Schon in ihrer Kindheit kamen die Brüder
Jacob und Wilhelm G. gelegentlich nach Ffm., allerdings eher auf der Durchreise, etwa bei einem Ausflug zu einer Truppenrevue in Bergen 1790 und auf der Fahrt zur weiteren Ausbildung in Kassel 1798. Durch ihren Lehrer
Friedrich Carl von Savigny und die mit ihm verbundene
Familie Brentano hatten die Brüder G. seit ihrer Marburger Studienzeit freundschaftliche Beziehungen nach Ffm. Die „Kinder- und Hausmärchen“, ursprünglich durch einen Auftrag von
Clemens Brentano in Marburg angeregt, erschienen erstmals 1812 und 1814 (mit der Datierung 1815) in zwei Bänden und machten die Brüder G. bald „bei aller Welt bekannt“, wie Wilhelm einmal in einem Brief an
Jacob G. konstatierte – freilich ohne damals (14.10.1815) die wahrhaft einzigartige weltweite Wirkungsgeschichte der G.’schen Märchen auch nur ahnen zu können. Um die Zeit, als der zweite Märchenband herauskam, war
Jacob G. zumeist im diplomatischen Dienst des hessischen Kurfürsten unterwegs, u. a. beim Wiener Kongress (1814/15), während der Bruder Wilhelm G. die Stellung in Kassel hielt, seinen Dienst als Bibliothekssekretär an der Kurfürstlichen Bibliothek erfüllte, die gemeinschaftlichen Publikationsprojekte der Brüder weiterführte und sich zudem um die alltäglichen Angelegenheiten des Geschwisterhaushalts kümmerte. Auf ärztlichen Rat erbat und bekam Wilhelm G., zeitlebens von eher schwacher Gesundheit, einen Urlaub vom Bibliotheksdienst für „eine kleine Reise und Genusz der frischen Luft“ im Herbst 1815. Zusammen mit
Savigny wollte er eine Rheinreise unternehmen und fuhr zunächst nach Ffm., wo er am 2.9.1815 eintraf. Er logierte im Hause des befreundeten Rechtshistorikers
Gerhard Thomas an der Schönen Aussicht. Dort verkehrte damals eine geistige Elite, darunter wichtige Ffter Vertreter der Romantik (
Böhmer,
Fritz Schlosser u. a.) ebenso wie prominente Gäste (
Arndt, die Brüder
Sulpiz und Melchior Boisserée,
Görres,
Savigny,
Freiherr vom Stein u. a.), die sich etwa zum „Freitagszirkel“ bei
Thomas versammelten. Gleich am Tag nach der Ankunft sahen sich G. und
Savigny wieder. Bald kam auch der „Malerbruder“ Ludwig Emil G. – auf der Rückkehr von einem mehrwöchigen Aufenthalt in dem G.’schen Kindheitsort Steinau – in Ffm. an. Zusammen mit
Thomas waren Wilhelm und Ludwig Emil G. am 5.9.1815 zum Essen im Haus des Senators
Georg Friedrich von Guaita eingeladen, der mit Meline, geb. Brentano (1788-1861),
Clemens’ jüngster Schwester, verheiratet war. Dort begegneten sie
Goethe, der gerade – zum letzten Mal – seine Vaterstadt besuchte. (Wilhelm G. hatte
Goethe bereits 1809 in Weimar kennengelernt, und auf dem Rückweg von der folgenden Rheinreise traf er den Dichterfürsten nur kurze Zeit nach der Ffter Begegnung 1815 in Heidelberg erneut.) Die Brüder verbrachten noch einige abwechslungsreiche Tage in Ffm., wie sich Ludwig Emil G. erinnerte, mit gelegentlichen Landpartien („nach Offenbach“ oder „in die Weinberge“) und „vergnügten Abenden“ bei den Familien
Brentano,
Savigny und
Thomas, bevor sie mit
Savigny zu der geplanten Rheinreise aufbrachen.
Jacob G., der eigentlich auch mitfahren wollte, musste derweil den Verpflichtungen seines diplomatischen Dienstes nachgehen, und als er auf seiner zweiten Reise nach Paris Mitte September 1815 durch Ffm. kam, hatte er die Brüder und
Savigny dort knapp verpasst.
