Leistikow, Margarete (eigentl.: Margarethe) Franziska Bertha, gen. Grete, verh. Hebebrand. Fotografin. * 5.7.1893 Elbing/Ostpreußen, † 9.10.1989 München, beigesetzt in Marburg.
Grete L. gestaltete mit ihrem Bruder
Hans L. von 1927 bis 1930 die Zeitschrift „Das Neue Fft.“ und fotografierte zahlreiche Bauwerke dieser Epoche.
Aus einer Apothekerfamilie. Der in Bromberg geborene Vater
Johannes Karl Ferdinand L. (1863-1897) hatte 1891 die Apotheke „Schwarzer Adler“ in Elbing/Ostpreußen gekauft und im Sommer desselben Jahres Katharina Franziska Hildegard, gen.
Käte, Zachler (1869-1945) aus Breslau geheiratet. Aus der Ehe stammten drei Kinder:
Hans (* 4.5.1892), Grete (* 5.7.1893) und Wolf (auch: Wolff; * 6.6.1896). Die familiäre Situation war schwierig. Der Vater konnte die auf der Apotheke liegende Hypothek nicht zurückzahlen, begann zu trinken und nahm sich mit 34 Jahren 1897 das Leben. Die Mutter zog mit den drei Kindern nach Breslau, wo sie von 1905 bis 1925 eine Privatklinik führte.
Grete L. absolvierte von 1909 bis 1911 eine Ausbildung als Fotografin in Breslau in dem angesehenen Fotoatelier Eduard van Delden, das seit 1907 im Besitz des Architekturfotografen Heinrich Götz (1866-1931) war. Nach dem Abschluss der Lehre wechselte L. in das ebenfalls in Breslau ansässige Atelier der Porträtfotografin Elfriede Reichelt (1883-1953), die als eine der ersten Frauen von 1906 bis 1908 an der Münchner „Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie“ studiert und um 1909 ihr eigenes Atelier eröffnet hatte. In Reichelts „Werkstätte für Photographische Bildnisse“ war L. die erste und langjährigste Mitarbeiterin; sie machte bei Reichelt möglicherweise auch den Meister und arbeitete dort 16 Jahre lang bis zu ihrem Wechsel nach Ffm. Im Nachlass L.s (in Privatbesitz) haben sich zahlreiche Fotos von Elfriede Reichelt erhalten, die deren Mitarbeiterin Grete L. zeigen. L., die sich stark am Stil ihrer Chefin orientierte, fotografierte mehrfach ihre Brüder
Hans, der von 1908 bis 1913 an der Staatlichen Akademie für Kunst und Kunstgewerbe unter
Hans Poelzig studierte, und Wolf, der früh an Diabetes starb (1914). Als Auftragsarbeiten nahm sie Porträts des Schriftstellers
Gerhart Hauptmann, des Architekten Erich Zimmermann (eines Mitarbeiters von
Poelzig), des Dichters Ernst Thrasolt (1878-1945), des Nationalökonomen Rudolf Meerwarth (1883-1946) u. a. auf (Originalabzüge, mit Ausnahme des
Hauptmannporträts, in L.s Nachlass in Privatbesitz). Dem Ehepaar Hauptmann war sie auch familiär verbunden; im Jahr 1910 schenkte Margarete Hauptmann (1874-1957) ihr ein Buch mit handschriftlicher Widmung, das ebenfalls in L.s Nachlass erhalten ist.
Im Frühjahr 1927 folgte Grete L. ihrem
Bruder nach Ffm. Dort hatte
Hans L., der
Ernst May noch aus Breslau kannte, bald nach dessen Amtsantritt als Stadtbaurat 1925 die Leitung des grafischen Büros der Stadt übernommen. Laut der im ISG erhaltenen Meldekarte war Grete L. seit dem 16.5.1927 in Ffm. gemeldet, zunächst in der Roonstraße (heute: Georg-Voigt-Straße) 5, nahe der heutigen Senckenberganlage zwischen Senckenbergmuseum und Messe am Rande des Westends. Am 28.10.1927 zog sie in das Haus ihres
Bruders in der von
May 1926/27 erbauten Siedlung Höhenblick. Dort, im Fuchshohl 55, betrieb sie eine „Photographische Werkstatt“. Grete L. war aber schon in den Monaten vor ihrer Anmeldung in Ffm. aktiv. Ihre ersten Ffter Fotos zeigen die Sonderausstellungen „Die neue Wohnung und ihr Innenausbau“ und „Der neuzeitliche Haushalt“, die im Rahmen der Frühjahrsmesse vom 27.3.1927 bis zum 10.4.1927 in der Festhalle zu sehen waren. Fotos davon finden sich im ersten Jahrgang der Zeitschrift „Das Neue Fft.“ [vgl. etwa Das Neue Fft. 1 (1926/27), H. 6, S. 129-133].
