Sohn eines Lehrers und Organisten aus Württemberg, der aus Furcht vor einer Zwangsrekrutierung durch
Napoleon in die Schweiz geflüchtet war, und einer schweizerischen Mutter. Verheiratet (seit 1859) mit der Schauspielerin Wilhelmine Therese Dorothea, gen.
Doris, R., geb. Genast (1827-1912). Eine Tochter: Helene R. (1865-1942), Malerin und Schriftstellerin, die u. a. Texte für Kompositionen ihres Vaters (unter Pseudonym) und eine Biographie ihres Vaters (1925) verfasste.
R. besuchte zunächst ein Gymnasium in Württemberg, später das Jesuitenkolleg in Schwyz. Eine systematische musikalische Ausbildung erhielt er nicht; Klavier, Orgel, Violine und Komponieren brachte er sich weitgehend autodidaktisch bei. Nach dem Abitur übernahm R. 1840 die Stelle eines Schullehrers in Rapperswil. Neben dem Beruf komponierte er erste Klavierwerke und schickte sie an
Felix Mendelssohn Bartholdy, der ihnen höchste Anerkennung zollte und sie dem Verlag „Breitkopf & Härtel“ zur Publikation empfahl. Ermutigt durch diesen Erfolg, kündigte R. 1844 seine gesicherte Stellung als Lehrer und wagte eine Existenz als freischaffender Komponist.
1845 wanderte R. nach Basel, wo der von ihm bewunderte
Franz Liszt ein Konzert gab.
Liszt erkannte die Begabung des jungen Mannes und wollte ihn als Assistenten verpflichten, doch R. zog nach kurzem Verweilen bei
Liszt in Weimar 1848 die freiberufliche Tätigkeit vor. Nach Stationen in Köln, wo er als Musikkritiker für sein strenges Urteil gefürchtet war, und Stuttgart, wo er als Musikpädagoge und Komponist ein eher kärgliches Auskommen fand, kehrte er 1850 zu
Liszt nach Weimar zurück. Dort hatte er Anteil an der Orchestrierung einiger Orchesterwerke von
Liszt und half seinem Mentor bei der Organisation der Musikfeste. R.s in Stuttgart komponierte Oper „König Alfred“ wurde auf Betreiben
Liszts 1851 am Weimarer Hoftheater mit beachtlichem Erfolg uraufgeführt. Zu Spannungen mit
Liszt kam es 1854, als R. seinen Essay „Zur
Wagnerfrage“ verfasste, in dem er sich kritisch mit den Frühwerken
Wagners bis zum „Lohengrin“ auseinandersetzte und zugleich musiktheoretische Thesen vertrat, die für sein späteres Ffter Wirken als Kompositionslehrer bedeutsam werden sollten. Bereits in Stuttgart war R. dem Pianisten und Dirigenten
Hans von Bülow begegnet, mit dem ihn zeitlebens eine enge Freundschaft verband.
R. hatte in Weimar die Schauspielerin Doris Genast kennengelernt, deren Großvater und Vater noch unter der Direktion
Goethes am Weimarer Theater gewirkt hatten, und sich mit ihr verlobt. 1856 zog er zu seiner Braut, die ein Engagement am Herzoglich Nassauischen Hoftheater erhalten hatte, nach Wiesbaden; das Paar heiratete 1859. In Wiesbaden gelang R. der eigentliche Durchbruch als Komponist. Sein hier entstandenes Œuvre umfasst Werke aller Gattungen: Klavier- und Kammermusik, Kantaten, Oratorien, Sololieder und Opern sowie neun seiner insgesamt elf Sinfonien. R. gehörte seit den 1870er Jahren zu den meistgespielten Komponisten seiner Zeit. Sein Streichquartett Nr. 3 e-Moll op. 136 wurde am 3.3.1873 in einem Kammerkonzert der Ffter Museums-Gesellschaft aufgeführt. Der Geiger
Hugo Heermann, Konzertmeister und Leiter der Kammermusikreihe der Museums-Gesellschaft, schrieb dem Komponisten, dass „noch nie (...) ein neues Werk in Frankfurt so rasch Sympathie gefunden“ habe (zit. nach Cahn: Hoch’sches Konservatorium 1979, S. 24). Im Gegenzug widmete R. dem Geiger seine Suite für Solo-Violine und Orchester op. 180, die am 2.1.1874 in einem Sinfoniekonzert der Ffter Museums-Gesellschaft gespielt wurde. Zuvor hatte R.s beliebte Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 153 „Im Walde“ am 7.11.1873 unter der Leitung des Komponisten ebenfalls in einem Sinfoniekonzert der Ffter Museums-Gesellschaft ihre erfolgreiche Aufführung erlebt. Seither hatten sowohl Philipp Hartmann (1823-1883), Vorsitzender der Ffter Museums-Gesellschaft, als auch
Hugo Heermann ein Auge auf R.