Nur wenige Jahre später suchte Wilhelm G., damals noch unverheiratet, erneut Erholung in Ffm. Die Bearbeitung und Ergänzung der Märchensammlung war ihm, der auch den unverwechselbaren Ton der Märchen prägte, inzwischen immer mehr zur alleinigen Herzensaufgabe geworden, zumal der ältere
Bruder seine aktive Mitarbeit daran 1815 eingestellt hatte. Im August 1821 hatte Wilhelm G. gerade die Arbeit am Manuskript für den dritten Band der „Kinder- und Hausmärchen“, der die Anmerkungen zur zweiten Auflage von 1819 enthielt, beendet. Da erreichte ihn ein Brief von
Savignys Frau Gunda, geb. Brentano (1780-1863), dass sie demnächst zu einem Wiedersehen mit ihren Schwestern nach Ffm. reisen wolle:
Bettine und
Lulu würden auch dort sein. Damit bot sich G. ein willkommener Anlass zu einem Urlaub in der Mainstadt. Nach mehr als anderthalbtägiger Reise von Kassel über Marburg kam er am frühen Morgen des 22.9.1821 in Ffm. an. Wieder wohnte er im Haus des nunmehrigen
Senators Thomas, der inzwischen (1819)
Rosette Städel, geb. Willemer, eine Tochter von
Johann Jacob (von) Willemer, geheiratet hatte. Noch am selben Vormittag stattete Wilhelm G. einen ersten Besuch im Stammhaus der
Familie Brentano in der Sandgasse ab, wo er kurz
Christian Brentano traf und dann vor allem die Frauen der Familie wiedersah: die Schwestern
Bettine von Arnim, Gunda von Savigny und Meline von Guaita sowie
Savignys Tochter „Bettinchen“ (d. i. Bettina von Savigny, später verh. Schinas, 1805-1835) und
Georg Brentanos Töchter „Claudinchen“ (d. i. Caroline Sophie
Claudine Brentano, später in erster Ehe verh. Firnhaber von Eberstein gen. Jordis, in zweiter Ehe verh. von Arnim, 1804-1876) und „Sophiechen“ (d. i.
Sophie Antonie Marie Brentano, später verh. von Schweitzer, 1806-1856); mittags traf er auch
Lulu Jordis, die vierte der älteren Brentanoschwestern, nun „bei der Meline“. Häufig war er in den kommenden fast zwei Ffter Wochen mit den Frauen aus der
Familie Brentano zusammen, besonders mit
Bettine, mit der er fast täglich Spaziergänge unternahm, gleich am ersten Abend in der Dämmerung durch die Anlagen um die Stadt. Wilhelm und
Bettine fuhren außerdem etwa zum Landhaus von
Bettines Bruder
Georg Brentano in Rödelheim (23.9.1821), schauten sich mit „Claudinchen“ und „Bettinchen“ auf der Messe um, wo
Bettine allerlei Spielzeug aus Steingut für ihre Kinder kaufte (26.9.1821), feierten mit der Familie „Claudinchens“ Geburtstag, wozu alle ein gemeinschaftliches Gedicht verfassten (30.9.1821), langweilten sich auf einem Empfang bei
Simon Moritz von Bethmann (1.10.1821), waren aber zwei Tage später trotzdem wieder auf einer Gesellschaft, diesmal im Hause
Willemer (3.10.1821), machten mit
Thomas und dessen
Frau einen Spaziergang „durch Sachsenhausen und Oberod nach der Gerbermühle“ (4.10.1821) und gingen schließlich zu zweit bei Mondenschein von der Sandgasse über das Pfarreisen am Dom zu einem letzten gemeinsamen Abend bei
Thomas (4.10.1821), wie Wilhelm G. in seinem Reisetagebuch festhielt. Auch allein war G. in jenen Ffter Herbsttagen viel unterwegs, sah sich etwa das damals gerade erst herausgekommene Lokallustspiel „Der alte Bürger-Capitain“ von
Carl Malss im Komödienhaus an (24.9.1821), besuchte „den Stein“ [d. i. wahrscheinlich der Pelzhändler Leopold Stein (1782-1836), ein Vetter von
Gottfried Scharff, 26.9.1821] und fuhr auch einmal in seine Geburtsstadt Hanau (28.9.1821). Früh am 5.10.1821 reiste Wilhelm G. wieder von Ffm. ab, um am folgenden Tag zu Hause in Kassel einzutreffen. Wohl in Erinnerung an den Ffter Theaterbesuch von 1821 hat Wilhelm G. immer wieder gerne aus den Stücken von
Carl Malss rezitiert; in seinen Briefen aus Göttingen berichtete er der Schwester und deren Familie im Frühjahr 1833 nach Kassel, dass er bei einer Abendgesellschaft regelrecht geglänzt habe, indem er „ein neues Ffter Stück“, nämlich „Das Stelldichein im Tivoli“ von
Malss, vorgelesen habe. (Wilhelm G. an Lotte Hassenpflug, Göttingen, 9.3.1833.)
