D. kam aus einer Kaufmannsfamilie jüdischer Abstammung. Sohn des Tuchhändlers Ludwig, gen. Louis, D. (1796-1838) und dessen Ehefrau Emma, geb. Herzfeld (1803-1871). Schwester: Clara D. (seit 1858 verh. Gurckhaus, 1833-1900). Verheiratet (seit 1861) mit der Schauspielerin
Friederike Rosalie D., geb. Meisinger (1841-1907), Tochter des Theaterdirektors und Schauspielers Georg Meisinger (1802-1866), des Librettisten von Albert Lortzing. Vier Kinder: Carl
Felix D. (1863-1922), Numismatiker und Münzhändler in Ffm.;
Albert Maria D. (1865-1924), Kunsthistoriker und Bibliothekar; Emma
Margarete, gen. Gretchen, D. (1874-1944), Chorleiterin und Gesangslehrerin; Heinrich Johannes, gen.
Hans, D. (1876-1915), Offizier. Die Tochter Margarete D., Dozentin und Chorklassenleiterin am Hoch’schen Konservatorium in Ffm., wurde als Leiterin des von ihr 1902 begründeten und nach ihr benannten Frauenchors („D.’scher Frauenchor“) bekannt.
D. wurde in Leipzig im Brühl 24, wenige Meter vom Geburtshaus
Richard Wagners entfernt, geboren und am 30.1.1835 in der Nikolaikirche getauft. Den ersten Musikunterricht erhielt er von seiner Mutter. Bereits mit 14 Jahren fasste er den Entschluss, Musiker zu werden, und wurde darin von
Franz Liszt bestärkt, dem er im Mai 1849 in Weimar vorgespielt hatte. Seit 1851 studierte D. Komposition, Klavier und Dirigieren am Leipziger Konservatorium bei Moritz Hauptmann (1792-1868), Ignaz Moscheles (1794-1870) und Julius Rietz (1812-1877). Ab 1854 war er als Theaterkapellmeister in Altenburg, Chemnitz, Düsseldorf, Aachen, Magdeburg und Kassel tätig. Damit erwarb er sich eine umfängliche Theaterpraxis und Repertoirekenntnis.
1859 wurde D. zu mehreren Probedirigaten an die Wiener Hofoper eingeladen, wo er – damals ungewöhnlich – auswendig dirigierte. Die Begeisterung von Orchester und Publikum trug ihm einen Vertrag als Kapellmeister der Wiener Hofoper ein, den er zum 1.1.1860 antrat. Am 26.9.1860 wurde er – erst 25-jährig – in geheimer demokratischer Abstimmung zum Leiter der Philharmonischen Konzerte in Wien gewählt, was als Sensation verbucht wurde. Damit hatte der junge Ausländer aus Sachsen den eigentlichen Favoriten, den gebürtigen Wiener und langjährigen Konzertmeister Joseph Hellmesberger (1828-1893), mit 62 zu 14 Stimmen klar ausgestochen. Im März 1861 übernahm D. außerdem eine Professur für Kompositionslehre am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Zu seinen Schülern gehörten die Komponisten Ignaz Brüll (1846-1907), Robert Fuchs (1847-1927), Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) und Richard Heuberger (1850-1914) sowie die Dirigenten Felix Mottl (1856-1911), Arthur Nikisch (1855-1922) und Ernst von Schuch (1846-1914). D. führte die Wiener Philharmoniker 1869 in den prächtigen Neubau der Hofoper am Ring (für Musiktheater) und 1870 in den Goldenen Saal des neu eröffneten Musikvereinsgebäudes (für Konzerte) ein.
D. gehörte zu den weltweit besten Dirigenten. Er pflegte ein klassisches Repertoire, zeigte sich jedoch auch offen für die Entwicklungen der neuen Musik, dirigierte z. B.
Joachim Raffs Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 153 „Im Walde“,
Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ und besuchte 1876 die ersten Bayreuther Festspiele. Den Sinfonien Anton Bruckners (1824-1896) gegenüber war er allerdings kritisch eingestellt und verhinderte teilweise ihre Aufführung. Eine enge Freundschaft verband D. mit
Johannes Brahms, für dessen Werke er sich besonders einsetzte. Er widmete
Brahms sein Streichquartett op. 7 (im Druck 1879), wohl wissend, dass seine kompositorische Kapazität nicht an die Genialität des Freundes heranreichte. Aufgrund einiger gegen ihn gerichteter Intrigen kündigte D. seine Spitzenposition in Wien und ging zum 15.4.1875 an das zwar kleinere, aber künstlerisch angesehene Hoftheater nach Karlsruhe.
Als für das neu erbaute Ffter Opernhaus ein Erster Kapellmeister von internationalem Rang gesucht wurde, bemühte sich Intendant
Emil Claar um die Verpflichtung von D. Als Chefdirigent in Ffm. erhielt D. ein Jahresgehalt von 15.000 Mark und zählte damit zu den bestbezahlten Dirigenten Deutschlands. Schon D.s erstes Dirigat am 13.10.1880 im alten Komödienhaus mit Beethovens „Fidelio“ begeisterte die Ffter.
