Edinger, Johanna Gabriele Ottilie, gen. Tilly (familiär auch: Ty). Späterer offizieller Vorname (seit Annahme der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft 1945): Tilly (unter Aufgabe der ursprüngl. drei Vornamen). Dr. phil. nat. Sc. D. (hon.) Dr. rer. nat. h. c. Dr. med. h. c. Paläontologin. Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.* 13.11.1897 Ffm., † 27.5.1967 Cambridge/Massachusetts (USA), beigesetzt auf dem Ffter Hauptfriedhof.
Tochter des Neurologen
Ludwig E. (1855-1918) und dessen Ehefrau
Anna, geb. Goldschmidt (1863-1929), die sich in der Frauenbewegung engagierte und auf sozialem Gebiet arbeitete; die Mutter stammte aus einer traditionsreichen Ffter jüdischen Familie, die seit 1397 in der Stadt ansässig war. Zwei Geschwister: Mark Adolf Friedrich, gen.
Fritz, E. (1888-1942), Neurologe (Dr. med.) und Soziologe (Dr. phil.), zunächst niedergelassener Nervenarzt, später politischer Publizist, Sozialdemokrat, deportiert aus der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke in Bendorf-Sayn am 15.6.1942 in das Vernichtungslager Sobibor und dort wahrscheinlich direkt nach der Ankunft am 19.6.1942 ermordet; Julie Rosa Dorothea, gen.
Dora (familiär auch: Dowie), E. [seit 1921 verh. Lipschitz (nach der Emigration in die USA 1938: Lindley), 1894-1982], verheiratet mit dem Pharmakologen Werner Lipschitz (nach der Emigration in die USA 1938: Lindley; 1892-1948), emigriert 1933 in die Türkei und 1938 weiter in die USA. Cousin:
Otto Riesser (1882-1949), Pharmakologe und Physiologe. Ledig und kinderlos.
Geboren im Haus Leerbachstraße 27 im Ffter Westend, das der Vater um 1896/97 von dem früheren Oberbürgermeister
Johannes (von) Miquel erworben und mit der Familie im Frühjahr 1897, etwa ein halbes Jahr vor E.s Geburt, bezogen hatte. E. wuchs dort in einer großbürgerlichen und gastfreundlichen Atmosphäre auf. Auch die Kollegen des Vaters
Ludwig E. verkehrten in der Familie, darunter prominente Wissenschaftler wie
Paul Ehrlich, an den sich E. später besonders erinnerte, weil er sie einmal wegen einer verunglückten Schularbeit getröstet hatte.
Ab etwa 1904 Privatunterricht, vermutlich zumindest in den Elementarfächern erteilt durch die Lehrerin („Fräulein“) Luise Coßmann (1863-1954). Der Vater setzte die Schwerpunkte in der Schulausbildung von E. und ihren beiden Geschwistern auf Naturwissenschaften, moderne Sprachen (Englisch und Französisch) und Kunst; außerdem wurden den Kindern im Elternhaus fundierte Kenntnisse der Weltliteratur (
Goethe und Shakespeare) vermittelt. Im Zeichnen dagegen wurde E. nicht unterrichtet, zumal sie – anders als ihr Vater – kein zeichnerisches Talent hatte, so dass sie bei ihren späteren wissenschaftlichen Arbeiten immer auf den Einsatz von professionellen Zeichnerinnen und Zeichnern angewiesen war. Faszinierende wie prägende Erlebnisse in ihrer Kindheit waren für E. die Besuche im Senckenbergmuseum. Früh wurde sie vom Vater in dessen wissenschaftliche Arbeit einbezogen, u. a. in tierpsychologische Versuche mit einem Schäferhund.
Von 1910 bis 1916 Besuch der Schillerschule in Sachsenhausen, abgeschlossen mit dem Abitur. Die 1908 eröffnete Schillerschule, deren Gründung von
Ludwig E. unterstützt worden war, war damals die erste und einzige Mädchenschule in der Stadt, die als „Studienanstalt“ zum Abitur führte und damit den Zugang zum Hochschulstudium ermöglichte. Am 14.2.1910 wurde E. zunächst in die Klasse M 4 des Lyzeums an der Schillerschule aufgenommen, bevor sie ab Ostern 1910 in die Untertertia der Studienanstalt ging. Zu Ostern 1914 wechselte sie auf die „Deutsche Frauenschule am Reinhardswald“, ein neu eröffnetes Mädcheninternat in (Fuldatal-)Ihringshausen bei Kassel, aus dem sie jedoch nach wenigen Wochen floh, um an die Schillerschule zurückzukehren. Zu ihren Klassenkameradinnen in der Schillerschule gehörten: Marta Fraenkel (1896-1976), Medizinerin; Elli Franz (1896-1983), Entomologin, ab 1938 Leiterin der Sektion Entomologie am Senckenbergmuseum;
Rose Hölscher (1897-1965), Medizinerin; Lucie Ney (später verh. Jessner, 1896-1979), Psychiaterin und Psychoanalytikerin. In ihrem 17. Lebensjahr wurde bei E. eine ererbte Otosklerose diagnostiziert, in deren Folge sie unter zunehmender Schwerhörigkeit litt; spätestens ab den 1920er Jahren musste sie einen Hörapparat tragen, ohne den sie zuletzt (etwa seit den ausgehenden 1940er Jahren) vollkommen taub war.
