Auf Vermittlung des Arztes und Naturforschers
Johann Gottfried Ebel hatte H. zum Jahresbeginn 1796 die Stelle eines Hauslehrers bei der Ffter
Bankiersfamilie Gontard angenommen. Er traf am 28.12.1795 in Ffm. ein und wohnte zunächst im Gasthof „Zur Stadt Mainz“, nahe dem Hirschgraben. Im Januar 1796 zog er ins
Gontardʼsche Haus zum Weißen Hirsch, Großer Hirschgraben 3 (abgerissen für den Durchbruch der Bethmannstraße und den Bau des Ffter Hofs 1872), um. Mit der Hauslehrerstelle war ein Jahresgehalt von 400 Gulden bei freier Kost und Logis verbunden. Nach Abschluss des Studiums der Theologie in Tübingen (Magister 1790) sah H., der eher aus Familientradition und auf Drängen seiner Mutter eine theologische Ausbildung absolviert hatte, in der Situation eines Hauslehrers die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt verdienen und sich seiner Dichtung widmen zu können. Sein einziger Schüler im Haus
Gontard war der achtjährige Sohn Henry (1787-1816). Zwischen beiden entstand ein sehr gutes Verhältnis.
Susette Gontard, Henrys Mutter und Frau des Bankiers Jacob Friedrich, gen. Cobus, Gontard (1764-1843), hatte von H. schon das „Fragment von Hyperion“, 1794 in
Schillers „Neue Thalia“ erschienen, in einer Abschrift gelesen. Aus dem Zusammensein H.s mit der um ein Jahr älteren
Susette, gemeinsamem Musizieren und Vorlesungen aus seinen entstehenden Werken entwickelte sich eine Liebesbeziehung mit wechselseitigen Idealisierungen: „Mein Schönheitssinn ist nun vor Störung sicher. Er orientirt sich ewig an diesem Madonnenkopfe.“ (H. in einem Brief an Neuffer, 16.2.1797.) Die Figur der Diotima in Gedichten und im Roman „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ wurde von
Susette inspiriert. Im Juli 1796 floh
Susette Gontard mit den Kindern, H. und der für Henrys Schwestern zuständigen Erzieherin Marie Rätzer (1772-1849) vor der auf Ffm. vorrückenden Sambre-Maas-Armee über Kassel nach Bad Driburg; Cobus Gontard blieb in Ffm. zurück. In Kassel Besuch der Gemäldegalerie und Zusammentreffen mit dem Dichter Wilhelm Heinse (1746-1803). Im September Rückkehr nach Ffm. H. lebte zurückgezogen im familiären und musischen Raum; am gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt scheint er nur wenig teilgenommen zu haben. Die Stadt als Erfahrungsraum kommt in den Zeugnissen nicht vor. Doch nennt er im späten Gedicht „Das nächste Beste“ die Reichs-, Krönungs-, Handels- und Bankenstadt und den Ort
Susettes den „Nabel/ Dieser Erde“. Auf die anfänglich beglückende Situation führte H. eine neue poetische Kraft zurück. Was er dichtete, hatte nun „mehr Leben und Form“, seine Fantasie war williger, „die Gestalten der Welt in sich aufzunehmen“. (H. in einem Brief an Neuffer, 16.2.1797.) Beispiele: das Hexametergedicht „Die Eichbäume“, die Elegie „Die Muße“, der Entwurf „Buonaparte“, Epigramme, z. B. „
Sömmerrings Seelenorgan“, und Kurzoden, z. B. „Diotima“, „Lebenslauf“. Er gab dem Roman „Hyperion“ seine letzte Fassung und begann mit der Arbeit am Drama „Tod des Empedokles“ („Ffter Plan“). Umgang mit dem Arzt
Samuel Thomas Soemmerring und dem Mainzer Historiker
Niklas Vogt.
