Zweite Tochter des jüdischen Kaufmanns Adolph S. (1836-1892) und seiner Ehefrau Jenni, geb. Katzenstein (1845-1906). Ältere Schwester: Paula S. (später verh. Hammerschlag, 1870-1942). Verheiratet (von 1906 bis zur Scheidung 1928) mit dem Maler und Kunsthistoriker Eduard von Bendemann (1877-1959). Mutter des Journalisten
Erwin Heinrich von Bendemann (1906-2006).
S. wuchs in Hamburg und ab 1882 in Zürich(-Enge) auf. In der Schweiz absolvierte S. die Volksschule und eine höhere Töchterschule. Dort wurden ihr die Grundzüge evangelischer Religion gelehrt. Weil der Vater ihr ein Studium untersagte, beschäftigte sie sich mit eigener Dichtung und mit Malerei. Eine kleine Sammlung ihrer Gedichte erschien 1892 als Privatdruck. Nach dem Tod des Vaters zog die Mutter mit den beiden Töchtern nach Hannover. Wohl um diese Zeit nahm S. Unterricht bei dem Reformrabbiner
Caesar Seligmann.
Aufgrund der bestehenden Zugangsbeschränkungen für Frauen an deutschen Universitäten konnte S. 1892 oder 1894 in Düsseldorf nur als Gasthörerin ein Studium der Malerei beginnen. Sie wechselte dann nach München. Dort lernte sie die Kunsthistorikerin und Lyrikerin Gertrud Kantorowicz (1876-1945) kennen, durch die sie wiederum in Kontakt mit dem Schriftsteller Karl Wolfskehl (1869-1948) kam. Ein erster Gedichtband („Mein Land“) von S. wurde 1901 publiziert. Zusammen mit Kantorowicz, die sie auch mit dem Lyriker
Stefan George bekannt gemacht hatte, ging S. nach Berlin, hörte Philosophie-Vorlesungen von Theodor Lipps (1851-1914) und wurde Teil des Kreises um den Sozialphilosophen Georg Simmel (1858-1918). Fortan war S. in stetem Austausch mit Philosophinnen und Philosophen, darunter Gertrud Simmel, geb. Kinel (1864-1938),
Martin Buber,
Georg Lukács, Bernhard Groethuysen (1880-1946) und
Ernst Bloch.
Von 1903 bis 1906 studierte S. Malerei in Paris und traf dort Eduard von Bendemann (1877-1959) wieder, den sie aus Düsseldorf kannte und am 31.3.1906 heiratete. Der Aufforderung ihrer Schwiegereltern, sich für diese Verbindung christlich taufen zu lassen, kam sie nicht nach. Im Dezember 1906 gebar sie ihren Sohn Erwin in (Berlin-)Charlottenburg. Mit
Heinrich Simon, der später (1910) in die Geschäftsleitung der Ffter Zeitung eintrat und seit 1914 deren Redaktionskonferenz vorstand, hatte S. bereits zusammengearbeitet: Sie gaben 1906 gemeinsam die philosophischen Manuskripte ihres früh verstorbenen Freundes Erwin Kircher (1881-1903) heraus. Ab 1907 verfasste S. literatur- und kulturkritische Essays für das Feuilleton der FZ (mehr als 40 Texte bis 1932). 1912 übersiedelte die Familie von Bendemann nach Rüschlikon am Zürichsee. Eduard von Bendemann, der sich nach Beginn des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger gemeldet hatte, wurde schon bald beim kaiserlichen Pressedienst in Ffm. eingesetzt. Am 19.11.1915 kam auch S. mit dem Sohn nach Ffm., und die Familie zog in die Brentanostraße 1 im Westend. Während des Krieges zeugen zahlreiche Wechsel aus und wieder nach Ffm. von einer unruhigen und schwierigen Zeit: Im Sommer 1917 erkrankte S. so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden musste und anschließend zurück in die Schweiz reiste, um sich zu erholen. Nach ihrer Genesung verbrachte sie einige Zeit bei der Bildhauerin Emmy von Egidy (1872-1946), der Tochter des Pazifisten Moritz von Egidy (1847-1898), und frischte ihre Freundschaft mit dem marxistischen Philosophen
Ernst Bloch auf. Zwar kamen S. und ihr Mann im Oktober 1917 wieder nach Ffm.; nur wenige Monate später jedoch, Anfang Januar 1918, gingen sie nach Berlin. Schon im Februar kehrten sie nach Ffm. zurück, wo sie zunächst wieder in der Brentanostraße 1, ab April 1918 in der Savignystraße 33 wohnten.