Von 1916 bis 1921 Studium der Naturwissenschaften sowie der Psychologie, der Literatur- und der Theaterwissenschaft in Heidelberg (SS 1916), Ffm. (WS 1916/17), Heidelberg (SS 1917), München (WS 1917/18), Heidelberg (SS 1918) und Ffm. (WS 1918/19 bis SS 1921). Mit der Immatrikulation an der Universität Heidelberg am 2.5.1916 begann E. ihr Studium zunächst mit Geologie (bei Wilhelm Salomon-Calvi) im Hauptfach und Zoologie (bei Otto Bütschli und Hans Driesch) im Nebenfach. Während ihrer Heidelberger Semester wohnte sie in der Pension von Clara Bezner, wo gelegentlich auch der Dichter
Stefan George logierte; dadurch lernte sie bald den Literaturhistoriker Friedrich Gundolf (1880-1931) und dessen spätere Frau Elisabeth Salomon (seit 1926 verh. Gundolf, 1893-1958) kennen, mit der sie sich anfreundete. Zum Wintersemester 1916/17 wechselte E. an die Universität Ffm. und zum Hauptfach Zoologie (bei Otto Steche); daneben besuchte sie Lehrveranstaltungen und Kurse u. a. in Anatomie (bei
Hans Bluntschli und Ernst Göppert) und Psychologie (bei Friedrich Schumann). Zusammen mit ihrer Schwester Dora E. nahm sie an der Vorlesung über „Bau und Verrichtungen des Nervensystems“ von ihrem Vater
Ludwig E. teil, die sich an Hörer aller Fakultäten richtete. Während ihrer Ffter Studienzeit pflegte E. zudem ihre Theaterleidenschaft nicht nur als Besucherin: Am Neuen Theater wirkte sie als Statistin in mindestens zwei Aufführungen mit, in „Die Bürger von Calais“ (29.1.1917) und „Hölle, Weg, Erde“ (5.12.1919), beide Werke von Georg Kaiser in Uraufführung unter der Regie des Theaterdirektors
Arthur Hellmer. In ihrem Münchner Semester 1917/18 nahm sie an einem Seminar „Praktische Theaterkritik mit Berücksichtigung des Spielplans“ (bei Arthur Kutscher) teil, und sie hörte eine Vorlesung „Deutsche Romantik im Überblick“ (bei Fritz Strich). Schwerpunkt ihres Studiums aber blieb auch in München die Zoologie (bei Richard Hertwig). Daneben zeigte sie wieder mehr Interesse an der Geologie (bei Ernst Weinschenk). Der Aufenthalt in München endete für E. jäh mit dem Tod des Vaters
Ludwig E. (26.1.1918), weswegen sie vorübergehend nach Ffm. heimkehrte. Im folgenden Heidelberger Semester im Sommer 1918 konzentrierte sich E. erneut stärker auf die Geologie (bei Wilhelm Salomon-Calvi). Seit ihrer Rückkehr nach Ffm., wo sie sich am 26.9.1918 wieder an der Universität immatrikulierte, studierte E. zwar weiterhin Zoologie (bei
Otto zur Strassen) im Hauptfach, verfolgte aber auch künftig breit gefächerte Interessen in den Naturwissenschaften, etwa mit Besuchen von Vorlesungen und Kursen in Botanik (bei
Martin Möbius), Mineralogie (bei Wilhelm Eitel), Paläontologie (bei
Fritz Drevermann), Psychologie (bei Adhémar Gelb und Hans Henning), Chemie (bei
Martin Freund und Fritz Mayer), noch ohne Neigung zu einem speziellen Fachgebiet.
1919 Hinwendung zur Paläontologie. Während eines Ostseeurlaubs im Spätsommer 1919 wurde das Lesen des Buchs „Grundzüge der Palaebiologie der Wirbeltiere“ (1912) von Othenio Abel (1875-1946) zum Schlüsselerlebnis für E. Der Verfasser entwarf darin neue wissenschaftliche Perspektiven für die Paläontologie, weg von der bloßen Beschreibung und Klassifizierung von Fossilien unter Zuordnung in die entsprechenden Gesteinsformationen („Petrefaktenkunde“), hin zur umfassenden Rekonstruktion und Interpretation ausgestorbener Lebewesen und ihrer vergangenen Lebensräume („Paläobiologie“). Unter dem Eindruck der Lektüre wählte E. im Herbst 1919 Paläontologie als Hauptfach, womit für sie – nach eigenen Worten – „ein neues Leben begann“ [vgl. Kohring/Kreft (Hg.): Tilly Edinger 2003, S. 62]. Umgehend bat sie ihren Dozenten
Fritz Drevermann, Ordinarius für Paläontologie der Ffter Universität und Leiter der Geologisch-Paläontologischen Abteilung des Senckenbergmuseums, um eine paläozoologische Arbeit zum Abschluss ihres Studiums. Am Jahresende 1919 erhielt sie ein eigenes Zimmer in dem (der Universität angegliederten) Senckenbergischen Geologisch-Paläontologischen Institut (im Gebäude der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in der Robert-Mayer-Straße 6), wo sie ab 4.1.1920 an ihrer Dissertation über Nothosaurus (das von
Drevermann zugeteilte Thema) arbeitete. Seitdem, ihr ganzes weiteres Leben lang, konzentrierte sich E. vollkommen auf die Erforschung fossiler Wirbeltiere.
