Goethes Eltern gehörten zwei Generationen an. Der Vater war in Typus, Interessen und Anschauungen barocker Universalist. Ihm war die Formsprache der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eigen. Er war der planvoll Sammelnde, der geordnet und nach präzisem Kalkül an die Kinder und Freunde weitergab, was er „ererbt“ hatte. Der Vater war ein Vernunftmensch und zugleich ein überzeugter lutherischer Orthodoxer.
Der
Sohn führt die Eltern in „Dichtung und Wahrheit“ (I. Teil, 1811) als „der Vater“ und „meine
Mutter“ ein, wie denn die Autobiographie durchgehend eine gewisse Distanz zum Vater und ein enges Verhältnis zur
Mutter bezeugt. Das stellenweise negative Bild, das der
Sohn dort vom Vater zeichnet, ist jedoch irreführend. Johann Caspar G. war ein selbstbewusster, auf seine Unabhängigkeit bedachter Ffter Bürger; er war ein eleganter Jurist, ein umsichtiger Verwalter seines Vermögens und dennoch großzügig bei der Ausbildung und Förderung seiner Familie; er war ein liebevoller Ehemann und Familienvater und nicht zuletzt ein Freund und Förderer der Musen.
Johann Caspar G. war der erste Akademiker aus einer Handwerkerfamilie. Sein Vater war der aus Thüringen stammende Schneidermeister
Friedrich Georg Göthé (1657-1730), der – nach vier Jahren in Frankreich – seit 1686 zu einem der gefragtesten Meister seiner Zunft in Ffm. aufgestiegen und 1705 durch seine zweite Heirat mit der Schneiderstochter und Hotelierswitwe Cornelia Schelhorn, geb. Walther (1668-1754), in den Besitz des stattlichen Gasthauses „Zum Weidenhof“ auf der Zeil gekommen war. So vermehrte
Friedrich Georg G. das Familienvermögen seitdem als Wirt und Weinhändler. Mit 14 Jahren wurde Johann Caspar als jüngster Sohn 1725 nach Coburg auf das renommierte lutherische Gymnasium Casimirianum geschickt; das Ffter Gymnasium hatte damals keinen allzu guten Ruf. Erste praktische juristische Anleitung erhielt er 1729 in der Kanzlei
Heinrich Christian Senckenbergs in Ffm. 1730 immatrikulierte er sich an der Universität Gießen, die unter den für ihre rüden Sitten bekannten Universitäten jener Zeit besonders berüchtigt war. Vielleicht deshalb wechselte G. bereits ein Jahr später in das „elegante“ Leipzig, wohin er später auch seinen
Sohn zum Studieren schickte. Laut eigener Aussage will G. dann die Rechtspraxis u. a. am Reichskammergericht in Wetzlar, einem der bedeutenden Institute des Alten Reichs, studiert haben. Sein Studium schloss er mit der Promotion zum Doktor beider Rechte in Gießen am 30.12.1738 ab.
Im Herbst 1739 brach der 29-Jährige zu einer längeren Bildungsreise durch Europa auf, die ihn zunächst zur juristischen Weiterbildung zum Ewigen Reichstag in Regensburg und zum Reichshofrat in Wien führte, den beiden anderen wichtigen Institutionen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Von Wien aus begann G. Ende Dezember 1739 seine Reise nach Italien, die mit längeren Stationen in Venedig, Neapel, Rom und Mailand acht Monate dauern sollte und zu seinem größten Bildungserlebnis wurde. Später in Ffm. wird er die Eindrücke zu seinem Reisebericht „Viaggio per l’Italia“ ausarbeiten, den er in italienischer Sprache abfasst. Es ist der erste Bericht eines deutschen Italientouristen in der Landessprache und zugleich ein barockes Reisewerk, ein gelehrtes Kompendium über das Gesehene, aber auch ein persönlicher Erlebnisbericht.
Etwa im Frühherbst 1741 kehrte G. über Frankreich und nach einem Zwischenaufenthalt an der Universität Straßburg nach Ffm. zurück. Bereits zu Beginn des Jahres 1742 ersuchte er um die Ernennung zum Wirklichen Kaiserlichen Rat, der am 16.5.1742 stattgegeben wurde – unglücklicherweise von dem nur drei Jahre regierenden Wittelsbacher
Kaiser Karl VII. Eine politische Karriere unter den nachfolgenden gegnerischen Habsburgern war damit ausgeschlossen. Ein Platz im Rat der Stadt war G. ebenfalls versagt, da dort schon sein Halbbruder (aus erster Ehe des Vaters), der Zinngießermeister Hermann Jacob G. (1697-1761), saß und nahe Verwandtschaften unter den Ratsmitgliedern verboten waren. Johann Caspar G. wurde und blieb Privatier – das ererbte Vermögen erlaubte es.
