Wichert, Friedrich Karl Adolf, gen. Fritz. Dr. phil. Kunsthistoriker. * 22.8.1878 (Mainz-)Kastel, † 24.1.1951 Kampen/Sylt.
Von 1899 bis 1907 Studium der Philosophie und Kunstgeschichte in Freiburg, Basel und Berlin, u. a. bei Heinrich Wölfflin, abgeschlossen mit der Promotion in Freiburg. Von 1907 bis 1909 wissenschaftlicher Assistent von
Georg Swarzenski am Städelschen Kunstinstitut in Ffm. Parallel arbeitete W. als Autor für das Feuilleton der FZ, mit dessen Mitherausgeber
Heinrich Simon er seit dem Studium befreundet war. Von 1909 bis 1922 Gründungsdirektor der Mannheimer Kunsthalle. Dort baute W. die Sammlung französischer und deutscher Malerei von der Romantik bis zur Gegenwart auf und mobilisierte eine stetig wachsende Kunst- und Kulturszene. Er initiierte den „Freien Bund zur Einbürgerung der bildenden Kunst“ in Mannheim und entwickelte ein Vermittlungsprogramm mit regem Vortragswesen, Führungen und Ausstellungen. In Nachfolge des kunstpädagogischen Ansatzes von Alfred Lichtwark bemühte er sich um eine Verankerung der kulturellen Institutionen in der Stadt unter Einbeziehung der Mannheimer Bevölkerung. W.s Unternehmungen in Mannheim avancierten zu einer Volksbewegung, die mit 7.000 Mitgliedern als ein gelungenes Modell städtischer Kunstpolitik angesehen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg, währenddessen W. im diplomatischen Dienst in den Niederlanden für die deutsche Kulturpropaganda und den Aufbau einer Exilpresse verantwortlich war und ab 1917 als Privatsekretär des Außenministers Richard von Kühlmann in Berlin arbeitete, kehrte er an die Mannheimer Kunsthalle zurück.
1922 wurde W. nach Ffm. berufen, um ab April 1923 als Gründungsdirektor die städtische Kunstschule neu aufzubauen. Schon 1921 war die vormals von der „Gesellschaft zur Beförderung nützlicher Künste und deren Hilfswissenschaften“ (Polytechnischen Gesellschaft) unterhaltene Kunstgewerbeschule in städtische Trägerschaft übergegangen. 1922 sah sich auch das Städelsche Kunstinstitut außerstande, weiterhin eine eigene Kunstschule zu betreiben. Unter der Bedingung einer Zusammenlegung der beiden Kunstschulen erklärte sich die Stadt Ffm. auch zur Übernahme der Städelschule bereit. W. sollte den Zusammenschluss der Schulen zu einer Hochschule für freie und angewandte Kunst vorbereiten und umsetzen. Die Neugestaltung der Kunstschule durch W. war Teil der sozialen wie ästhetischen Reformbemühungen des „Neuen Fft.“ unter Oberbürgermeister
Ludwig Landmann. In der Entwicklung der pädagogischen Leitlinien für die Ffter Kunstschule spielte das Weimarer Bauhaus eine wichtige Rolle. Der Vorbildcharakter des Bauhauses und die Annäherung an dessen Unterrichtskonzept spiegeln sich in W.s Konzeption der Kunstschule wider.