Diese Erfolge in Ffm. trugen 1877 entscheidend zur Berufung R.s als erster Direktor an die neu gegründete Musikschule „Dr. Hoch’s Konservatorium“ in Ffm. bei. R. siedelte mit seiner Familie nach Ffm. über und wohnte in der Leerbachstraße 39. Seine erste Sorge galt der Verpflichtung international anerkannter Lehrkräfte. Dabei gelang ihm eine Kombination aus Vertretern der konservativen Schule und der neudeutschen Schule, zu der er selbst aufgrund seiner langjährigen Zusammenarbeit mit
Franz Liszt gerechnet wurde. Der von R. ausgearbeitete Lehrplan zeigt das ambitionierte Vorhaben, in einem fünfjährigen Studiengang die praktische Musikausbildung mit einem musikwissenschaftlichen Studium zu verbinden. Auch Unterricht in Sprachen gehörte zum Lehrplan. Später richtete er eine Kompositionsklasse für weibliche Studierende ein, was damals ein Novum war.
Am 22.9.1878 wurde Dr. Hoch’s Konservatorium feierlich eröffnet. Mit renommierten Lehrkräften wie dem Bariton
Julius Stockhausen, der Pianistin
Clara Schumann, dem Cellisten
Bernhard Cossmann und dem Geiger
Hugo Heermann gelang es R. innerhalb weniger Monate, das Konservatorium als überregional und bald auch international anerkannte Lehranstalt zu etablieren. Allerdings kam es bald zu Spannungen mit
Stockhausen, der das Konservatorium verließ und seine eigene Musikschule gründete.
Hans von Bülow und
Franz Liszt besuchten das Hoch’sche Konservatorium mehrfach. Die Feier zum 50. Künstlerjubiläum von
Clara Schumann 1878 und eine
Franz-Liszt-Feier 1879 trugen zur internationalen Wahrnehmung des Konservatoriums bei.
R. kümmerte sich persönlich um sämtliche bürokratischen Belange der Lehranstalt, führte Sekretariat und Bibliothek selbst, verhandelte mit den Lehrkräften und wirkte erfolgreich als Kompositionslehrer. Er war ein anspruchsvoller, intellektueller wie inspirierender Pädagoge, der (nach einem Zeugnis des Geigers
Fritz Bassermann, der später selbst am Konservatorium unterrichten sollte) mit seinem umfassenden Wissen nicht nur in der Musik, sondern auch in Mathematik und Sprachen seine Schüler und Schülerinnen überraschte. Als Kompositionslehrer folgte er einer präzisen und selbst entwickelten Methode, wie der Musikwissenschaftler Christoph Hust (* 1973) neuerdings nachgewiesen hat. Selbst der Musiktheoretiker Hugo Riemann (1849-1919) zeigte sich von R.s Musiktheorie beeindruckt. Allerdings versäumte es R., seine Methode auch in Buchform zu veröffentlichen. Grundsätzlich vermied er die Einbeziehung eigener Werke in den Unterricht und in das Konzertprogramm des Konservatoriums, um seine Studierenden nicht zur unselbstständigen Nachahmung zu verleiten. R.s berühmtester Schüler war der US-amerikanische Komponist Edward MacDowell (1861-1908), dessen erstes Klavierkonzert von R. an
Franz Liszt zur Kenntnis gebracht wurde.