Am 20.8.1748 heirateten Johann Caspar G. und
Catharina Elisabeth Textor im Gartenhaus des Onkels der Braut, des Juristen und Schriftstellers
Michael von Loën, „an der Windmühle“ (ungefähr an der Stelle des heutigen Gewerkschaftshauses auf dem Terrain zwischen Untermainkai und Gutleutstraße). Die Trauung vollzog der Hauptpfarrer der Katharinenkirche, der seitherige „Familienpfarrer“
Johann Philipp Fresenius, in einer privaten Zeremonie. Wie die Ehe des 38-jährigen G. mit der 17 Jahre alten
Stadtschultheißentochter zustande kam, ist nicht überliefert. Am 28.8.1749 wurde der Sohn
Johann Wolfgang, am 7.12.1750 die Tochter
Cornelia geboren; fünf weitere Kinder starben früh. Gemeinsam mit der verwitweten Mutter Cornelia G. bewohnte die Familie zwei notdürftig miteinander verbundene, alte Fachwerkhäuser am Großen Hirschgraben. Nach dem Tod der Großmutter am 26.3.1754 konnte G., der bis dahin nichts hatte verändern können, den Neubau in Auftrag geben, der aus taktischen Gründen gegenüber der Bauaufsicht als Umbau bezeichnet wurde. So entstand in den Jahren 1755 und 1756 ein lichtes und übersichtliches Haus im Stil des Rokoko mit 20 Räumen; das großzügige Treppenhaus war der Kaisertreppe im Römer nachempfunden. Über der Eingangstür wurde ein neues Wappen angebracht: die drei Leiern zusammen mit dem
Textor’schen Wappen, dem Mann mit dem Schwert. Das alte goethische Wappen hatte das Lamm mit der Fahne gezeigt. Die Umwandlung des Wappens lässt einen Rückschluss auf die nun sich ausbreitenden Interessen Johann Caspar G.s zu: Kunst, Literatur und Musik.
Zwei Tätigkeitsfelder bestimmten das Leben G.s: seine Sammlungen und die Erziehung der Kinder. Da war zuerst die Bibliothek, über die man am genauesten Bescheid weiß, weil sich der Katalog zu ihrer Versteigerung 1794 erhalten hat. Sie umfasste weite Gebiete des damaligen Wissens: Jurisprudenz, Theologisches, Geschichte, antike und europäische Literatur bis zur Gegenwart, oft in mehreren Ausgaben, fremdsprachige Literatur, vielfach in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung. Die stattliche Bibliothek, die aus rund 2.000 Bänden bestand, wurde von der ganzen Familie genutzt und war für die Entwicklung des
Sohnes von unschätzbarem Wert.
Von der Gemäldesammlung des Hauses ist kein Verzeichnis überliefert, aber sie hatte eine Besonderheit: G. sammelte nur Ffter Maler und nur zeitgenössische Kunst. Darin zeigt sich das planvolle Vorgehen eines wirklichen Sammlers, der das Sammelgebiet nach seinen Möglichkeiten absteckt, um nicht ins Beliebige zu geraten. Auch diese Sammlung war für den
Sohn prägend, der dank der gesellschaftlichen Stellung des Elternhauses zudem Zugang zu den rund 80 Privatsammlungen der Stadt hatte.