Die Gestaltung der Zeitschrift „Das Neue Fft.“, die ab Oktober/November 1926 erschien, lag von Beginn an bei dem Stadtgrafiker
Hans L. Schon früh zog er seine Schwester Grete L. zur Mitarbeit heran. Spätestens seit Gretes offiziellem Wechsel nach Ffm. im Mai 1927 waren
Hans und Grete L. gemeinsam für Gestaltung und Layout des Blattes zuständig. In den ersten Jahrgängen werden sie jedoch als Gestalter nicht ausdrücklich genannt. Erstmals im Heft Nr. 10/1928 findet sich nach dem Inhaltsverzeichnis der Eintrag: „Typographie und Titelbild: Geschwister Leistikow“.
Grete L. fotografierte ab 1927 zahlreiche Bauten des „Neuen Fft.“: die Siedlung Höhenblick (von
Ernst May und
Herbert Boehm, 1926-27) und das eigene Wohnhaus von
Ernst May (von
May selbst, 1925-26), das Hauptzollamt am Dom (von
Werner Hebebrand, 1926-28), die Schule in der Römerstadt (seit 1964: Geschwister-Scholl-Schule; von
Martin Elsaesser und Wilhelm Schütte, 1928-29), das Fechenheimer Hallenschwimmbad (von
Martin Elsaesser, 1927-29), das Elektrizitätswerk mit Prüfamt in der Gutleutstraße (von Adolf Meyer, 1927-29) und das umgebaute Gesellschaftshaus im Palmengarten (von
Martin Elsaesser und
Ernst May unter Mitarbeit von
Werner Hebebrand, 1928-29). Zudem dokumentierte sie zahlreiche Messen und Ausstellungen fotografisch: die Frühjahrsmessen 1927 bis 1929, die Schau „Musik im Leben der Völker“ 1927 und die Ausstellung „Der Stuhl“ 1929. Es ist nicht ganz einfach nachzuweisen, welche der Fotografien in der Zeitschrift „Das Neue Fft.“ von L. stammen. Die meisten der dort abgedruckten Fotos haben keine Urheberangaben, während etwa die ebenfalls in dem Blatt gebrachten Fotos von
Paul Wolff und Hermann Collischonn immer mit einem Hinweis auf den Fotografen bezeichnet sind. Im Heft 10/1929 wird der Umbau des Gesellschaftshauses im Palmengarten beschrieben und mit Fotos illustriert, die alle keine Angabe zum Fotografen tragen. Im HMF aber sind die schon 1929 angekauften Abzüge dieser Fotos überliefert, die sämtlich auf der Rückseite mit dem Stempel der Fotografin Grete L. versehen sind. Es ist demnach anzunehmen, dass auch zahlreiche andere Fotos in der Zeitschrift „Das Neue Fft.“, die Ffter Ansichten zeigen und keine Fotografenangabe haben, von Grete L. stammen dürften.
Grete L.s künstlerische Ader zeigte sich in den Fotomontagen, die sie zusammen mit ihrem
Bruder für die Titelblätter der Zeitschrift „Das Neue Fft.“ gestaltete. Das Heft 3/1929 hat den Schwerpunkt „Experimentelle Fotografie“ und gibt einen Überblick über die neuen Wege „von der Photographie zur Lichtgestaltung“ [Das Neue Fft. 3 (1929), H. 3, S. 56]. Neben Fotografien von Man Ray, Moholy-Nagy und Hugo Erfurth finden sich darin vier künstlerische Fotomontagen der „Geschwister Leistikow“, wie der Bildnachweis vermerkt. Der Anteil Gretes an diesen Arbeiten scheint größer gewesen zu sein als der des
Bruders, denn nur unter ihrem Namen trat sie – teilweise mit den schon in „Das Neue Fft.“ gezeigten Bildern – auf der Internationalen Ausstellung des Werkbunds „Film und Foto“ von Mai bis Juli 1929 in Stuttgart auf; dort ist sie eine von 191 ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern und in illustrer Gesellschaft von Moholy-Nagy, El Lissitzky, Edward Steichen, Edward Weston, Man Ray und Imre Kertész. Auch auf der internationalen Ausstellung „Das Lichtbild“ 1930 in München war Grete L. vertreten, und im „Photofreund Jahrbuch 1930/31“ wurden ihre Porträts von Erika Habermann als „Entfesselung der Kamera“ gewürdigt. Bereits für das Titelblatt der Nummer 2/1929 von „Das Neue Fft.“, in der es um die Ausstellung „Der Stuhl“ geht, wurde Erika Habermann von L. fotografiert: Das Modell sitzt auf einem von
Ferdinand Kramer entworfenen Stuhl. Zu diesem Zeitpunkt war Erika Habermann, ausgebildete Gold- und Silberschmiedin sowie Textildesignerin, die Ende der Zwanzigerjahre zum weiteren Studium an der Kunstgewerbeschule nach Ffm. gekommen war, noch mit
Ferdinand Kramer befreundet.