Das Ende der Monarchie erlebte S. in Ffm. Es entstanden Essays wie „Aufblick“ oder „Die Revolution und die Frau“ (beide 1918), in denen sie vor der Konstruktion von unüberwindbaren Gegensätzen warnte. Sie verstand den demokratischen Neuanfang als Chance, die Menschheit nicht weiter in (unterschiedlich wertige) Geschlechter und Religionen aufzuteilen, sondern neue Gemeinsamkeiten zu schaffen. Deshalb unterstützte sie die revolutionären Ideen des Anarchisten Gustav Landauer (1870-1919) und der Sozialistin
Rosa Luxemburg. Bereits am 10.12.1918 hatte S.in einem Vortrag in der Geschlechterstube des Römers die Frage „Wodurch ist die Revolution gekommen?“ diskutiert. Sie sprach im Saalbau in Ffm. – nach eigener Angabe vor 2.000 Menschen – unter dem Titel „Die geistige Entscheidung“ von den Überlebenden und den Gefallenen des Krieges. Am 13.1.1919 war S. als Rednerin bei einer „Kundgebung zur Revolution“ von der „Gesellschaft von 1918“ eingeladen. Es folgten Vorträge zur „Wahrheit in der Kunst“ an Dr. Hoch’s Konservatorium (1.2.1919), zu „Frauen, Frieden, Freiheit“ im Haus des Kaufmännischen Vereins (31.5.1919) und zu einem nicht bekannten Thema in „Zinglers Kabinett für Kunst- und Bücherfreunde“ (7.10.1919). Nur wenig später war S. mit der Philosophin Edith Landmann (1877-1951) eine Zeitlang in Basel und Heidelberg.
Mitte Oktober 1919 verließ die Familie von Bendemann die Mainmetropole und zog nach Säckingen am Hochrhein an der Grenze zur Schweiz. Doch kam S. auch in dieser Zeit gelegentlich wieder nach Ffm. Auf Veranlassung der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, der Gesellschaft für ethische Kultur und des Bundes entschiedener Schulreformer hielt sie am 20., 22. und 23.2.1922 im Trausaal des Römers drei Vorträge zum Thema „Religiöse Versuche in der Gegenwart“. Sie knüpfte Kontakte mit dem Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) und mit dem Philosophen
Franz Rosenzweig, durch den sie auch den Rabbiner Nehemia Anton Nobel (1871-1922) kennenlernte. Im Freien Jüdischen Lehrhaus in Ffm., das
Rosenzweig 1920 gegründet hatte, hielt S. weitere Vorträge.
Nach der Scheidung von Bendemann (13.4.1928) kehrte S. krank nach Ffm. zurück und wurde von dem Neurologen
Kurt Goldstein gepflegt. Sie wohnte bis zum 13.8.1929 in der Neuhaußstraße 6 im Nordend, dann Im Burgfeld 239 in Heddernheim; dorthin folgte ihr auch ihr Sohn Erwin, der zwischenzeitlich in Kiel gelebt hatte. In ihrer Ffter Zeit entstanden einige ihrer wichtigsten Texte wie das Buch über „Die Frauen der Romantik“, der Aufsatz „Das Hiob-Problem bei Kafka“ oder auch „Die messianische Idee als Friedensidee“ (alle 1929 veröffentlicht). Zudem führte dieser weitere Aufenthalt in Ffm. zu philosophischem Austausch mit dem Rabbiner Leo Baeck (1873-1956) und dem Journalisten
Siegfried Kracauer, der ebenfalls für die FZ schrieb. In Ffm. hatte S. auch die Bekanntschaft mit
Bertha Pappenheim, der Mitbegründerin des Jüdischen Frauenbundes (JFB), und deren engster Freundin, Hannah Karminski (1897-1942), gemacht. S. wurde Mitglied im JFB, publizierte in den „Blättern des Jüdischen Frauenbundes“ und hielt Vorträge für den Bund in Ffm., z. B. am 22.1.1930 für die Jugendgruppe über „Die Stellung der jüdischen Jugend zu Beruf und Frauenbewegung“ und am 15.11.1930 vor der Ortsgruppe über „Die Problematik des Frauenberufes“. In den 1930er Jahren war S. auch im Rundfunk zu hören: Sie sprach am Sonntag, den 22.6.1930, in der „Stunde des Rhein-Mainischen Verbandes für Volksbildung“ über
Franz Rosenzweig, und am 10.8.1932, im
Goethejahr, las sie ihre Erzählung „
Cornelia“ (Titel auch: „Die Schwester“) über die letzten Lebenstage von
Goethes Schwester
Cornelia. Auf vielfachen Wunsch fand am 7.4.1932 eine Wiederholung ihres Vortrags zu
Goethe („
Goethe in seiner Beziehung zur Schönheit“) im Gedokheim, Wiesenau 1, statt.
