Viertes von fünf Kindern von Ferdinand H. (1843-1916) und dessen Ehefrau
Anna Pauline, geb. Mayer (1850-1925). Bruder von
Robert (von) Hirsch. Verheiratet (seit 1910/11) mit
Olga Anna Henriette H., geb. Ladenburg (1889-1969), Tochter des Bankiers Ernst Ladenburg. Zwei Söhne und zwei Töchter.
Schüler des Ffter Gymnasiums bzw. (ab 1897) des daraus hervorgegangenen Goethe-Gymnasiums. Dann kaufmännische Ausbildung in der väterlichen Firma in Ffm. Aufenthalte zur beruflichen Weiterbildung in England und Frankreich. Inhaber der international tätigen Großhandelsfirma „Hirsch & Co.“ in Ffm., Röhren und Roheisen, die sein Vater Ferdinand H. 1867 gegründet hatte und die zu einem der größten Unternehmen dieser Branche in Deutschland aufgestiegen war.
Mitglied der DVP.
Von 1930 bis 1933 Vizepräsident der IHK Ffm.-Hanau. Mitglied in verschiedenen Kammerausschüssen, im Fachbeirat für den Ausfuhrhandel, in der Außenhandelsstelle (als Vorsitzender) und in weiteren Gremien der Kammer sowie im Außenhandelsausschuss des Deutschen Industrie- und Handelstags, in zahlreichen Wirtschaftsverbänden und Aufsichtsräten.
Die Liebe zu Kunst und Musik war den Geschwistern H. bereits im
Elternhaus mitgegeben worden. Paul H. spielte gut Geige, worin er u. a. bei
Adolf Rebner ausgebildet worden war, und auch Bratsche, so dass er bei den vom Vater Ferdinand H. veranstalteten Hauskonzerten, oft mit prominenten Gastmusikern, mitwirken konnte; belegt ist etwa eine Aufführung von
Mozarts Klarinettenquintett mit dem berühmten Klarinettisten Richard Mühlfeld sowie
Hermann Hock (1. Geige),
Ludwig Rottenberg (2. Geige), Paul H. (Bratsche) und
Johannes Hegar (Cello) am 23.12.1900. Ebenfalls schon als Jugendlicher, wohl um 1896, begann H., Musikalien zu sammeln. Ab etwa 1900 baute er unter Berücksichtigung wissenschaftlicher und bibliophiler Kriterien systematisch eine bedeutende Musikbibliothek auf, die schließlich rund 20.000 Bände (praktische Notenausgaben, darunter besonders frühe und seltene Notendrucke, sowie musikwissenschaftliche und -theoretische Literatur) umfasste, die historische Entwicklung des Notendrucks anhand wertvoller Inkunabeln lückenlos dokumentierte und sich somit zu einer Privatsammlung entwickelt hatte, die ihresgleichen suchte. Seit dem Erwerb großer Teile der bedeutenden Bibliothek des Berliner Musikkritikers Werner Wolffheim (1877-1930) bei deren Versteigerung 1928/29 besaß H. wohl die größte private Musikbibliothek Europas.
Bereits ab 1909 hatte H. seine Bibliothek der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als „Musikbibliothek Paul Hirsch“ war sie von 1918 bis 1936 im Seitenflügel des von H. neu erworbenen Hauses in der Neuen Mainzer Straße 57 (ehem. Haus
du Fay, erbaut für
Lulu de Bordes, geb. Brentano, 1834; kriegszerstört 1944) untergebracht, und seit der Einstellung der promovierten Musikwissenschaftlerin Kathi Meyer (seit 1934 verh. Meyer-Baer, 1892-1977) im Jahr 1922 war die Bibliothek hauptamtlich verwaltet. Der „Katalog der Musikbibliothek Paul H.“ erschien als „Serie 2“ der „Veröffentlichungen der Musikbibliothek Paul H.“ (mit Kathi Meyer, 1928-47) und umfasst vier Bände. In der „Serie 1“ der Veröffentlichungsreihe gab H., zusammen mit dem Berliner Musikwissenschaftler Johannes Wolf (1869-1947), musikwissenschaftliche Monographien und Faksimiles heraus (11 Bände, 1922-34; 12. Band, hg. v. Alfred Einstein, 1945). Auch bestückte H. bedeutende Ausstellungen mit Exponaten aus seiner Sammlung, u. a. die Schau „Schmuck und Illustration von Musikwerken in ihrer Entwicklung vom Mittelalter bis in die neueste Zeit“ (im Ffter Kunstgewerbemuseum, 1908/09) und die Historische Abteilung der internationalen Ausstellung „Musik im Leben der Völker“ in Ffm. (1927).
