre Freunde“, sagte die Journalistin Gisela Brackert (* 1937), ihre Wohnungsnachbarin in der Hans-Sachs-Straße 1. Das Haus gehörte dem Rechtsanwalt
Manfred Schiedermair, der ebenfalls dort wohnte; er und seine Frau Ulrike Schiedermair (* 1942), ab 1986 Betriebsdirektorin am Theater am Turm, zählten zum engeren Freundeskreis von H.
Zu ihren Kundinnen und Kunden aus der Ffter Intellektuellenszene gehörten etwa
Theodor W. Adorno,
Ernst Bloch, Karl Heinz Bohrer (1932-2021),
Marcel Reich-Ranicki, Günther Rühle (1924-2021) und
Siegfried Unseld. Den Philosophen Jürgen Habermas (* 1929), den Anglisten und Essayisten Klaus Reichert (* 1938), den Rechtshistoriker Michael Stolleis (1941-2021) und die Publizistin Carolin Emcke (* 1967) lernte H. noch während deren Studien- bzw. Assistentenzeit kennen. Weitere Gäste ihrer Buchhandlung waren u. v. a. der Autor
Matthias Beltz (1945-2002), die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Silvia Bovenschen (1946-2017), der Verleger Karlheinz Braun (* 1932), der Politiker Daniel Cohn-Bendit (* 1945), die Schriftstellerin Eva Demski (* 1944), der Politologe
Iring Fetscher (1922-2014), der Politiker Joschka Fischer (* 1948), der Soziologe und Politiker Ludwig von Friedeburg (1924-2010) und seine Frau Ellen (1936-2020), der Schriftsteller Robert Gernhardt (1937-2006), die Schriftstellerin Katharina Hacker (* 1967), der Historiker Notker Hammerstein (1930-2024), der Theater- und Kunstkritiker Peter Iden (* 1938), der Rechtswissenschaftler
Klaus Lüderssen (1932-2016), die Rechtswissenschaftlerin Ilse Staff (1928-2017) und der Museumsdirektor
Christoph Vitali (1940-2019), der über dem Ladengeschäft in der Kiesstraße wohnte und die Buchhändlerin „Husslein“ nannte.
H., die fließend italienisch sprach, war deutsche Vertreterin des italienischen Einaudi-Verlags, gegründet von Giulio Einaudi (1912-1999). Sie hatte Kontakt zur Verlegerin Inge Feltrinelli (1930-2018) und konnte dramatische Anekdoten über deren polizeilich gesuchten und im Untergrund lebenden Ehemann Giangiacomo Feltrinelli (1926-1972) erzählen. Sie engagierte sich bereits ab den frühen 1950er Jahren in der Deutschen Dante-Gesellschaft und organisierte Lesungen und kunsthistorische Führungen für die jährlichen Kulturreisen des Stifters Hubert Burda (* 1940) im Rahmen der Petrarca-Preisverleihungen in Italien. Den seit 1975 verliehenen internationalen Petrarca-Preis für Literatur hatte Bazon Brock zum 600. Todestag des Poeten Francesco Petrarca (1304-1374) ins Leben gerufen. Von 1981 bis 1987 war H. zudem ehrenamtlich im Stiftungsrat für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels tätig.
H. ging in ihrem Beruf auf. Als aufmerksam und hilfsbereit beschrieben, bewahrte sie sich jedoch immer eine gewisse Distanz: Nur wenige Menschen wurden von ihr geduzt, und sie erzählte ungern etwas über sich selbst. Am Ende ihres Lebens gehörte die Autorin Silvia Bovenschen zu ihren engsten Freundinnen. Die schwere Krankheit ihrer letzten Jahre behielt H. weitgehend für sich. „Im Mai 1989 hat sie noch meine Virginia-Woolf-Ausgabe vorgestellt“, erinnerte sich Klaus Reichert. Ein paar Tage später starb H. am Abend nach einer Lesung auf dem Weg nach Hause. Bazon Brock sagte: „Sie starb, wie sie lebte: mit Büchern unterm Arm.“ Die Beerdigung fand am 1.6.1989 auf dem Ffter Hauptfriedhof statt.
Grabstätte auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann F 1052). Neben H. wurde ihr alter Freund und langjähriger Mitarbeiter, der Buchhändler Gerhard „Knöpi“ Knoop (1918-1993), bestattet.
Nach dem Tod der Gründerin wurde die H.’sche Buchhandlung in der Kiesstraße von dem bisherigen Mitarbeiter Jürgen Lentes weitergeführt, zunächst zusammen mit vier Kolleginnen und Kollegen, seit 1995 als alleiniger Gesellschafter. Im Jahr 1997 wurde die Buchhandlung geschlossen.
Zum Andenken an H. und zum zehnjährigen Bestehen der Buchhandlung veröffentlichte Lentes 1993 die Anthologie „kiesstrasse zwanzig uhr“. Dafür waren 67 Autoren und Autorinnen, die in der Kiesstraße gelesen hatten, um einen Text ihrer Wahl gebeten worden. Die posthume Festschrift beginnt und endet mit einem Text des Freundes Peter Bichsel. Dazwischen befinden sich Gedichte, Geschichten, Essays, kunst- und zeitgeschichtliche Betrachtungen, ein Rezept für Peperoni-Püree, Fotos und Zeichnungen, u. a. von
Matthias Beltz, Robert Gernhardt, Lothar Baier, Ursula Krechel, Notker Hammerstein, Klaus Reichert, Bazon Brock, Michel Butor, Heinz Steinert, Wolfgang Liebenwein, Ernst Jandl, H. C. Artmann, Paulus Böhmer und Bert Papenfuß. 300 Exemplare enthielten eine limitierte, nummerierte und signierte Kaltnadelradierung des Künstlers A. R. Penck.
Als im Dezember 1999 das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ 50 Persönlichkeiten der Branche nach ihrem „Jahrhundertbuchhändler“ befragte, belegte H. den zweiten Platz der Beliebtheitsskala. Der Verleger Klaus Wagenbach (1930-2021) wählte sie, weil sie so „gescheit, großzügig, energiegeladen – und weil sie eine Frau war“.
Seit 2011 Melusine-H.-Preis des „Vereins der Hotlist“. Der Preis wurde bis 2019 alljährlich durch Abstimmung unter Buchhandlungen an einen Verlag bzw. Titel aus der „Hotlist“ (mit zehn Büchern aus unabhängigen Verlagen) vergeben und im Herbst im Rahmen der Ffter Buchmesse verliehen.
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