Insgesamt lebte S. etwa acht Jahre (mit Unterbrechungen) in Ffm., und zwar von 1915 bis 1917, 1918 und dann wieder von Frühling 1928 bis zum 10.11.1933. S.s Sohn Erwin von Bendemann flüchtete vor den Nationalsozialisten nach London, sie selbst in die Schweiz. In Zürich gehörte sie bald zum Kreis um den religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz (1868-1945). An dessen Zeitschrift „Neue Wege“ arbeitete sie ab 1935 mit. Aufgrund ihrer politischen Texte gegen den Nationalsozialismus verhängte die Schweizer Fremdenpolizei zeitweise ein Rede- und Publikationsverbot über S. Sie geriet in finanzielle Not und veröffentlichte unter dem Pseudonym (Otto) Reiner. Während des Krieges versuchte S., den Kontakt zu Freundinnen und Freunden sowie zur Familie aufrechtzuerhalten. Ihre Schwester Paula Hammerschlag, die im Mai 1942 mit Gertrud Kantorowicz und einer Verwandten bei einem Fluchtversuch an der Schweizer Grenze abgefangen wurde, nahm sich noch in der Gendarmerie das Leben. Kantorowicz wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie 1945 starb.
S. überlebte die nationalsozialistische Verfolgung im Schweizer Exil und kehrte nicht mehr nach Deutschland zurück. Unmittelbar nach Kriegsende setzte sie sich intensiv mit der Shoah und der Zukunft des Judentums auseinander. Die nicht unumstrittene religionsphilosophische Abhandlung „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“ (1946, Neuaufl. 2022) gilt heute als ihr Hauptwerk. S. interpretierte hier die Geschichte des Juden Hiob, den sein Gott jedem erdenklichen Unglück aussetzt und der seinen Glauben dennoch nicht verliert, als Schlüssel für die Geschichte des Judentums. 1951 wurde S. in den Vorstand der Religiös-sozialen Vereinigung und der „Freunde der Neuen Wege“ gewählt. In ihren späten Essays beschäftigte sie sich erneut mit
Goethe, u. a. mit dessen Beziehung zu Charlotte von Stein („Deutung einer großen Liebe“, 1951) und dessen Verhältnis zum Tod („Gestalten und Kreise“, 1954). 1959 erlebte S. mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin eine späte akademische Würdigung ihres Schaffens. Auf Anfrage des Leo-Baeck-Instituts in New York verfasste sie schließlich ihre „Erinnerungen“. Der Text, den sie wegen zunehmender Erblindung diktieren musste, erschien 1964 unter dem Titel „Ich habe viele Leben gelebt“.
Mit 17 Büchern und rund 250 kultur- und religionsphilosophischen Essays erlangte S. nachhaltige Bedeutung und beeinflusste das Denken namhafter zeitgenössischer Philosophen und Theologen. Ihre Texte veröffentlichte sie von 1907 bis 1932 vor allem in der FZ, „Der Morgen“, „Der Jude“, den „Neuen Jüdischen Monatsheften“, den „Blättern des Jüdischen Frauenbundes“, der „Jüdischen Wochenschau“, dem „Schweizer Frauenblatt“ sowie weiteren Schweizer Zeitungen, ab 1933 vorwiegend in „Neue Wege“ und im New Yorker „Aufbau“. In ihrer literaturanalytischen Auseinandersetzung kreierte S. den Begriff des „lyrischen Ichs“, mit dessen Hilfe das sprechende Subjekt eines Textes von der Person der Autorin bzw. des Autors abgegrenzt werden kann („Das Wesen der modernen Lyrik“, 1910). Damit wirkte S. als Begriffsbildnerin in der Theorie der modernen Lyrik.
Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach und im Leo Baeck Institute in New York.
Anlässlich des 150. Geburtstags von S. 2022 erschien ihr zu Ehren ein Sonderheft der „Neuen Wege“; außerdem lud eine Veranstaltungsreihe des Evangelischen Frauenbegegnungszentrums EVA in Ffm. und des evangelischen Arbeitskreises für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau „ImDialog“ zur aktuellen Auseinandersetzung mit S. als „einer jüdisch-europäischen Denkerin“ ein.
Margarete-S.-Weg auf dem Riedberg.
.
Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 456,
.