1921 Promotion zum Dr. phil. nat. an der Ffter Universität mit der Arbeit „Ueber Nothosaurus“ bei
Fritz Drevermann. Eigentlich sollte sich E. in ihrer Doktorarbeit insbesondere mit der Anatomie des Gaumens von Nothosaurus, einem ausgestorbenen wasserlebenden Reptil der Trias, befassen. Das Material für die notwendigen Forschungen fand sie im Senckenbergmuseum in Ffm., aber auch in Sammlungen in Heidelberg, Stuttgart und Tübingen vor. Im Frühjahr 1920 sichtete sie im Geologischen Institut in Heidelberg das Schädelfragment eines Nothosaurus mirabilis, eigentlich ein eher unansehnliches Exemplar, das jedoch eine Besonderheit aufwies: Die Schädelhöhle war vollständig mit Sediment ausgefüllt, versteinerten Ablagerungen, die einen nahezu kompletten Abguss des früheren Gehirns ergaben, wie E. aufgrund ihrer neurologischen Vorbildung sofort erkannte. Solche „Steinkerne“ aus den Schädelhöhlen fossiler Tiere waren in der Wirbeltierpaläontologie schon seit Georges Cuvier (1769-1832) als „fossile Gehirne“ beschrieben worden, was E. zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung noch nicht wusste. Ihre These vom „fossilen Gehirn“ des Nothosaurus fand sie im Austausch mit anderen Paläontologen, insbesondere dem international anerkannten Wirbeltierpaläontologen Friedrich von Huene (1875-1969) in Tübingen, bestätigt, während ausgerechnet ihr Doktorvater
Fritz Drevermann dem Gedanken offenbar eher skeptisch gegenüberstand. Im Juni 1921 bewertete
Drevermann die schriftliche Arbeit „Ueber Nothosaurus“ von E. mit der „Note ‚gut‘ (in manchen Ansätzen nach ‚sehr gut‘)“, noch ohne die innovative Leistung der Bearbeitung des fossilen Gehirns anzuerkennen. Mit der mündlichen Doktorprüfung am 12.7.1921 schloss E. ihr Studium mit der Gesamtnote „magna cum laude“ ab. Ihre Doktorarbeit „Ueber Nothosaurus“ erschien gekürzt in drei Abhandlungen („I. Ein Steinkern der Schädelhöhle“, „II. Zur Gaumenfrage“, „III. Ein Schädelfund im Keuper“) 1921/22 in der Zeitschrift „Senckenbergiana“. Daraufhin wurde E. am 1.3.1922 die Promotionsurkunde ausgestellt. Damit war sie die erste Frau in Deutschland, die im Fach Paläontologie promoviert wurde.
Ab Anfang 1922 [nach anderen Angaben: bereits ab 1921] Mitarbeiterin am Senckenbergmuseum, zunächst als Volontär-Assistentin am Geologisch-Paläontologischen Institut. E. wurde mit der Neuordnung der Sammlung fossiler Wirbeltiere, vor allem der Reptilien und der Säugetiere, befasst; daneben veröffentlichte sie kleinere Arbeiten in der hauseigenen Zeitschrift „Natur und Museum“, aber auch kurze Artikel und Buchbesprechungen u. a. in dem Journal „Naturwissenschaften“. Für ihre gesamte Tätigkeit am Senckenbergmuseum (bis 1938) erhielt E. keine Bezahlung. Wohl nicht zuletzt aufgrund der Tradition der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und ihres Museums als bürgerliche Stiftung war es lange – mindestens bis weit in die 1930er Jahre hinein – nicht unüblich, dass die Mitarbeitenden am Senckenberg, selbst Direktoren, Abteilungsleiter und Kustoden, ehrenamtlich tätig waren, so dass sie, falls sie sich kein Leben als „Privatgelehrter“ oder „Privatgelehrte“ leisten konnten, zusätzlich einer bezahlten Beschäftigung nachgehen mussten. So versteht (und relativiert) sich auch die überlieferte Äußerung von
Anna E., dass ihre Tochter Tilly „keinen Beruf“ habe. Für E., erzogen im bürgerschaftlichen Sinn ihrer Heimatstadt Ffm., blieb es selbstverständlich, kein Gehalt für ihre Arbeit am Senckenberg zu beziehen. Es wäre ihr, wie sie später sagte, geradezu „unethisch“ vorgekommen, wenn sie – so wörtlich – als „reiches Mädchen von dem armen Senck(en)b(er)g viel Geld genommen hätte“. [E. an Berta und Ernst Scharrer, 16.11.1958. Zit. nach Kohring/Kreft (Hg.): Tilly Edinger 2003, S. 85.]