Der Neubau der Stadtbibliothek an der Schönen Aussicht, der zur Zeit von Wilhelm G.s Fft.besuch 1821 im Entstehen war, hätte den Sprach- und Literaturwissenschaftler beinahe zur Übersiedlung an den Main verführen können. Noch hatten er und sein Bruder
Jacob aber ihren Platz in Kassel, wo sie an der Kurfürstlichen Bibliothek forschten und arbeiteten. Und eigentlich hielten sie beide nicht viel vom Leben in der zwar traditionsreichen, aber hektischen Mainmetropole. „In Fft.“, so schrieb Wilhelm G. im Juni 1822 dem Freund
Achim von Arnim, „sagen mir Menschen und Lebensweise weniger zu (...), denn was ist seelenloser und bleierner als diese kaufmännische Rücksicht in allem, die edelsten Kräfte und schönsten Neigungen der menschlichen Seele richten sie aufs Geld, und darauf allein haben sie einen gemeinen Stolz.“ Dennoch nutzte Wilhelm G. auch auf späteren Reisen gerne die Gelegenheit, wenigstens kurz wieder einmal Station in Ffm. zu machen: etwa auf dem Weg zur Kur nach Wiesbaden 1834, auf der Kinzigreise mit seiner Frau Dorothea, gen. Dortchen, geb. Wild (1795-1867), und seiner Schwägerin Marie, geb. Böttner (1803-1842), der ersten Ehefrau des Malerbruders Ludwig Emil G., im September 1841, auf der Rheinreise mit Dortchen 1853. Während der Kuraufenthalte in Wiesbaden und (Bad) Soden am Taunus traf Wilhelm G. oft und gern Gäste aus Ffm.; so verbrachte er die Wiesbadener Kuren 1833 und 1834 mit dem Freund
Thomas, mit dem er zeitweise sogar zusammen wohnte und „eine halbe Studentenwirtschaft“ führte, und während der Kur in (Bad) Soden im Sommer 1855 wohnten Wilhelm und sein Sohn Herman G. (1828-1901) im „Ffter Hof“, der seinen Namen wegen der vielen Gäste aus der Mainstadt erhalten haben soll.
Aus historiographischer Sicht bedeutender als all diese privaten Aufenthalte war jedoch der gemeinsame Besuch der Brüder G. in Ffm. im September 1846, anlässlich der Ersten Germanistenversammlung (24.-26.9.1846), die
Jacob und Wilhelm G. mitinitiiert hatten. An der Spitze des Gelehrtenkongresses, der mit rund 200 Teilnehmern aus Sprach-, Geschichts- und Rechtswissenschaft im Kaisersaal des Römers tagte, stand
Jacob G. als Präsident. In den ausgiebigen Debatten zur Selbstbestimmung der Germanistik als Wissenschaft, die wichtige Impulse zu deren Begründung gaben, blieb Wilhelm G. offenbar eher im Hintergrund. Zum wissenschaftlichen Austausch, dem die Versammlung ausdrücklich und vorrangig dienen sollte, leistete er jedoch einen wesentlichen Beitrag: In einer Rede im Plenum am 26.9.1846 stellte Wilhelm G. erstmals ausführlich das Konzept des „Deutschen Wörterbuchs“ einer breiteren Öffentlichkeit vor. In den folgenden Jahren wurde dieses Projekt mehr und mehr zum Lebenswerk der Brüder.
Herman G. (1828-1901), zweiter Sohn von Wilhelm und Dorothea G. (1795-1867), war seit 1859 verheiratet mit Gisela G., geb. von Arnim (1827-1889), der jüngsten Tochter von
Bettine und
Achim von Arnim. Durch die Freundschaft mit dem Senator
Thomas kam die Familie G. auch in Verbindung mit der Familie Willemer. Zusammen mit
Rosette Thomas, geb. Willemer, der „Frau Senator Thomas“, besuchte Wilhelm G. mindestens zweimal (1821 und 1841) die Gerbermühle, den Sommersitz von
Rosettes Vater
Johann Jacob (von) Willemer am Main vor Oberrad, wo sich einst
Goethe und Marianne von Willemer begegnet waren; bei dem letzten Besuch mit G. hatte die Familie Willemer die Gerbermühle bereits seit zwei Jahren (seit 1839) aufgegeben. Marianne,
Rosettes Stiefmutter, die die Brüder G. eine ganze Zeitlang nach der Göttinger Entlassung aus einem Vermächtnis ihres
Mannes finanziell unterstützte, freundete sich in späteren Jahren (ab 1849) mit dem jungen Gelehrten Herman G. an, dem sie das Geheimnis ihrer Mitverfasserschaft an
Goethes „West-östlichem Divan“ anvertraute. 1869, erst nach Mariannes Tod, hat Herman G. veröffentlicht, dass einige Gedichte aus dem „Divan“ nicht von
Goethe, sondern von Marianne von Willemer stammen, darunter die Lieder an den Ostwind und den Westwind, die zu den schönsten der deutschen Liebeslyrik gehören.
Brüder-G.-Straße und Brüder-G.-Schule, eine Realschule, im Ostend.
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