Nach einer knapp zweijährigen Einarbeitungs- und Konzeptionsphase, in der W. seine Reformpläne immer wieder in öffentlichen Vorträgen und vor der Ffter Künstlerschaft präsentierte und dadurch die Diskussion um das städtische Kunstschulwesen anregte, folgte die Umsetzung: An der Kunstgewerbeschule wurden zwei Vorklassen und zwei Meisterateliers eingerichtet, die Bereiche der freien Kunst, Malerei, Grafik und Bildhauerei neu organisiert sowie die Textilabteilung (mit Weberei und Stoffdruck), die Modeklasse, die Abteilung für Werbegrafik und Typografie, die Metallklasse, die Abteilung für Emaille, Schmuck und Geräte und – als besonderer Schwerpunkt – die Architekturabteilung, bestehend aus Hochbau und Innenausstattung, aufgebaut. Mit Unterstützung der Stadtverwaltung bemühte sich W. Anfang 1925, als das Bauhaus in Weimar aufgelöst wurde, dessen Lehrkörper an die Ffter Kunstgewerbeschule anzugliedern. Die Verhandlungen zur Übersiedlung scheiterten jedoch. Mit
Josef Hartwig als Werkstattmeister für Bildhauerei,
Christian Dell als Leiter der Fachklasse für Metall und Karl Peter Röhl als Leiter der Vorklassen konnten einige Weimarer Lehrkräfte für die Ffter Kunstschule gewonnen werden. Darüber hinaus wurden auf W.s Initiative hin namhafte Künstler wie
Max Beckmann,
Richard Scheibe,
Willi Baumeister, Adolf Meyer und Paul Renner an die Schule berufen.
Ein wichtiger Teil des Reformkonzepts für die Kunstgewerbeschule war die Planung eines Neubaus, die W. zusammen mit der Stadtverwaltung organisierte. Das neue Schulgebäude sollte mit einer zeitgemäßen Ausstattung den Bedürfnissen des veränderten Lehrkonzepts gerecht werden und ideale Arbeitsbedingungen für Schüler und Lehrer gewährleisten. Längst herrschte aufgrund der steigenden Schülerzahlen akuter Platzmangel am bisherigen Standort in der Neuen Mainzer Straße 47. Die Gestaltung des Neubaus am Mainufer sollte nach außen hin ein Bekenntnis zum gestalterischen Reformgeist abgeben.
Martin Elsaesser wurde im November 1925 die alleinige Entwicklung des Projektentwurfs übertragen. Angesichts der wirtschaftlichen Lage der Stadt Ffm. wurde die Realisierung immer wieder verschoben und letztlich nicht umgesetzt.
W. trieb den Ausbau der Schule trotzdem kontinuierlich voran. Durch regelmäßige Ausstellungen in den Jahren von 1925 bis 1931 wurde das Schaffen an der Kunstgewerbeschule öffentlich präsentiert. W. intensivierte die Praxisnähe der Kunstschule durch Kooperationen mit der ortsansässigen Industrie, etwa der Textilabteilung mit der IG Farbenindustrie, und die Zusammenarbeit der Abteilungen für Architektur, Möbel- und Raumkunst sowie Typografie mit dem städtischen Hochbauamt, das seit 1925 von
Ernst May geleitet wurde. Der Unterricht wurde an konkreten städtebaulichen Projekten ausgerichtet. Aufgrund von Personalunionen bestand eine enge Verzahnung von Kunstgewerbeschule und Hochbauamt. So war Adolf Meyer bei der städtischen Bauberatung tätig und zugleich der Leiter der Hochbauklasse an der Kunstgewerbeschule.
Ferdinand Kramer, Leiter der Abteilung für Typisierung am Hochbauamt, hielt Vorlesungen über funktionelle Architektur und unterrichtete in der Klasse für Innenarchitektur. Hauptamtlich an der Schule angestellte Lehrer erhielten städtische Aufträge, u. a. Franz Schuster, Lehrer für Innenarchitektur, der zugleich am Bau einiger Siedlungen von
Ernst May beteiligt war. Obwohl das Land Preußen sich weigerte, die Kunstgewerbeschule als staatliche Kunsthochschule anzuerkennen, gelang es W., sie neben Dessau, München und Berlin zu einer der führenden Kunstschulen der Weimarer Republik auszubauen.