Begründung der modernen vergleichenden Paläoneurologie. Die (eher zufällige) Entdeckung des fossilen Gehirns beim Heidelberger Nothosaurus während der Studien zu ihrer Doktorarbeit 1920 veranlasste E., sich der Neurologie fossiler Wirbeltiere zuzuwenden. Als Pionierin auf diesem Gebiet arbeitete sie weitgehend autodidaktisch, wobei sie die naturhistorischen Sammlungen des Senckenbergmuseums und die von ihrem Vater
Ludwig E. angelegte Tiergehirnsammlung am Neurologischen Institut als geradezu optimale Materialgrundlage für ihre Forschungen nutzen konnte, so dass ihr auch der innovative Brückenschlag von der Wirbeltierpaläontologie zur vergleichenden Neurologie gelang. Mit einer Reihe bahnbrechender Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, u. a. zu Gehirn und zentralem Nervensystem von Placodus gigas (1925), Archaeopteryx (1925), fossilen Fledermäusen (1926) und Pterosaurier (1927), begründete und etablierte sie die neue Disziplin der Paläoneurologie in der Wissenschaft. Nach einer Forschungsreise nach Amsterdam, London (mit Forschungen zum Archaeopteryx im Britischen Museum), Brüssel (mit Besuch bei Louis Dollo) und Paris im Frühjahr 1926 veröffentlichte E. ihre Arbeit über „The Brain of Archaeopteryx“ 1926 in der renommierten Fachzeitschrift „Annals and Magazine of Natural History“ in London, wodurch sie international bekannt wurde.
Seit 1927 Sektionärin der Abteilung für fossile Wirbeltiere (unter alleiniger Zuständigkeit für deren Sammlung) am Senckenbergmuseum. Neben ihrer fortgesetzten Publikationstätigkeit hielt E. auch Vorträge bei wissenschaftlichen Fachtagungen (etwa über „Skleralring-Probleme“ bei der Jahrestagung der Anatomischen Gesellschaft im April 1928 in Ffm. und bei der Jahresversammlung der Paläontologischen Gesellschaft im September 1928 in Budapest), als Volksvorlesungen und im Rundfunk (insbesondere in der Reihe „Senckenberg-Viertelstunde im Rundfunk“ des Ffter Senders, 1927-29). Im Sommer 1929 erledigte sie eine Auftragsarbeit für die Mainzer Firma „Werner & Mertz“ (mit der bekannten Marke „Erdal“) zum Verfassen von Texten für Sammelbildchen der Serien „Tiere der Vorzeit“ und „Mimikry“, gezeichnet von dem Werbegrafiker Carl Tips (1891-1962). Zudem nahm sie bezahlte Aufträge zur Bestimmung fossiler Sammlungsobjekte an der Geologischen Landesanstalt in Berlin (1929; dort nähere Bekanntschaft mit Otto H. Schindewolf) und am Museum der Stadt Essen für Heimat-, Natur- und Völkerkunde (1930) an. Nach dem Tod der Mutter
Anna E. (22.12.1929) lebte Tilly E. weiterhin in dem (in ihren Besitz übergegangenen) Elternhaus Leerbachstraße 27, jetzt in einer eigenen (kleineren) Wohnung im zweiten Stock.
1929 Erscheinen des grundlegenden Werks „Die fossilen Gehirne“ von E. Bereits ab 1922 plante E. eine zusammenfassende Arbeit zur Paläoneurologie aufgrund ihrer umfangreichen Literatursammlung und bisherigen Forschungen. Um 1926 konzentrierte sie sich ganz auf ihre „große Gehirnarbeit“ (wie sie es nannte), die sie im Frühjahr 1927 fertigstellte. Das Werk erschien 1929 im Druck, zunächst als Beitrag in der Zeitschrift „Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte“, dann als Buch bei Springer in Berlin. E. präsentierte darin erstmals umfassend die Paläoneurologie als neue paläobiologische Disziplin und zeigte deren Methoden, Ergebnisse und Perspektiven auf. Sie erreichte mit dem Buch, das sie ihrem Vater
Ludwig E. widmete, die internationale Anerkennung als Spezialistin auf ihrem Forschungsgebiet. Dennoch sah E. selbst in dem Werk eher eine wissenschaftliche Zwischenbilanz, deren Überarbeitung, Ergänzung und Aktualisierung sie immer beabsichtigte, aber nie verwirklichen konnte.