Clara Schumann vermerkte in ihrem Tagebuch: „(…) eine vortreffliche Aufführung – ein Hochgenuß all die herrlichen Ensembles einmal wieder, fein, künstlerisch ausgeführt zu hören.“ (Zit. nach Litzmann: Clara Schumann 1902-08, Ausgabe 1920, Bd. 3, S. 414.) Am 20.10.1880 wurde das Ffter Opernhaus (heute: Alte Oper) mit einer Aufführung von
Mozarts „Don Juan“ („Don Giovanni“) unter der musikalischen Leitung von D. feierlich eröffnet. In den folgenden Jahren sorgte D. in Zusammenarbeit mit dem Intendanten
Emil Claar für den Aufbau eines fähigen Ensembles und eines weitgespannten Repertoires. D.s besondere Liebe galt den neuesten Werken der französischen und italienischen Oper. Zu den Erstaufführungen unter D. in Ffm. zählten u. a. Verdis „Aida“ (1880), Bizets „Carmen“ (1881), Goldmarks „Königin von Saba“ (1881), Delibes „Lakmé“ (1883), Saint-Saëns’ „Heinrich der Achte“ (1887) und Massenets „Der Cid“ (1887), aber auch
Wagners „Meistersinger“ (1884) und „Tristan und Isolde“ (1884). Bereits 1882/83 hatte die Ffter Oper unter D.s Dirigat eine Gesamtaufführung von
Wagners Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ (als Ffter EA) herausgebracht. Nach
Wagners Tod im Februar 1883 veranstaltete das Ffter Opernhaus eine viertägige Trauerfeier mit den Opern „Lohengrin“, „Das Rheingold“, „Die Walküre“ und „Siegfried“, die unter D.s Leitung nacheinander am 25.2., 27.2., 1.3. und 3.3.1883 gespielt wurden.
Zur Bestürzung der Ffter Musikwelt starb D. am 28.10.1892 an den Folgen eines Schlaganfalls. Noch 25 Jahre später würdigte Intendant
Emil Claar ihn und seine Leistung mit einem „Gedenkblatt“ in der Ffter Zeitung: „Ein echter
Künstler war er, der die Begabung hatte, die unsterblichen Werke unserer Tondichter in genialem, tiefspürendem
Nachschaffen stilrein zu vermitteln; ein
Meister, der den ganzen kostbaren Schatz einer Partitur, ihr in den Tiefen funkelndes Goldgewebe, in den feinsten, leisesten Gliederungen und Verästelungen, klar und durchsichtig hell erstehen ließ; ein zielsicherer
Führer, der mit ruhevoller Vornehmheit den verzweigten Gesamtkörper beherrschte und das Orchester zu einheitlicher, lebendiger, willensatmender Kraft, zu der Schlagfertigkeit eines
Individuums zusammenraffte und zusammenhielt, um durch innerste Erfüllung aller Rhythmen, durch vibrierende Beseelung jedes musikalischen Gedankens und endlich – feinfühlig schattierend – mit wachsendem, schwellendem Aufschwung in Tempo und Forte, die Hörer fortzureißen und zu erschüttern.“ [
Emil Claar: Otto Dessoff. Ein Gedenkblatt (…). In: FZ, Nr. 359, 29.12.1917, Erstes Morgenblatt, S. 2.]
Von D.s Kompositionen (Kammermusikwerke, Klaviersonaten und Lieder) wurden nur wenige veröffentlicht.
Grabstätte auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann G 898).
Ein Teil des Nachlasses von D. wird in einem Festakt voraussichtlich Ende 2023 aus Familienbesitz an die UB Ffm. übergeben.
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde D. wegen seiner Herkunft aus einer ursprünglich jüdischen Familie in der Musikgeschichte totgeschwiegen. Erst spät erinnerte sich die Nachwelt wieder an den herausragenden Dirigenten und sein Wirken. Die wissenschaftliche Würdigung D.s setzte mit dem von Joachim Draheim, Gerhard Albert Jahn u. a. herausgegebenen Sammelband „Otto Dessoff (1835-1892). Ein Dirigent, Komponist und Weggefährte von
Johannes Brahms“ (2001) ein, der eine Wanderausstellung begleitete, die anlässlich des 125. Jahrestags der Eröffnung des Ffter Opernhauses 2005 auch in Ffm. (im Museum Judengasse) zu sehen war. Im Rahmen des Projekts „Musikstadt Fft.“ der Ffter Bürgerstiftung wurde D. und seinem Wirken an der Ffter Oper 2022 eine von Ulrike Kienzle kuratierte Ausstellung im Ffter Holzhausenschlösschen gewidmet.
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Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 153,
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