Die Musikbibliothek wurde von Musikern, Musikwissenschaftlern sowie Studierenden der Universität und Schülern der Konservatorien rege genutzt. In den erhaltenen Benutzerbüchern der Jahre 1923 bis 1935 sind viele und wichtige Namen des Ffter Musiklebens jener Zeit verzeichnet, u. a.
Licco Amar,
Theodor Wiesengrund Adorno,
Artur Holde, Erich Itor Kahn,
Emma Lübbecke-Job,
Carl Rehfuss,
Ludwig Rottenberg,
Hermann Scherchen, Mátyás Seiber und
Helmut Walcha, aber auch auswärtige Besucher, die oft von weit her (sogar aus Tokio) eigens anreisten.
Wilhelm Furtwängler logierte bei Ffter Gastspielen im Fremdenzimmer des Hauses H. Mit Bruno Walter war H. befreundet. In (zumindest brieflichem) Kontakt stand er mit dem Schriftsteller Stefan Zweig (1881-1942), der ebenfalls Musikalien – allerdings Autographen – sammelte. Häufig war H. Gastgeber von Tagungen und Versammlungen, etwa des Vorstands der neu gegründeten Internationalen Gesellschaft für Musikwissenschaft (1928), die er durch seine Bibliothek führte.
Das Haus in der Neuen Mainzer Straße 57 diente aber auch der aktiven Musikpflege. Zu diesem Zweck war der Bibliothek ein kleiner Konzertsaal angeschlossen. Bis zum 24.11.1933 hat H. dort nachweislich 400 Kammermusikabende veranstaltet, wobei er die erste Geige in seinem „Hausquartett“ spielte; zu den Mitwirkenden gehörten
Ludwig Rottenberg als alter Freund der Familie, wohl auch dessen Schwiegersohn
Paul Hindemith und Mitglieder des Museumsorchesters. Feste im Hause H. waren gesellschaftliche Ereignisse, so z. B. anlässlich des „
Strawinsky-Festes“ 1925 und der Tagung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik 1927. Wahrscheinlich zum „
Strawinsky-Fest“, das H. als Mitglied des Arbeitsausschusses mitorganisierte, empfing das Ehepaar H. auch den
Komponisten selbst und dessen Frau.
H. gehörte einigen wissenschaftlichen Gesellschaften und bibliophilen Vereinen an, in deren Gremien er sich engagierte und mitarbeitete. Bis 1933 Mitglied im Verwaltungsausschuss des Freien Deutschen Hochstifts in Ffm. Vorstandsmitglied der 1919 gegründeten „Gesellschaft der Freunde des Ffter Goethe-Museums“ bzw. der daraus 1925 hervorgegangenen „Ffter Gesellschaft der Goethe-Freunde“, die sich für die Ffter
Goethestätten einsetzte. Mitglied im Ehrenausschuss für die „Frau-Rat-Feier“, die zugunsten des
Goethehauses am 16.3.1924 im Schauspielhaus veranstaltet wurde. Mitbegründer (1922) und Vorsitzender (1922-34) der Ffter Bibliophilen-Gesellschaft. Der exklusiven Ffter Bibliophilen-Gesellschaft gehörte auch H.s Ehefrau Olga an, die historische Bucheinbände und Buntpapiere sammelte und zu deren fachgerechter Pflege eigens das Buchbinderhandwerk erlernt hatte. Bis 1936 Mitglied im Mitteldeutschen Kunstgewerbe-Verein in Ffm.