Von 1931 bis 1933 außerplanmäßige Assistentin am Neurologischen Institut der Universität. Diese (bezahlte) Tätigkeit an dem einst von ihrem Vater gegründeten Institut übte E. an zwei Tagen der Woche neben ihrem Amt am Senckenbergmuseum aus. Insbesondere war sie mit der Neuordnung und Katalogisierung des vorhandenen Bestands von Wirbeltiergehirnen betraut. Bis zu ihrem Ausscheiden im Juli 1933 stellte sie den Katalog „Vergleichend-Anatomische Präparate des Neurologischen Instituts“ fertig. Ein neues Forschungsinteresse zeigte E. in jenen Jahren für Konkrementsteine bei fossilen Säugetieren, möglicherweise angeregt durch den Kolloidforscher
Raphael Eduard Liesegang, mit dem zusammen sie den Aufsatz „Darmstein, Sprudelstein und Eisblume“ 1932 in „Natur und Museum“ veröffentlichte. Einer ihrer Schüler in dieser Zeit war Heinz A. Lowenstam (eigentl.: Löwenstamm; 1912-1993), der später für seine Entdeckungen auf dem Gebiet der Biomineralisation bekannt wurde. Am Senckenbergmuseum übernahm nach dem Tod von
Fritz Drevermann (16.3.1932) dessen bisheriger Stellvertreter
Rudolf Richter (zunächst kommissarisch und nicht unumstritten) die Geschäftsführung der SNG und die Leitung der Abteilung für Geologie und Paläontologie. Von
Richter wurde E. noch 1932 aufgefordert, ihr Buch über die fossilen Gehirne als Habilitationsschrift einzureichen. Bereits in den 1920er Jahren hatte sie zweimal (in Ffm. und Heidelberg) erfolglos den Versuch der Habilitation unternommen. Diesmal zerschlugen sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 jegliche Aussichten für E. auf eine Professur an einer deutschen Universität.
Von 1933 bis zum 9.11.1938 „Untergrund-Kuratorin“ am Senckenbergmuseum. (E. bezeichnete sich selbst im Rückblick auf ihre Jahre in der NS-Zeit am Senckenberg als „Untergrund-Kurator“
[sic!]. E. an Otto H. Schindewolf, 21.11.1947. Zit. nach: ebd., S. 139.) Am Neurologischen Institut wurde E. von dessen kommissarischem Direktor, dem Pathologen
Bernhard Fischer-Wasels, bereits im Mai 1933 „gebeten“, auf ihre dortige Assistentenstelle „freiwillig“ zugunsten von einem „arischen“ (und von ihr selbst vorzuschlagenden) Nachfolger zu verzichten; sie reichte daraufhin am 11.5.1933 ihre Kündigung ein, wobei sie noch bis zu ihrem letzten Arbeitstag am 1.7.1933 unbehelligt im Institut tätig sein konnte. Am Senckenbergmuseum hielt
Rudolf Richter die drei jüdischen Mitarbeitenden Tilly E.,
Fritz Haas und
Franz Weidenreich, indem er den Handlungsspielraum nutzte, der sich ihm an einem Stiftungsinstitut (noch) bot. Trotz einer schwierigen internen Situation am Senckenberg, u. a. aufgrund von anhaltenden Auseinandersetzungen mit
Otto zur Strassen um
Drevermanns Nachfolge, was
Richter entscheidend zum Eintritt in die NSDAP und zur zügigen Umstellung auf das „Führerprinzip“ am Senckenbergmuseum bewog, durfte E. 1933 weiterhin – wohl mit nur zwei kurzen Unterbrechungen – im Museum arbeiten. Nach Beruhigung der Lage am Senckenberg mit
Richters Berufung auf das Ordinariat für Paläontologie an der Universität zum 1.5.1934 konnte E. bleiben. Sie behielt ihre uneingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten im Museum, musste sich auf
Richters Anweisung aber nach außen hin „unsichtbar“ machen, was auch deshalb gelang, da sie kein Gehalt bezog und daher in entsprechenden Verwaltungsvorgängen nicht auftauchte. Das Türschild an ihrem Arbeitszimmer wurde entfernt, sie musste bei Anmeldung fremder Besucher durch die Hintertür verschwinden, konnte an wissenschaftlichen Tagungen nicht mehr teilnehmen und durfte ab 1934 keine Artikel mehr in der hauseigenen Zeitschrift „Natur und Volk“ (die aus „Natur und Museum“ hervorgegangen war) veröffentlichen. Seit 1935 arbeitete sie versteckt in einem Kämmerchen hinter dem Arbeitszimmer des Direktors, wo sie trotz Besuchen der Gestapo im Museum unentdeckt blieb. Nachdem sie anfangs noch wissenschaftliche Schriften (u. a. „Über Gehirne tertiärer Sirenia Ägyptens und Mitteleuropas, sowie der rezenten Seekühe“, erschienen in den Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1933) und Buchrezensionen publizieren konnte, musste E. unter dem Druck der Herausgeber im März 1938 von ihrer langjährigen Mitarbeit am „Neuen Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie“ zurücktreten, und im Juli 1938 wurde ihr die Mitarbeit an weiteren Fachzeitschriften (u. a. am „Zentralblatt für Mineralogie, Geologie und Paläontologie“) verboten. Angesichts ihrer zunehmenden (wissenschaftlichen) Isolation schrieb sich E. am 1.8.1938 beim amerikanischen Konsulat in Stuttgart für die Einwanderung in die USA ein; allerdings erhielt sie zunächst eine Ausreisenummer für August 1940, die später auf Juni 1941 verschoben wurde. Am 9.11.1938 arbeitete E. noch im Senckenbergmuseum. Am folgenden Morgen, nach dem Novemberpogrom, wurde sie von einer ihr befreundeten Mitarbeiterin, der Zeichnerin Gertrud Winter-von Moellendorff (1882-1945), telefonisch davor gewarnt, ins Museum zu kommen. Mit dem offiziellen Verbot des Besuchs von öffentlichen kulturellen Veranstaltungen und Institutionen (wie Museen) für Juden am 12.11.1938 durfte E. das Senckenbergmuseum nicht mehr betreten.