Am 25.1.1930 heiratete Grete L. in Ffm.-Ginnheim den Architekten
Werner Hebebrand. Am 16.8.1930 wurde ihr Sohn Karl Hebebrand geboren. Nur wenige Tage später, am 23.8.1930, heirateten Gretes Bruder
Hans L. und Erika Habermann. Beide Paare gehörten zu dem Team, das im Oktober 1930 mit
Ernst May in die Sowjetunion ging;
Werner und Grete Hebebrand nahmen damals auch ihren zwei Monate alten Sohn mit. Mit ihrer Heirat gab Grete L. die professionelle Fotografie auf. Einige wenige Fotos aus der Sowjetunion, die zum Beispiel ihren Ehemann
Werner Hebebrand zeigen, wurden wahrscheinlich noch von ihr aufgenommen. Später fotografierte sie auch privat nicht mehr. Der 1957 geborene Enkel Johannes Hebebrand wird später bemerken: „Ich kann mich nicht erinnern, meine Großmutter jemals mit einer Kamera gesehen zu haben.“ [Zit. nach Rosemarie Wesp in: Maybrief 44 (2016), S. 14.]
Im Rahmen der stalinistischen Säuberungen 1937 wurde
Werner Hebebrand in der Sowjetunion verhaftet und interniert. Grete kehrte zunächst alleine mit ihrem Sohn nach Deutschland zurück und arbeitete als Angestellte der Fotografin Dore Barleben in Berlin. Nach
Hebebrands Freilassung 1938 folgte sie ihrem Mann nach Braunschweig (1941) und Marburg (1944). In der Ehe begann es zu kriseln.
Hebebrand hatte eine Liaison mit seiner angeheirateten Cousine Sally (eigentl.: Selly) Hebebrand, geb. Gottschalk (1907-1946), die schwer krank war und von Grete gepflegt wurde, bis sie am 7.4.1946 in Marburg starb. Wenige Monate später kehrte das Ehepaar Hebebrand nach Ffm. zurück, wo
Werner Hebebrand im Oktober 1946 die Leitung des Stadtplanungsamts übernahm, aber nach Differenzen über den Wiederaufbau der Altstadt bereits 1948 wieder aus städtischen Diensten ausschied.
Nach der Scheidung von
Werner Hebebrand 1948 wohnte Grete Hebebrand zunächst wieder in Marburg, dann (seit 1957) in Erlangen, wo ihr Sohn Karl als Ingenieur bei Siemens tätig war. Zu ihrem
Bruder hielt sie regelmäßigen Kontakt; auf überlieferten Fotos ist Grete zu Anfang der 1950er Jahre im Garten des neuen Bungalows von Erika und
Hans L. in Ffm.-Sachsenhausen zu sehen, und
Hans L. widmete seiner Schwester die Katzengeschichte „Geliebte Mimi“ (hg. aus dem Nachlass Grete L. v. Rosemarie und Dieter Wesp, 2017). Um die Mitte der 1960er Jahre, als der Sohn Karl Hebebrand aus beruflichen Gründen nach Amerika übergesiedelt war, lebte sie eine Zeitlang dort bei ihm. Zuletzt wohnte Grete Hebebrand in München, wo sie hochbetagt starb. Auf ihren Wunsch hin wurde ihre Urne im Grab ihres geschiedenen Mannes
Werner Hebebrand auf dem Marburger Hauptfriedhof an der Ockershäuser Allee beigesetzt, in dem auch Hebebrands Cousine Sally, geb. Gottschalk, und seine letzte Ehefrau Lore, geb. Zipperlin (1912-2001), bestattet sind.
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