Ab 1928 war W. Mitherausgeber der zwei Jahre zuvor von
May gegründeten Monatsschrift „Das Neue Fft.”, für die er auch selbst zahlreiche Beiträge verfasste. Die Berichterstattung der Zeitschrift erweiterte er um die Themengebiete Musik, Rundfunk und Theater. Seit 1926 übte W. zudem das Amt des Stadtkunstwarts aus. Als Referent für Kunstpflege beriet er die städtischen Gremien bei Gestaltungs- und Einrichtungsfragen, Werbetätigkeiten sowie bei Projekten zur Förderung der zeitgenössischen Kunst und nahm damit Einfluss auf die Ausrichtung der kommunalen Kunstpflege. Seine Aktivität als Kunstwart erstreckte sich auch auf die Bereiche des Sammlungs- und Ausstellungswesens von zeitgenössischer Kunst sowie auf das Vortragswesen in der Stadt. Auf W.s Initiative hin wurde
Richard Scheibe, Leiter der Bildhauerklasse der Kunstgewerbeschule, mit der Schaffung der Skulptur für das
Friedrich-Ebert-Denkmal an der Ffter Paulskirche (1926) beauftragt. Mit der Organisation der Ausstellung „Vom Abbild zum Sinnbild“ (1931), einer didaktischen Schau zur zeitgenössischen Malerei, konkretisierte W. seine Absichten und knüpfte an seine Arbeit als Kurator und Museumsdirektor in Mannheim an. W.s Verpflichtung zur Förderung der modernen Kunst in Ffm. schlug sich außerdem in seinem Engagement für die Ffter Künstlerhilfe nieder. Schließlich trieb er, nach dem Modell des Mannheimer Freien Bundes, die Gründung einer entsprechenden Ffter Bewegung voran, wozu es infolge seiner Amtsenthebung 1933 jedoch nicht mehr kommen sollte. Zusammen mit
Hans Flesch und Hermann Schubotz entwickelte W. als Vorsitzender des Kulturbeirats des Südwestdeutschen Rundfunks 1927 die Sendereihe „Gedanken zur Zeit“.
Als Bezirkskonservator für den Regierungsbezirk Wiesbaden (seit 24.9.1923) war W. während seiner zehnjährigen Tätigkeit in Ffm. auch in der Denkmalpflege tätig. In diesem Zusammenhang befasste er sich u. a. mit dem Problem der Ffter Altstadtsanierung und war gemeinsam mit
Ernst May maßgeblich an der Einrichtung eines Altstadtkatasters (ab 1928) beteiligt, das die bis dato herrschende Kontroverse über die Behandlung des Ffter Altstadtkerns klären sollte.
W. verfügte über ein gut funktionierendes Netzwerk, auch über das Rhein-Main-Gebiet hinaus, wie etwa die deutschlandweit in verschiedenen Zeitungen erschienenen Artikel anlässlich seines 50. Geburtstags am 22.8.1928 belegen. Seine berufliche Karriere und vielversprechenden kulturpolitischen Tätigkeiten in Ffm. wurden durch die Nationalsozialisten abrupt beendet. Im März 1933 wurde W. seiner Ämter enthoben. In einem langwierigen juristischen Prozess erreichte er seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand (ab 1.4.1934) und zog sich in die innere Emigration auf die Insel Sylt zurück. In seinem dortigen Domizil, dem von ihm errichteten „Wicherthof“, empfing er weiterhin Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur. 1946 wurde er zum ersten demokratischen Bürgermeister der Gemeinde Kampen gewählt; er bekleidete das Amt bis 1948. Nach längerer Krankheit starb W. 1951.
1932 bekam W. von der Stadt Ffm. die Goetheplakette, die als Erinnerungsmedaille an Persönlichkeiten mit besonderen Verdiensten um die Gestaltung von Veranstaltungen zum Goethejahr vergeben wurde. Laut Zeitungsnachrufen von 1951 wurde ihm außerdem vom preußischen Innenminister einmal eine Freiherr-vom-Stein-Plakette überreicht, wobei es sich wahrscheinlich um die Erinnerungsmedaille zum Stein-Gedenkjahr handeln dürfte, die als „Ehrenpreis des Reichspräsidenten“ zum Verfassungstag 1931 verschenkt wurde.
Porträtbüste (von Alexander Archipenko, 1923) in der Sammlung der Kunsthalle Mannheim.
Nachlass im Stadtarchiv Mannheim.
Seit 2013 Fritz-W.-Ring auf dem Riedberg.
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Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 556f.,
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