Emigration, zunächst im Mai 1939 nach London, dann im Mai 1940 weiter in die USA. Bereits im Juli 1938 hatte E. eine erste Anfrage an den US-amerikanischen Paläontologen Alfred Sherwood Romer (1894-1973) wegen Arbeitsmöglichkeiten am Museum of Comparative Zoology an der Harvard University in Cambridge/Massachusetts gerichtet. Angesichts der langen Wartezeit bis zur beantragten Einwanderung in die USA versuchte sie, eine andere Möglichkeit zu finden, um Deutschland schnellstmöglich verlassen zu können. Durch die von der NS-Regierung gegen Juden verhängten Zwangsabgaben (wie „Reichsfluchtsteuer“), wofür sie 1938/39 insgesamt 97.812 Mark zu entrichten hatte, verlor E. fast ihr ganzes Vermögen. Das Haus in der Leerbachstraße 27 musste sie im Februar 1939 unter Wert verkaufen. Den Ausschlag für eine Einreisegenehmigung nach England gab schließlich, dass sie ein bescheidenes Einkommen vorweisen konnte: Der Ffter Pathologe Philipp Schwartz (1894-1977), der seit seiner Emigration 1933 an der Universität Istanbul lehrte, hatte ihr angeboten, als Übersetzerin seiner medizinischen Schriften in London zu arbeiten. Am 3.5.1939 verließ E. ihre Heimatstadt Ffm., um sich vorübergehend in London niederzulassen. Mit einem Visum für zwei Jahre Aufenthalt in England hoffte sie, die Zeit bis zur Auswanderung in die USA überbrücken zu können. Neben der Übersetzungstätigkeit für Philipp Schwartz hatte sie in London einen Arbeitsplatz in der Bibliothek des Natural History Museum. Am 5.3.1940 erhielt E. ihr Visum für Amerika, wozu auch ihre internationalen (wissenschaftlichen) Kontakte beigetragen hatten, u. a. zu Alfred Sherwood Romer und Elsa Brandström (1888-1948) sowie zu der Pathologin Alice Hamilton (1869-1970), einer Freundin ihrer Eltern, und der Psychiaterin Lucie Jessner, ihrer Ffter Schulkameradin, alle in Massachusetts. Nach der Überfahrt mit dem Schiff kam E. am 11.5.1940 in New York an. Von dort aus erreichte sie Ende Mai 1940 Cambridge/Massachusetts, wo ihr Romer eine kleine Anstellung am Museum of Comparative Zoology verschafft hatte. Bereits am 17.7.1940 reichte E. die „Declaration of Intention“ (Absichtserklärung) zur Beantragung der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft ein; nachdem sie im November 1941 für staatenlos erklärt worden war, wurde sie am 17.9.1945 US-amerikanische Staatsbürgerin.
Von 1940 bis zur Pensionierung 1964 Mitarbeiterin („Research Associate in Paleontology“) am Museum of Comparative Zoology an der Harvard University in Cambridge/Massachusetts. Gleich mit ihrer ersten Publikation in Amerika, einer Untersuchung über das Gehirn von Flugsauriern („The brain of Pterodactylus“, erschienen im „American Journal of Science“, 1941), knüpfte E. an ihre wissenschaftliche Arbeit in Deutschland an. Ab 1941 wurde sie für ein Forschungsprojekt zur Evolution des Gehirns der Pferde gefördert, u. a. mit dem Stipendium „Penrose Bequest“ der Geological Society of America (1941) und einem Guggenheim Fellowship (1943). 1944/45 unterrichtete E. als Dozentin für Zoologie am Wellesley College nahe Boston/Massachusetts. Nach dem Tod des bisherigen Museumsdirektors Thomas Barbour (1884-1946), der seit 1931 Ewiges Mitglied der SNG in Ffm. gewesen war, wurde Alfred Sherwood Romer am 1.9.1946 dessen Nachfolger am Museum of Comparative Zoology. E. unterstützte ihren neuen Chef und „Lebensretter“ u. a. bei der Arbeit an einer umfassenden Bibliographie fossiler Wirbeltiere („Bibliography of fossil vertebrates exclusive of North-America, 1509-1927“, erstellt von Alfred Sherwood Romer, Nelda E. Wright, Tilly E. und Richard van Frank, 2 Bde., 1962). Ab Ende der 1940er Jahre intensivierte E. zudem ihre Vortragstätigkeit, wobei sie in renommierten wissenschaftlichen Vortragsreihen der USA auftrat. So hielt sie ihren Vortrag „The Evolution of the Brain“ als „17th annual James Arthur Lecture On the Evolution of Human Brain” in New York (26.5.1948).