In seinen Ffter Jahren komponierte R. trotz seiner umfangreichen Verpflichtungen als Direktor des Konservatoriums eine beachtliche Zahl bedeutender Werke, darunter die Sinfonien 9 e-Moll op. 208 „Der Sommer“ (1878) und Nr. 10 f-Moll op. 213 „Zur Herbstzeit“ (1879), mehrere Orchestervorspiele zu Dramen Shakespeares, die Kantaten „Die Tageszeiten“ op. 209 für Chor, Klavier und Orchester (Text: Helene R. unter dem Pseudonym Helge Heldt; 1877) und „Die Sterne“ WoO 53 (Text: Helene R.; 1880), den Liederzyklus „Blondel de Nesle“ op. 211 (Texte: Helene R. unter dem Pseudonym Helge Heldt; 1880), eine komische Oper „Die Eifersüchtigen“ WoO 54 (1881-82) sowie sein Hauptwerk, das Oratorium „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ op. 212 (1879-81).
Obwohl international geschätzt, war R. in seinem Wirken als Direktor des Konservatoriums zunehmend Auseinandersetzungen und Intrigen ausgesetzt, die letztlich auf seine Absetzung zielten. Möglicherweise haben diese Differenzen zu seinem überraschenden Herztod in der Nacht vom 24. auf den 25.6.1882 geführt.
Als Nachfolger übernahm der eher klassisch-traditionelle
Bernhard Scholz die Leitung des Hoch’schen Konservatoriums. Auf Initiative von
Hans von Bülow gründeten daraufhin die fortschrittlichen Lehrkräfte im April 1883 das „R.’sche Konservatorium“, das bis 1923 bestand.
R. komponierte insgesamt etwa 300 Werke, darunter sechs Opern, elf Sinfonien, ein Oratorium und über 90 Lieder. Bedeutung und Ruhm von R. als Komponist hatten schon in seinen letzten Lebensjahren erheblich abgenommen, was auch seinem eigenen mangelnden Einsatz für sein Werk geschuldet war. Nach R.s Tod geriet sein Werk zunehmend in Vergessenheit, obwohl z. B. Tschaikowsky in seinem Schaffen ausdrücklich auf R.s Sinfonien Bezug nahm. R.s Kompositionen lassen sich in ihrer Vielschichtigkeit nicht in gängige Schemata pressen. Sie sind von großer technischer Meisterschaft und formal überzeugender Logik bei durchaus moderner Harmonik und Instrumentation, gehören aber aufgrund ihrer Orientierung an formalen Modellen von
Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Chopin,
Liszt und
Wagner nicht eindeutig der neudeutschen Schule an. R. versuchte vielmehr eine produktive Synthese der Richtungen, was sich auch in der Auswahl des Lehrkörpers am Hoch’schen Konservatorium spiegelt, an dem „Konservative“ und „Neudeutsche“ sich zunächst die Waage hielten. Gemäß seiner Vorstellung von Musik als Kunst
und Wissenschaft wollte R. dadurch seinen Studierenden ein möglichst breites Spektrum verschaffen.
Werkausgaben: Stuttgarter Werkausgabe (Edition Nordstern, ab 1994), kritische Urtext-Ausgabe (Verlag Breitkopf & Härtel in Zusammenarbeit mit der Joachim-R.-Gesellschaft, bisher zehn Editionen bis 2023).
Ölporträt (von Heinrich Georg Michaelis, 1882) aus dem Eigentum des HMF als Dauerleihgabe im Joachim-R.-Archiv der Joachim-R.-Gesellschaft in Lachen (Schweiz).
Grabdenkmal mit Porträtbüste (von
Ludwig Sand, 1903) auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann D 298). Das Grabmal entstand auf Initiative
Hans von Bülows, der nach R.s Tod eine Spendensammlung zu diesem Zweck anregte.
Die Joachim-R.-Gesellschaft in Lachen am Zürichsee setzt sich seit 1972 für das Andenken an R. und die wissenschaftliche Erforschung von dessen kompositorischem Werk ein. Sie unterhält das 2018 gegründete Joachim-R.-Archiv in Lachen, das auch online genutzt werden kann.
Zum 200. Geburtstag 2022 zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Aufführungen von R.s Werken, u. a. Symposien in Lachen am Zürichsee und an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Ffm., Uraufführungen von R.s Opern „Samson“ in Weimar und „Die Eifersüchtigen“ in Arth (Schweiz) sowie Ausstellung mit Vortrag der Ffter Bürgerstiftung im Holzhausenschlösschen; auch Ersteinspielungen seiner Werke erschienen, darunter eine umfangreiche Liededition mit dem Ffter Pianisten Hedayet Djeddikar.
.
Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 164f.,
.