Rottenberg, Lazar, gen. Ludwig. Dr. jur. Dirigent. Komponist. Musikpädagoge. Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.* 11.10.1864 Czernowitz/Bukowina, Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.† 6.5.1932 Ffm.
Sohn des jüdischen Advokaten David R. (um 1830-1884) und dessen Ehefrau Bertha, geb. Rothenberg. Schwester: Wilhelmine R. [später verh. (von) Kleinwächter, 1856-1934], spätere Ehefrau des österreichischen Nationalökonomen Friedrich (von) Kleinwächter (1838-1927). Verheiratet (seit 1895) mit
Theodore Marie Emilie Magdalena R., geb. Adickes (1875-1945), einer Tochter des Ffter Oberbürgermeisters
Franz Adickes. Zwei Töchter:
Gabriele Veronika Mina Margarete R. (seit 1920 verh. Flesch, 1898-1987), verheiratet mit
Hans Flesch (1896-1945), Rundfunkpionier beim Südwestdeutschen Rundfunk in Ffm.; Johanna Gertrude, gen.
Gertrud, R. (seit 1924 verh. Hindemith, 1900-1967), Sängerin, Musikerin, verheiratet mit
Paul Hindemith (1895-1963), Komponist. Schwager (Ehemann einer Schwester von Theodore R.):
Alfred Hugenberg (1865-1951).
Die musikalisch interessierte Familie R. lebte in Czernowitz, der Hauptstadt der damals zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden Bukowina. Dort erhielt R. seine erste musikalische Ausbildung von dem tschechischen Komponisten, Geiger und Dirigenten Vojtěch Hřímalý (1842-1908). Parallel dazu begann er mit einem Studium der Rechtswissenschaften. Um sein Musikstudium abzuschließen, zog er nach Wien, wo er von Eduard Hanslick (Musikästhetik), Eusebius Mandyczewski (Musiktheorie), Julius Eppstein (Klavier) und Robert Fuchs (Komposition) unterrichtet wurde. R. lernte
Johannes Brahms und den Dirigenten
Hans von Bülow kennen. 1887 wurde er in Wien zum Dr. jur. promoviert. Seit 1888 war R. Dirigent des Orchestervereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. 1890 übernahm er eine Stelle in Karlsbad. Seine Leidenschaft zur Opernbühne führte ihn 1891 als Opernkapellmeister an die Hamburger Oper und noch im selben Jahr nach Brünn, wo er bis Sommer 1893 blieb.
1892 bewarb sich R. um die Stelle des Ersten Kapellmeisters am Ffter Opernhaus; er setzte sich aufgrund von Empfehlungen von
Brahms und
Bülow gegen seine Mitbewerber
Richard Strauss und Felix Mottl durch und übernahm das Amt zu Beginn der Spielzeit 1893/94. Als Erster Kapellmeister arbeitete R. mit den Intendanten
Emil Claar (bis 1900 und 1911-12),
Paul Jensen (1900-11), Robert Volkner (1912-17),
Karl Zeiß (1917-20) und
Ernst Lert (1920-23) zusammen. Mit zahlreichen Ur- und Erstaufführungen von Bühnenwerken begründete R. die Ära der Ffter Oper als eines der fortschrittlichsten Häuser Europas. Er nahm zahlreiche Novitäten oft kurz nach deren Uraufführung ins Programm, u. a. „Der arme Heinrich“ (
Hans Pfitzner, 1897), „Iris“ (Pietro Mascagni, dt. EA 1899), „Die Mainacht“ (Nikolaj Rimskij-Korsakow, dt. EA 1900), „Götz von Berlichingen“ (Karl Goldmark, dt. EA 1903), „Pelléas und Mélisande“ (Claude Debussy, dt. EA 1907), „Elektra“ (
Richard Strauss, 1909), „Boris Godunow“ (Modest P. Mussorgskij, 1921). Vor allem machte er sich einen Namen als erfolgreicher Dirigent bei vier Uraufführungen von Werken
Franz Schrekers in Ffm.: „Der ferne Klang“ (1912), „Das Spielwerk und die Prinzessin“ (1913), „Die Gezeichneten“ (1918) und „Der Schatzgräber“ (1920). Außerdem leitete er die Uraufführungen von „Dornröschen“ von
Engelbert Humperdinck (1902), „Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan (1920), „Sancta Susanna“ von
Paul Hindemith (1922) und „Der Sprung über den Schatten“ von Ernst Krenek (1924). Von 1906 bis 1921 war R. auch als Dirigent für Museumskonzerte von der Museums-Gesellschaft engagiert. Eine enge Verbindung bestand zu dem Musikschriftsteller
Paul Bekker und dessen Frau
Hanna Bekker vom Rath. 1924 übernahm
Clemens Krauss als Operndirektor auch die künstlerische Leitung der Oper. In der Folge schied R. mit dem Ende der Spielzeit 1925/26 ganz aus dem Opernbetrieb aus. Er erhielt an Dr. Hoch’s Konservatorium eine Lehrklasse für Dirigieren und leitete 1928 Solistenensembles bei den Uraufführungen von
Hindemiths „Kammermusik Nr. 6“ für Viola d’amore und Kammerorchester op. 46 Nr. 1 (in Köln) und „Kammermusik Nr. 7“ für Orgel und Kammerorchester op. 46 Nr. 2 (in Ffm.). 1929 führte er mit dem Orchester der Südwestdeutschen Rundfunk AG in Ffm. die „Bunte Suite für Orchester“ op. 48 von Ernst Toch und „Das Berliner Requiem“ von Kurt Weill auf. 1929 erkrankte R. an Kehlkopfkrebs, dem er 1932 erlag.