1948 Erscheinen der Monographie „Evolution of the Horse Brain“ von E. Nach rund dreijähriger Arbeit hatte E. das Forschungsprojekt zur Evolution des Gehirns der Pferde um die Mitte der 1940er Jahre weitgehend abgeschlossen. Infolge eines aufwendigen Editionsprozesses erschien das Buch erst 1948 im Druck. In dem nicht nur für die Paläoneurologie, sondern allgemein für die Paläontologie wichtigen Werk präsentierte E. eine neuartige Herangehensweise an phylogenetische Fragestellungen: Sie zeigte auf, dass die Evolution der Pferde nicht geradlinig verlaufen ist, und begründete demzufolge das „Konzept der nichtkorrelierten Prozesse“, wonach evolutionäre Veränderungen von Gehirn und Skelett unabhängig voneinander – etwa in unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten – vorgehen. Damit erwies sie sich als Wegbereiterin des modernen Evolutionsverständnisses, indem sie das heute gültige Prinzip der Mosaikevolution vorwegnahm.
Unvollendete Projekte der späten Jahre: die Neufassung des Buchs über „Die fossilen Gehirne“, die Bibliographie zur Paläoneurologie, die Forschungen über pathologische Fischknochen. Bereits auf der Jahrestagung der Society of Vertebrate Paleontology 1948 in New York wurde beschlossen, dass E. eine aktualisierte Neufassung ihres Buchs „Die fossilen Gehirne“ in englischer Sprache verfassen sollte, wofür die Gesellschaft ihr Unterstützung bei der Finanzierung zusagte (was letztlich E.s Europareise 1950 ermöglichte). Wohl ab Ende der 1950er Jahre arbeitete E. zugleich an einer Bibliographie zur Paläoneurologie unter regelmäßiger Erfassung entsprechender Daten in einer Kartei. Außerdem beschäftigte sie sich seit Beginn der 1960er Jahre mit der Erforschung pathologisch veränderter Fischknochen, wofür sie sich schon seit 1933 interessierte, als ihr am Nationalmuseum in Prag einige dieser seltsam vergrößerten und deformierten Knochen zur Bestimmung vorgelegt worden waren. Im Rahmen der Forschungen zu den pathologischen Fischknochen (deren Verformung letztlich auf Hyperostose zurückgeführt werden konnte) ergaben sich neue Kontakte zum Senckenbergmuseum, insbesondere zu dem Meeresbiologen Wolfgang Klausewitz (1921-2018), mit dem E. sich 1964 in Ffm. und 1965 in Cambridge zum wissenschaftlichen Austausch traf. Keines der drei intensiv betriebenen Projekte schloss E. mit einer Veröffentlichung ab. Als Andrew Konnerth (1922-2021), ein früherer Kollege am Museum in Cambridge, mit dem E. über die pathologischen Fischknochen anfangs zusammengearbeitet hatte, eine eigene Publikation dazu herausbrachte und – eigentlich ihr zu Ehren – mit „Tilly Bones“ betitelte (1966), nahm sie das übel und fühlte sich lächerlich gemacht.