Über die weiteren Sammlungen des Hausherrn, etwa über die Kleinplastiken und Naturalia, weiß man wenig. Man kann jedoch festhalten, dass Johann Caspar G. der Tradition privater Kunstkammern folgte. Seine Sammlungen dienten in erster Linie der zielgerichteten Vermehrung von Wissen und Bildung im privaten Bereich. Für die Erziehung der Kinder waren sie von großer Bedeutung, und es ist kein Zufall, dass der
Sohn später auf allen vier Gebieten ebenfalls sammelte. Die Fülle der Anregungen, die er im Elternhaus erhielt, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Wichtigste Quelle für das Leben im Haus ist – neben „Dichtung und Wahrheit“, dessen Quellenwert jeweils zu prüfen ist, und den Briefen – das Ausgabenbuch („Liber domesticus“) Johann Caspar G.s. Er beginnt es 1753, zunächst (bis 1773) in lateinischer, dann in deutscher Sprache, und es endet nach dem ersten Schlaganfall G.s 1779. Das Haushaltsbuch spiegelt das Alltagsleben in der Familie G. detailliert wider. Es zeigt: Das Haus der G.s war ein offenes, ein geselliges Haus, und es war keineswegs nur das Haus des Vaters. Neben den regelmäßigen „convivia amicorum“, bei denen sich die sammelnden und gelehrten Freunde des Vaters trafen, standen die herrnhutisch bestimmten Zusammenkünfte der
Mutter. Es wurde gewiss die Bibel gelesen, darüber gesprochen, und es wurden auch geistliche Lieder gesungen, aber es wurde mindestens genauso kräftig gegessen und getrunken wie bei den „convivia“. An diesem Punkt wird deutlich, wie das offenbar harmonische Zusammenleben des früh alternden Mannes und seiner so viel jüngeren, überdies höchst temperamentvollen
Frau möglich war: im gegenseitigen Gewährenlassen, und das bedeutete in der Realität der Zeit vor allem: in der Toleranz des Mannes. Denn dass G. in lutherischer Tradition sich als Herrn des Hauses sah, steht außer Zweifel; die Erziehung der Kinder zeigt es. Der Vater bestimmte, er zwang schließlich den
Sohn, statt im gewünschten und damals hoch angesehenen Göttingen zu studieren, nach Leipzig zu gehen. Dass dem orthodoxen Lutheraner die pietistischen Zusammenkünfte seiner
Frau nicht eben sympathisch waren, ist anzunehmen, aber er ließ ihr freie Hand. Und die enge Freundschaft seiner
Frau mit der ganz und gar pietistisch geprägten
Susanna Katharina von Klettenberg, die noch dazu zeitweilig bedeutenden Einfluss auf den
Sohn gewann, war Bestandteil des Familienlebens. Gerade die herrnhutische Episode im Leben des
Sohns, der schwer erkrankt aus Leipzig zurückkehrte, behinderte der Vater offensichtlich nicht, und man kann dies als ein Indiz dafür ansehen, dass G. von nun an dem
Sohn mehr Freiheiten lassen wird. Die Feier des Shakespearetags mit des
Sohnes Sturm-und-Drang-Manifest im Oktober 1771 trug er wie alle anderen Zusammenkünfte im Haus in das Ausgabenbuch ein.
Gewiss, während der frühen Jahre kam es zu Spannungen. Der Vater verlangte eiserne Disziplin im Einhalten seines Erziehungsplans – darin sah er seine Hauptaufgabe im Leben der Familie. Die Fülle dessen, was er seinen Kindern abforderte, war enorm, manchmal wohl einfach zu viel. Aber er muss die überdurchschnittliche Begabung des
Sohns früh erkannt haben und förderte sie auf alle mögliche Weise. Die
Tochter erhielt weitgehend den gleichen Unterricht wie ihr
Bruder, womit Johann Caspar G. weit über die damals übliche Mädchenbildung hinaus ging. Er förderte
Cornelia nach ihren Begabungen, ließ sie Sprachen, Schreiben, Zeichnen und Klavierspielen lernen. Sie litt jedoch an dem Zwang zu lernen, vor allem in jener Zeit, als ihr
Bruder 1765 nach Leipzig ging und sich der gesamte pädagogische Eifer des Vaters nun auf sie richtete und sie ans Haus kettete.
Im Verlauf des Siebenjährigen Krieges besetzten die Franzosen 1759 Ffm., und der Stadtkommandant der Besatzungstruppen,
Graf Thoranc, requirierte den ersten Stock des goethischen Hauses für sich. Der Vater – erst knapp vier Jahre Herr im eigenen Haus – reagierte empfindlich, begriff aber auch in der Folge nicht, dass er mit der Einquartierung des noblen Mannes, der noch dazu sein Interesse für die Ffter Malerei teilte, ausgesprochenes Glück gehabt hatte. Anlässlich der Schlacht bei Bergen am Karfreitag 1759, die für die Franzosen gut verlief, kam es zwischen G. und
Thoranc zu dem aus „Dichtung und Wahrheit“ bekannten hässlichen Auftritt im Treppenhaus, der G. beinahe ins Gefängnis gebracht hätte, was durch die Bitten der
Frau Rat gerade noch verhindert wurde. Johann Caspar G. war nämlich, wie viele Zeitgenossen, ein Bewunderer des preußischen Königs Friedrich II. – „fritzisch gesinnt“ nennt ihn der
Sohn in „Dichtung und Wahrheit“. Damit stand er nicht nur im politischen Gegensatz zu dem lästigen Besatzer in seinem Haus, sondern auch zur eigenen Familie.
Johann Christian Senckenberg bezeugt in seinem Tagebuch Spannungen zum kaiserlich, also anti-preußisch, gesinnten Schwiegervater
Johann Wolfgang Textor, dem Stadtschultheißen und höchsten Beamten der Stadt.
