Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser,
war Lohengrin ein Frankfurter? Zu seiner Herkunft können und dürfen ihn ja nicht befragen. Aber als ich ein Kind war, stellte ich mir gern vor, dass die Figuren in „ihrem“ Buch wohnten und in besonders magischen Momenten lebendig den Seiten entsteigen könnten. Die spätmittelalterliche Handschrift, aus der Lohengrins Vorbild, der Schwanritter, stammt, befindet sich im Besitz der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg in Frankfurt. Der Retter und Stifter dieses einzigartigen Buchs war ein Frankfurter Arzt, der vor rund 200 Jahren das Entstehen des Fachs Germanistik im heutigen Sinne förderte. Seine Lebensgeschichte ist im diesmaligen Artikel des Monats zu lesen.
Artikel des Monats Juli 2023:
Retter des Schwanritters
Er begann schon als Kind mit dem Büchersammeln: Georg Kloß. Bereits während seines Medizinstudiums trug der Frankfurter Arztsohn systematisch medizinische Dissertationen zusammen, einen umfassenden Bestand, den er 1820 an die Universität Bonn verkaufte. Inzwischen hatte Kloß, seit 1810 niedergelassener Arzt in seiner Geburtsstadt, ein neues Sammelgebiet für sich entdeckt: mittelalterliche Handschriften und frühe Drucke. Zusammen mit seinen Freunden, dem Juristen Gerhard Thomas und dem Lokalhistoriker Benedict Römer-Büchner, suchte er in und um Frankfurt nach interessanten Stücken. So entdeckten und retteten die drei 1812 die „Schwanritter“-Handschrift, eine spätmittelalterliche Sammelhandschrift, in der die mittelhochdeutsche Verserzählung „Der Schwanritter“ von Konrad von Würzburg unikal überliefert ist.
Als um den nunmehrigen Senator und späteren Bürgermeister Thomas ein geisteswissenschaftliches Gelehrtennetzwerk entstand, in dem sich u. a. Johann Friedrich Böhmer, Jacob und Wilhelm Grimm sowie einige weitere Frühgermanisten austauschten, gehörte auch Kloß zu diesem Kreis. Seit Beginn der 1820er Jahre verlieh er Handschriften aus seiner Sammlung an Fachvertreter der entstehenden Germanistik, um die Edition und Erforschung alter deutschsprachiger Texte zu fördern. Die „Schwanritter“-Handschrift etwa schickte er damals an Wilhelm Grimm zur editionsphilologischen Bearbeitung. Später, im Jahr 1841, schenkte Kloß das wertvolle Stück in einem Konvolut von insgesamt 23 Handschriften und Drucken an die Frankfurter Stadtbibliothek, die jetzige Universitätsbibliothek, wo es sich bis heute erhalten hat.
Lesen Sie mehr >
Um ein ganz besonderes Manuskript, das erst vor zehn Jahren wiederentdeckt wurde, geht es in dem Artikel über den Komponisten Max Bruch. Der hochbegabte junge Musiker gewann 1852 das Stipendium der Frankfurter Mozart-Stiftung. Bruch wurde berühmt – das Streichquartett, mit dem er das Frankfurter Stipendium gewonnen hatte, geriet in Vergessenheit. Es wurde von der Musikwissenschaftlerin Ulrike Kienzle 2013 in Bruchs Bewerbungsunterlagen im Archiv der Mozart-Stiftung wiederentdeckt und mit Förderung der Frankfurter Bürgerstiftung im folgenden Jahr uraufgeführt und publiziert. Der in dieser Lieferung neu erscheinende Artikel über Max Bruch, verfasst von Ulrike Kienzle, setzt die Reihe von Musikerbiographien im Frankfurter Personenlexikon fort, jetzt in Zusammenarbeit mit dem Projekt „Musikstadt Frankfurt“ der Frankfurter Bürgerstiftung.
In der aktuellen Serie, die zum 175. Jubiläum der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche erscheint, kommt diesmal der Artikel über Robert von Mohl in grundlegend neuer Fassung heraus. Der württembergische Staatsrechtler spielte 1848/49 als Abgeordneter des Paulskirchenparlaments, etwa im Verfassungsausschuss, und als Reichsjustizminister der Provisorischen Zentralgewalt eine wichtige Rolle. Mit dem Ziel eines deutschen Nationalstaats vor Augen machte Mohl, eigentlich eher einer „großdeutschen“ Lösung unter Einbeziehung von Österreich zuneigend, weitgehende realpolitische Zugeständnisse. Er stimmte letztlich der von Gagern favorisierten kleindeutschen Lösung zu und wählte den preußischen König als Erbkaiser mit. Und er votierte für das allgemeine Wahlrecht, obwohl er es zeitlebens ablehnte.
Noch steckte die Demokratie in den Kinderschuhen. Nach dem (an sich sehr fortschrittlichen) Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 blieben Frauen weiterhin vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Eine Frau, die dennoch „die Politik nicht lassen“ konnte, war die Frankfurterin Clotilde Koch-Gontard. Sie etablierte einen Salon in ihrem Hause, der als wichtiger Treffpunkt dem politischen Austausch in der Zeit des Frankfurter Parlaments 1848/49 diente. Der völlig neu bearbeitete Artikel über Clotilde Koch-Gontard ist in der Biographienserie zu 1848/49 bereits in der Junilieferung im Frankfurter Personenlexikon erschienen.
Auch einige Biographien aus dem spannenden 20. Jahrhundert, die bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, immer besonders gefragt sind, finden sich in dieser Julilieferung des FP: über den Mediziner Eugen Albrecht, Mitgestalter des Neubaus der Senckenbergischen Pathologie, über den Architekten Ernst Hiller, Bewohner des Schopenhauerhauses am Main, über den Missionar J. W. Ernst Sommer, Bischof der Methodistenkirche in Deutschland, über den Journalisten Willo Uhl, Frankfurter Freund des Dichters Joachim Ringelnatz, und über den Arzt Hans Giese, Gründer des Instituts für Sexualforschung.
Die Fülle des Lebens lässt sich bei allen Artikeln aus den Bildschirmzeilen herauslesen – auch wenn wir mittlerweile der kindlichen Illusion beraubt sein mögen, dass der Schwanritter leibhaftig zwischen zwei Buchdeckeln in der Frankfurter Universitätsbibliothek wohne.
Beste Sommergrüße
Sabine Hock
Chefredakteurin des Frankfurter Personenlexikons
P. S. Die nächste Artikellieferung erscheint am 10. August 2023.