Im Frühjahr 1796 philosophische Gespräche mit dem Freund Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854), der auf der Durchreise sich einige Tage in Ffm. aufhielt. Im Oktober 1796 vermittelte H. eine Hauslehrerstelle bei dem Ffter Weinhändler Johann Noё Gogel (1758-1825) für den Freund
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), der im Januar 1797 in Ffm. eintraf. Mit
Hegel Gespräche über philosophische Grundlagenprobleme, Ästhetik, Religion, Volkserziehung und die politischen Verhältnisse. Mit seiner Einsicht, dass eine dialektische Einheit von Entgegensetzungen wie Subjekt und Objekt, Natur und Geschichte, Individualität und Gesellschaft die Struktur des Lebens ausmacht, war H. der Gebende. Auf H.s,
Hegels und Schellings Ideen in dieser Zeit wird das (in
Hegels Handschrift überlieferte) sog. „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“ zurückgeführt. Zwischendurch lehnte H. Angebote, eine Präzeptorenstelle bzw. eine Pfarrei zu übernehmen, gegenüber seiner Mutter ab. Im April 1797 erster Band des „Hyperion“, verlegt von Cotta. Wohl das erste Exemplar erhielt
Susette (mit der Widmung: „Der Einfluss edler Naturen ist dem Künstler so notwendig, wie das Tageslicht der Pflanze […]“). Im Mai 1797 Umzug der Gontards auf den Sommerwohnsitz im Adlerflychthof, Oeder Weg (abgebrochen 1866). Die Beziehung H.s zu
Susette wurde zum Gegenstand von Gerüchten. Am 22.8.1797 Besuch bei
Goethe, der sich in Ffm aufhielt.
Goethe riet ihm, „kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen“. Nach einem weiteren Sommer im Adlerflychthof kam es zum Bruch mit Cobus Gontard. H. verließ wohl am 25.9.1798 überstürzt das Haus zum Weißen Hirsch. Mit Hilfe seines Freundes Isaac von Sinclair fand er Unterkunft im Haus des Glasers Johann Georg Wagner in (Bad) Homburg v. d. H. in der Haingasse (Gebäude abgerissen in den 1820er Jahren). In der Folgezeit (bis 1800) zahlreiche geheime Treffen mit
Susette in Ffm. und Austausch von Briefen (von
Susette 17 Briefe, von H. nur drei Entwürfe erhalten). Mitte Oktober 1798 Aufwartung am Hofe von Hessen-Homburg, Begegnungen mit Prinzessin Auguste (1776-1871). Im Oktober 1799 Erscheinen des zweiten Bands von „Hyperion“; in das Exemplar für
Susette schrieb H. die Widmung: „Wem sonst als Dir“. In Homburg Plan einer poetischen Monatsschrift („Journal für Dramen ästhetischen Inhalts“), die jedoch nicht zustande kam. Am 8.5.1800 letztes Treffen mit
Susette am Adlerflychthof.
Aufenthalte in Stuttgart, Hauptwil im Thurgau, Nürtingen, Bordeaux, wieder in Stuttgart. Im Juli 1802 erreichte H. dort von Sinclair die Nachricht vom Tod
Susettes. Dank Sinclair erhielt H. die Stelle eines Hofbibliothekars in Homburg, wo er erneut, von Juni 1804 bis September 1806, lebte. Wohnung zunächst im Haus des Uhrmachermeisters Charles Frédéric Calamé (1768-1826) in der Homburger Neustadt (Dorotheenstraße 34-36; abgerissen 1983, wiederaufgebaut 1986), dann (seit Frühsommer 1805) im Haus des Sattlermeisters Johann Heinrich Lattner in der Haingasse 12 (abgerissen 1961). Verschlimmerung seines „verwirrten Gemütszustands“. Verbringung H.s am 11.9.1806 von Homburg in das Autenrieth’sche Klinikum in Tübingen. Im Sommer 1807 wurde er im Haus von Schreinermeister Ernst Friedrich Zimmer (1772-1838) zur Pflege aufgenommen. Bei seinen Lesern stießen H.s Gedichte meist auf Unverständnis. Bewunderer fand er in
Clemens Brentano,
Achim und
Bettine von Arnim.