Je älter G. wurde, desto mehr wuchs der Einfluss seiner
Frau in der Familie. Um 1770 wurde
Catharina Elisabeth G., die er im Haushaltsbuch liebevoll „suavissima costa“ (süßeste Gefährtin) oder „uxor amata“ (geliebte Gattin) nennt, zur beherrschenden Figur im Haus. Schleichend kam G.s Krankheit. Die poetische Begabung des
Sohnes faszinierte ihn, doch schon gegenüber dessen Sturm-und-Drang-Besuchern wirkte er passiv. Die Verlobung mit der „Staatsdame“
Lili Schönemann aus reichem Bankhaus und reformierter Familie gefiel ihm nicht.
G. war strikt gegen die beabsichtigte Reise des
Sohnes nach Weimar im Herbst 1775. Er bot dem
Sohn an, nach Italien zu reisen, doch dieser kehrte schon in Heidelberg um und nahm die Einladung des Fürsten Carl August (1757-1828) an, nach Weimar zu gehen. Der Vater fürchtete, dass der
Sohn in die zwielichtige Rolle eines Fürstengünstlings geraten könnte, und so zeigte er sich taub gegen dessen Bitten um Unterstützung, wenn die Geldgeschenke des Herzogs einmal nicht reichten. Möglicherweise trug die konsequente Haltung des Vaters zur baldigen Klärung der Situation und zur Festanstellung des
Sohnes in Weimar im Juni 1776 bei. Dass sein
Sohn ein Dichter war, akzeptierte G. mit offensichtlichem Stolz; er schrieb Gedichte von ihm ab und liebte vor allem den „Egmont“. Kurz nach einem bewegenden Wiedersehen mit dem
Sohn bei dessen Besuch auf der Durchreise in die Schweiz im September 1779 erlitt G. einen ersten Schlaganfall, dem im Oktober 1780 der zweite folgte. G. vegetierte nur noch dahin: Das „Leben das Er jetzt führt ist ein wahres Pflantzenleben“, schrieb
Catharina Elisabeth im August 1781. Johann Caspar G. starb am 25.5.1782. Er wurde zwei Tage später „im Waltherischen Epitaph“ (einem von seinem Großvater mütterlicherseits erworbenen Erbbegräbnis) auf dem Peterskirchhof beerdigt.
Porträt der Familie G. im Schäferkostüm (Ölgemälde von
Johann Conrad Seekatz, 1762) im Besitz der Klassik Stiftung Weimar, als Kopie (von
Hermann Junker, 1894) im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Porträt von Johann Caspar G. (Pinsel in Grau und Schwarz, 1774, sowie Radierung nach Georg Friedrich Schmoll, 1777) für Johann Caspar Lavaters „Physiognomische Fragmente“ (3. Versuch, 1777), beide im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Porträtmedaillons von Johann Caspar und
Catharina Elisabeth G. (Reliefs aus Biskuitporzellan von
Johann Peter Melchior, 1779) als Gipsabgüsse im HMF. Geschnittene Silhouette im Oval im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Porträt (Pastell von
Hermann Junker nach Schmoll und
Melchior, um 1885/90) im Besitz des Freien Deutschen Hochstifts. Marmorbüste (von
Carl Rumpf nach
Melchior, 1899) im Gartensaal des Freien Deutschen Hochstifts am G.haus.
Gedenktafel für den Schneidermeister Johann Georg G., den Vater von Johann Caspar G., an der Stelle von dessen Haus zum Goldenen Rad (spätestens Ende des 18. Jahrhunderts niedergelegt) am Kornmarkt 8. Bis mindestens 28.5.1947 Gedenktafel (von R. Seiler, 1932; Verbleib unbekannt) an der Stelle des (1843 abgerissenen) Gasthauses „Zum Weidenhof“, des Geburtshauses von Johann Caspar G., auf der Zeil. Grabstätte auf der Westseite des Petersfriedhofs.
Es sind nur wenige Briefe G.s, einige davon im Freien Deutschen Hochstift, überliefert. Die Bibliothek im zweiten Stock des G.hauses enthält jedoch eine von G. angelegte und teilweise selbst handschriftlich geführte bzw. kommentierte Sammlung juristischer Verordnungen der Stadt Ffm. in 21 Foliobänden (als Dauerleihgabe des ISG). Diese Bände sind die einzigen in der rekonstruierten Büchersammlung, die nachweislich aus der ursprünglichen Bibliothek G.s stammen.
Zum 300. Geburtstag 2010 Ausstellung „Goethe Pater. Johann Caspar G. (1710-1782). Kaiserlicher Rat – Jurist – Sammler – Ffter Bürger“ im Freien Deutschen Hochstift/Ffter Goethe-Museum.
Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 257-261,
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