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 hielt H. den öffentlichen Betrieb seiner Bibliothek zunächst aufrecht, obwohl die Besucherzahlen bald rapide zurückgingen. Im Februar 1934 gehörte H. zu den Gründern des Zweigs des Kulturbunds Deutscher Juden (seit 1935: Jüdischer Kulturbund) für das Rhein-Main-Gebiet mit Sitz in Ffm.; künftig wirkte er im Arbeitsausschuss für Musik des Kulturbunds mit. Mitte November 1935 schloss H. seine Musikbibliothek für die Benutzung. Er bereitete die Verlegung seines Wohnsitzes mit der kompletten Sammlung ins englische Exil vor und hielt sich bereits seit Mai 1936 dauerhaft in London auf. Als kurz darauf, im Juni 1936, die Stadtverwaltung von H.s Plänen erfuhr, zeigte sie sich unverzüglich am Erwerb des Hauses Neue Mainzer Straße 57 interessiert, weil
Oberbürgermeister Krebs darin den schon länger gesuchten idealen Standort für das Modeamt sah. Im November 1936 kaufte die Stadt Ffm. das Anwesen zum Preis von 111.500 Reichsmark, was dem damaligen Einheitswert entsprach; nach einem vollständigen Umbau wurde am 19.11.1938 das Modeamt in der ehemaligen Villa H. eröffnet. Parallel zu den Verhandlungen um den Kauf des Hauses im Sommer 1936 plante die Stadtverwaltung, die Abwanderung der Musikbibliothek durch deren Beschlagnahmung zu verhindern. Derweil konnte H. einen Großteil seiner Sammlung am 12.8.1936 unbemerkt nach England bringen lassen. Fünf Tage später (17.8.1936) wurde die Musikbibliothek auf Betreiben von
Krebs in das „Verzeichnis der national wertvollen Kunstwerke“ eingetragen und damit ihre Ausfuhr verboten. Der Teil der Sammlung, der noch in Ffm. zurückgeblieben war, wurde daraufhin in den Lagerräumen der Spedition Fermont beschlagnahmt. Inzwischen hatte H. jedoch einen Vertrag mit der Universität Cambridge geschlossen, wodurch seine Sammlung als Leihgabe an die dortige Universitätsbibliothek übergegangen war. Schließlich gab das Berliner Innenministerium im April 1937 die beschlagnahmten Kisten und Pakete zur Ausfuhr nach Cambridge frei. Lediglich sieben einzelne Stücke musste das Ehepaar H. „geschenkweise“ der Stadt Ffm. überlassen; die erzwungene Schenkung wurde auf Antrag von Paul und Olga H. in einem langwierigen Verfahren (1948-53) rückgängig gemacht.
Trotz seiner Ausbürgerung (1938) wurde H. während des Krieges 1940 kurzzeitig interniert, wodurch sich sein ohnehin angegriffener Gesundheitszustand verschlechterte. Angesichts seiner angespannten finanziellen Lage entschloss sich H. 1946, die bis dahin in Räumen der Universität Cambridge untergebrachte Musikbibliothek an das British Museum in London zu verkaufen. Den Umzug seiner Sammlung und deren anschließende Integration in den Katalog der Museumsbibliothek (1949-51) betreute er noch selbst.
Weitere Schriften von H. zu musikwissenschaftlichen und bibliophilen Themen: „Katalog einer
Mozart-Bibliothek“ (Verzeichnis aller Werke von und über
Mozart in H.s Musikbibliothek, 1906), „
Goethe und die Musik“ (1920), „Musik-Bibliophilie. Aus den Erfahrungen eines Musiksammlers“ (1927), „Die Ffter Bibliophilen-Gesellschaft“ (Aufsatz, 1932) u. a.
1932 Goetheplakette der Stadt Ffm.
Max Beckmann hat auf seinem Gruppenbildnis „Gesellschaft in Paris“ (1931; im Besitz des Guggenheim Museums, New York) u. a. Paul H. dargestellt.
Die von H. zusammengetragene Musikbibliothek ist bis heute als in sich geschlossener Bestand („Paul Hirsch Collection“), seit 1973 in der British Library in London, erhalten. Dort befindet sich auch der Nachlass von H., der u. a. die Kontoführungsbücher und die erwähnten Benutzerbücher der Ffter Musikbibliothek sowie Korrespondenz von H. enthält.
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Frankfurter Biographie 1 (1994), S. 334f.,
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