Theodor W. Adorno würdigte R. und dessen künstlerische Arbeit: „Er brachte moderne Opern, längst ehe sie arrivierten: als erster in Deutschland den Pelléas Debussys, als erster
Schreker, dessen Ruhm an Rottenbergs Aufführungen gebunden ist. Noch die Einakter
Hindemiths hat er ausgezeichnet dargestellt: unvergeßlich fein, dünn und subtil die Tänze des Nusch-Nuschi. Als Musiker erfüllte er sich am Klavier: unvergleichlich rein und wissend spielte er
Mozart; in einer Strenge und konstruktiven Durchsichtigkeit, die nach allem Klangzauber heute erst vollends aktuell wäre. Aber auch als Dirigent hatte er wahrhaft große Tage, und es waren nicht nur die Premieren (…).“ [Nachruf von
Theodor Wiesengrund-Adorno in: Die Musik 24 (1931/32), H. 10 (Juli 1932), S. 764f., hier S. 764.]
Mitglied der Jury beim 3. Wettstreit Deutscher Männergesangvereine in Ffm. 1909.
Als Komponist schrieb R. die einaktige Oper „Die Geschwister“ nach dem gleichnamigen Schauspiel von
Goethe, die er am 30.11.1915 am Ffter Opernhaus uraufführte. Er komponierte außerdem Orchesterlieder, Instrumentalwerke und Klaviermusik sowie zahlreiche Klavierlieder, u. a. auf Texte von Hans Bethge, Eichendorff, Dehmel,
George,
Goethe,
Heine, Heyse, Hofmannsthal, Keller, Lasker-Schüler, Rilke, Storm, Trakl und Verlaine.
R. erhielt Widmungen von Werken von
Bernhard Sekles (Vier Lieder für dreistimmigen Frauenchor und Klavierbegleitung op. 6, ca. 1900),
Paul Hindemith (Klaviermusik op. 37, Erster Teil: Übung in drei Stücken, 1925), Ernst Křenek (Vier kleine Männerchöre a cappella mit Alt-Solo op. 32, nach Fragmenten von
Hölderlin, 1932).
Porträt (von
Jakob Nussbaum, 1903) in der Sammlung Manskopf in der UB Ffm. Porträt (von
Hanna Bekker vom Rath, 1918) im Archiv
Hanna Bekker vom Rath in Privatbesitz in Ffm. Karikatur (von
Lino Salini, 1919) in der Serie „Ffter Köpfe“ in der Kleinen Presse vom 22.2.1919 (Original im HMF; Exemplare aus der KP u. a. im Teilnachlass im Hindemith Institut Fft. und im ISG). Porträt (von Rudolf W. Heinisch, o. D.) mit unbekanntem Verbleib.
Ffter Wohnadressen: Opernplatz 8 (lt. Ffter Theater-Almanach 1893-95), Rheinstraße 19 (lt. Ffter Theater-Almanach 1895/96 und Adr. 1896-99), Schwindstraße 22 (lt. Ffter Theater-Almanach 1899/1900, Nachtrag zum Adr. 1899 und Adr. 1900-03), Kettenhofweg 19 (lt. Adr. 1904-08), Niedenau 72 (lt. Adr. 1909-30), vom Rath-Straße (heute: Walter-vom-Rath-Straße) 1 (ab 1.9.1930).
R.s Grabstätte auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann II GG 29) wurde 1962 nicht abgeräumt, sondern zu einem Persönlichkeitsgrab umgewidmet und wird inzwischen als Patenschaftsgrab von der Fondation Hindemith dauerhaft gepflegt.
Teilnachlässe im Hindemith Institut Fft. und im Archivzentrum der UB Ffm.
In seinem Nachruf auf R. hatte
Adorno 1932 geschrieben: „Was am Lebenden versäumt ward, den man dem Fetisch der Prominenz opferte, ohne dem Gealterten, Müden, wohl schon Kranken so tätig zu danken, wie es die Pflicht einer Stadt gewesen wäre, die ihres Kulturbewußtseins so laut sich rühmt –, das läßt sich am Toten nicht wieder gutmachen.“ [Nachruf von
Theodor Wiesengrund-Adorno in: Die Musik 24 (1931/32), H. 10 (Juli 1932), S. 764f., hier S. 764.] Da R. jüdischer Herkunft war, wurde die Erinnerung an ihn in der NS-Zeit gelöscht. Erst ab 1957, als die Stadt Ffm. zu seinem 25. Todestag einen Kranz auf seinem Grab niederlegen ließ, wurde R. wieder regelmäßiger gedacht. Zum 100. Geburtstag 1964 Feierstunde mit der Uraufführung einer von R. komponierten Sonate für Klavier und Bratsche (1931) im Kammerspiel und Gedenkausstellung im Opernfoyer der Städtischen Bühnen, organisiert u. a. von Gertrud Hindemith und Otfried Büthe, Dramaturg am Opernhaus und Leiter der Musik- und Theaterabteilung an der UB Ffm. Zum 150. Geburtstag 2014 Ausstellung „Ludwig Rottenberg (1864-1932) – ein Leben für die Ffter Oper“ im Hindemith Kabinett im Kuhhirtenturm in Sachsenhausen.
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Frankfurter Biographie 2 (1996), S. 221f.,
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