Neuerscheinungen vom 10. Dezember 2022

Einleitung: 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,

die Welt zu vergessen – das wünschen sich viele in diesen Zeiten. Von der Welt vergessen zu werden – das will wohl niemand. Erinnerung hat einen hohen Wert. Gerade mit der Arbeit des Historikers ist der Auftrag des Erinnerns eng verbunden. Das gilt in besonderem Maße, wenn es um die Biographien von Menschen geht, deren Leben, Werk und Namen unter dem nationalsozialistischen Terrorregime für immer ausgelöscht werden sollten. Mit jeder einzelnen dieser Millionen Lebensgeschichten, die erforscht und erzählt wird, kehrt das Gedächtnis zurück. Auch die Frankfurter Künstlerin Amalie Seckbach, die in der NS-Zeit wegen ihrer jüdischen Religion verfemt und schließlich im Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben gebracht wurde, wäre fast vergessen worden. Der diesmalige Artikel des Monats erinnert an sie.

Artikel des Monats Dezember 2022:
Wider das Vergessen in der Kunst

Sie begann erst mit weit über 50 zu modellieren und mit 60 zu malen: Amalie Seckbach. Nach dem Tod ihres Mannes, des Frankfurter Architekten Max Seckbach, ließ sich die vereinsamte Witwe durch den Besuch von Veranstaltungen des 1925 neu eröffneten China-Instituts inspirieren. Fasziniert widmete sie sich der ostasiatischen Kunst und baute eine bedeutende Sammlung chinesischer und japanischer Holzschnitte des 17. und 18. Jahrhunderts auf. Wie von selbst, nur aus sich heraus, fing sie dann an, eigene Kunstwerke zu schaffen. Erste Plastiken zeigte sie ab etwa 1929 auf Ausstellungen. Gefördert von dem Maler James Ensor, den sie auf einer Reise in Belgien kennenlernte, stellte sie bald international aus, in Madrid, Paris, Florenz, Brüssel und Chicago. In Deutschland jedoch galt ihre Kunst ab 1933 als „entartet“. Zu spät entschloss sich Amalie Seckbach zur Emigration, die sich dann nicht mehr verwirklichen ließ. Am 15. September 1942 wurde die Künstlerin von Frankfurt nach Theresienstadt deportiert, wo sie, infolge der Haftbedingungen völlig entkräftet, zwei Jahre später starb. Bis zuletzt, auch unter schwierigsten Bedingungen im Konzentrationslager, hatte sie gemalt und gezeichnet.
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Schluss: 

An Amalie Seckbach wird derzeit mit einer Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt gedacht, die erstmals auch das in Theresienstadt entstandene Werk der Künstlerin in vollem Umfang berücksichtigt. Außer Amalie Seckbach stellt die Ausstellung, die unter dem Titel „Zurück ins Licht“ noch bis zum 17. April kommenden Jahres zu sehen ist, drei weitere fast vergessene Frankfurter Künstlerinnen neu vor: Ruth Cahn, Rosy Lilienfeld, Erna Pinner. Auch über sie sind neue Artikel im Frankfurter Personenlexikon in Bearbeitung; über Erna Pinner lässt sich vorab schon einmal der Altartikel aus der Buchausgabe „Frankfurter Biographie“ online im FP finden.

Die aktuelle Lieferung des Frankfurter Personenlexikons befasst sich mit weiteren (fast) vergessenen Persönlichkeiten. Der Labormediziner Wilhelm Eilbott und der Pharmakologe und Physiologe Otto Riesser konnten in der NS-Zeit ihr Leben durch die Emigration aus Deutschland retten. Ihre Karrieren aber wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft abgebrochen. Nach Eilbott ist immerhin ein Leberfunktionstest („Bergmann-Eilbott-Test“) benannt, den der junge Mediziner im Rahmen seiner Promotionsarbeit 1925 bei dem Internisten Gustav von Bergmann in Frankfurt entwickelte.
Der bereits 1915 verstorbene Lehrer Harald Schütz, der am Frankfurter Gymnasium Mathematik und Physik unterrichtete, wurde in der Wissenschaftsgeschichte lange nur als Studienfreund des berühmten Optikers Ernst Abbe wahrgenommen. Erst jetzt wurde er von der Schopenhauer-Forschung als der jüngste Anhänger des Philosophen zu dessen Lebzeiten entdeckt. Schon mit 16 Jahren schrieb Schütz 1857 einen Schulaufsatz über Schopenhauer, nachdem er dessen Werke gelesen hatte. Allerdings lebte er damals noch in seiner Geburtsstadt Bielefeld, und als er 1862 nach Frankfurt kam, war Schopenhauer schon gestorben. Der ganze Lebenslauf von Harald Schütz, übrigens Vater des einst gefeierten „Sprachgenies“ Ludwig Harald Schütz, findet sich jetzt im Frankfurter Personenlexikon.

Fast philosophisch ist auch der Spruch, den ein sechsjähriges „Buchkind“ aus Leipzig aufgeschrieben hat: „MAN KAn ALes dreHen. AUSer die welt, di dret sich Gans fon ALein“, steht da in flottem Gekrakel auf einer Postkarte, die ich vor vielen Jahren erworben und seitdem über meinem Schreibtisch hängen habe. Das mag fatalistisch klingen, aber ich finde es auch irgendwie tröstlich. Vielleicht darf man sich manchmal auch Urlaub von der Welt nehmen. Dann könnte man doch wenigstens zu Weihnachten einmal die Welt vergessen. Und sich wünschen, dass es bei der unweigerlich notwendigen Rückkehr zur Realität kein böses Erwachen gibt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen gesegnete Feiertage und einen zuversichtlichen Start in das Neue Jahr, das allerlanden den ersehnten Frieden auf Erden bringen möge!
Ich würde mich freuen, wenn wir uns auch 2023 wieder an dieser Stelle online „treffen“ würden.

Herzlichst
Ihre Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons

P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. Januar 2023.