Weitere Werke: „Der Tod des Empedokles“ (Drama, 3 Fassungen, unvollendet, 1797-99); Aphorismen; philosophische und poetologische Entwürfe; Übertragungen: „Pindar-Fragmente“ mit Kommentaren (1803/05), „Oedipus“ und „Antigonae“ mit „Anmerkungen“ (1804). Oden, Elegien, Epigramme, „vaterländische Gesänge“, u. a. „An die Parzen“, „Die Liebenden“, „Der Main“, „Gesang des Deutschen“, „Der Prinzessin Auguste von Homburg“, „Der Archipelagus“, „Heidelberg“, „Der Wanderer“ (mit den Versen: „Aber lächelnd und ernst ruht droben der Alte, der Taunus,/ Und mit Eichen bekränzt neiget der Freie das Haupt.“, V. 53-54), „Stuttgart“, „Brot und Wein“, „Dichterberuf“, „Der Rhein“, „Der Einzige“, „Friedensfeier“, „Patmos“ (gewidmet dem Landgrafen von Hessen-Homburg), „Hälfte des Lebens“, „Andenken“, „Mnemosyne“, „Wenn aus der Ferne…“, „An Zimmern“.
Die „Ffter Ausgabe“ sämtlicher Werke (20 Bde., 1975-2008), erschienen im Verlag Roter Stern (ab 1979 Stroemfeld/Roter Stern), basiert auf der Edition der Handschriften H.s im Faksimile.
Porträtzeichnung (von Johann Georg Schreiner, 1825/26) im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts.
Während sich im benachbarten Bad Homburg schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Tradition des H.-Gedenkens entwickelte, erinnerte man in Ffm., der
Goethestadt, stets eher zurückhaltend mit offiziellen Feierlichkeiten und Veranstaltungen an H. So gab es zum 100. Todestag 1943 eine Gedenkfeier des Freien Deutschen Hochstifts im Saalbau und zum 140. Todestag 1983 ein öffentliches Kolloquium „H. heute“ der Johann Wolfgang Goethe-Universität und des städtischen Amts für Wissenschaft und Kunst. 1998 tagte die Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Ffm. unter dem Thema „H. in Fft.“ (Hölderlin-Jahrbuch 31, 1998/99). Im Rahmen des bundesweiten Projekts „H. 2020“ zum 250. Geburtstag, dessen Programm infolge der Corona-Pandemie nur stark eingeschränkt stattfinden konnte, veranstalteten die Stadt Ffm. und das Freie Deutsche Hochstift in Zusammenarbeit mit dem Kulturfonds Fft. RheinMain im September 2020 eine Ffter H.-Festwoche, die mit einer Wanderung von Ffm. nach Bad Homburg anhand des Audiowalks „H. Heterotopia“ des japanischen Theaterkünstlers Akira Takayama (* 1969) am 19.9.2020 eröffnet wurde. Bereits drei Tage zuvor war in der Alten Oper der von 1979 bis 2012 entstandene Zyklus „H. lesen“ des Komponisten
Hans Zender erstmals in einer vollständigen Aufführung zu hören.
H.straße im Ostend. Bis 1962 H.schule, eine Sonderschule, in der gleichnamigen Straße. Das Gebäude der zunächst in
Heinrich-Hoffmann-Schule umbenannten, später (1988) geschlossenen Schule wird als Dependance des
Heinrich-von-Gagern-Gymnasiums genutzt. H.pfad, ein Wanderweg von Ffm. (ab dem
Goethehaus) nach Bad Homburg (zum Sinclairhaus), entstanden als Projekt im Grüngürtel Fft. und Regionalpark RheinMain (2008).
Denkmal (von
Hans Mettel, 1957) im Vorgarten des „Triton-Hauses“, Bockenheimer Landstraße 42/Ecke Freiherr-vom-Stein-Straße, wo sich einst der Park zu der (1799 errichteten und bei den Luftangriffen auf Ffm. 1944 zerstörten) Villa der
Familie Gontard-Wichelhausen befand. Die erhaltene Bronzefigur eines Jünglings auf steinernem Sockel, die Hyperion symbolisieren soll, stand ursprünglich vor einer Exedra mit der eingemeißelten Schlussstrophe aus Hyperions Schicksalslied, von der heute nur noch eine Steintafel mit dem (allerdings ungenau zitierten) Text geblieben ist.
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Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 338f.,
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