1950, 1955, 1962, 1964 und 1965 Europareisen mit Besuchen in Ffm. Die erste Europareise (mit Stationen in London, Oxford, Paris, Lyon, Genf, Bern, Basel, Zürich, München, Tübingen, Stuttgart, Heidelberg, Ffm., Wiesbaden, Amsterdam, Haarlem, Leiden) von Mai bis September 1950 diente E. der wissenschaftlichen Bestandsaufnahme für ihre „Paleoneurology“, die geplante Neuausgabe des Buchs über „Die fossilen Gehirne“ in englischer Sprache. Die Vielzahl fossiler Gehirne, die E. allein schon in englischen Sammlungen vorfand, ließ sie allerdings an der Realisierbarkeit ihres Vorhabens zweifeln. Im Rahmen der Reise besuchte E. erstmals seit ihrer Emigration wieder Ffm., wo sie während eines elftägigen Aufenthalts im Senckenbergmuseum und im Neurologischen Institut arbeitete. Das Wiedersehen mit ihrer früheren Heimatstadt erfüllte sie mit zwiespältigen Gefühlen: „Alles war schön, außer Frankfurt, jeder so sehr, sehr, sehr freundlich zu mir, auch jeder[,] der mich einst nicht mehr gekannt hatte.“ (E. an Otto H. Schindewolf, 10.9.1950. Zit. nach: ebd., S. 227.) Befremdet war sie von der Begegnung mit ihrem früheren Chef
Rudolf Richter, der sich bei ihr, „eine Photokopie nach der andren vorlegend“, für sein Verhalten in der NS-Zeit rechtfertigen wollte: „(…) armer Irrer! es war wohl, weil ich ihm ständig klar zu machen versucht hatte, daß ja alles mich-betreffende edel und korrekt war, aber: ohne menschliche Wärme. Die auch noch zuzugeben wollte er mich scheint’s zwingen.“ (E. an Otto H. Schindewolf, 10.9.1950. Zit. nach: ebd., S. 227. Schon früher war E. ein Entlastungszeugnis für
Richter im Rahmen von dessen Entnazifizierungsverfahren schwergefallen: Sie hatte sich am 11.5.1947 letztlich zu drei knappen Sätzen durchgerungen, die ohnehin nicht mehr nötig gewesen wären, da
Richter zu diesem Zeitpunkt bereits entnazifiziert war.) Im späteren Rückblick meinte E., es habe bei ihrem ersten Nachkriegsbesuch in Ffm. nur zwei glückliche Augenblicke gegeben, die sich ein bisschen wie „Nachhauskommen“ angefühlt hätten: im Neurologischen Institut und beim Wiedersehen mit dem Physiologen
Albrecht Bethe (der die Grabrede auf ihren Vater
Ludwig E. gehalten hatte). (E. an
Hans Bluntschli, 5.12.1954. Zit. nach: ebd., S. 228.) Die zweite Europareise (mit Stationen in Bremen, Hamburg, Göttingen, Ffm., Gießen, Paris, Florenz, Pisa, Parma, Padua, Ascona, Zürich, München, Ffm., Brüssel, London, Groningen, Bremerhaven) von März bis August 1955 hatte die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von
Ludwig E. zum Anlass, an denen E. am 13.4.1955 in Ffm. und beim „International Congress of Neurobiologists“ vom 3. bis 7.8.1955 in Groningen teilnahm. Zudem war sie eingeladen worden, auf dem Internationalen Kolloquium „Problemes actuels de Paléontologie“ vom 18. bis 23.4.1955 in Paris einen Vortrag (über „L’importance générale de la paléoneurologie“) zu halten. Bei einem zweiten, etwa einmonatigen Fft.aufenthalt auf dieser Reise arbeitete E. im Juni 1955 am Senckenbergmuseum. Während ihrer dritten Europareise (mit Stationen in Caen, Paris, Zürich, Tübingen, Ffm., Kiel) von August bis etwa Oktober 1962 nahm E. zu Anfang September 1962 an der Jubiläumstagung zum 50-jährigen Bestehen der Paläontologischen Gesellschaft in Tübingen teil, auf der sie einen Vortrag über „Neues aus der Paläoneurologie“ hielt. Wieder war der Aufenthalt in Deutschland für E. mit einer schmerzlichen Spannung [wörtlich: „painful tension“, zit. nach: Kohring/Kreft (Hg.): Tilly Edinger 2003, S. 257] verbunden, und der Besuch in Ffm. im weiteren Verlauf des Monats September 1962 wirkte diesmal offenbar besonders niederschmetternd auf sie. Das (gerade im Umbau befindliche) Senckenbergmuseum nannte sie gar „a depressing place“ (zit. nach: ebd., S. 259). Aufgeschlossener zeigte sie sich anlässlich der Eröffnung des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, dessen (nicht nur räumlicher) Zusammenschluss mit dem Neurologischen Institut in dem Neubau in der Deutschordenstraße 46 damals vollzogen wurde. E.s vierte Europareise von Mai bis Juli 1964 bestand fast ausschließlich aus einem längeren Aufenthalt in Ffm. E. reiste an, um an den Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum der Ffter Universität teilzunehmen, und in diesem Rahmen nahm sie stolz den Ehrendoktor der Medizinischen Fakultät entgegen, eine Ehrung, von der sie erst kurz vor dem Festakt überrascht erfahren hatte. Zudem sichtete E. am Senckenbergmuseum wichtiges Material für ihre Arbeiten und sprach mit Wolfgang Klausewitz über die Bearbeitung der pathologischen Fischknochen. Die fünfte Europareise im August 1965 unternahm E. erstmals nicht mit dem Schiff, sondern mit dem Flugzeug. Nach ihrer Ankunft auf dem Ffter Flughafen am 1.8.1965 fuhr sie direkt weiter nach Wiesbaden, wo sie am „VIIIth International Anatomist’s Congress“ (8.-14.8.1965) teilnahm und einen eigenen Vortrag hielt. Beim anschließenden „2. International Symposium on Phylogenesis and Ontogenesis of the Forebrain“ (16.-19.8.1965) im Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Ffm. sprach sie über die Entwicklung des Gehirns der Camelidae, und im Senckenbergmuseum hielt sie einen Kurzvortrag über pathologische Fischknochen. Es sollte ihr letzter Besuch im Senckenbergmuseum, in Ffm. und in Deutschland bleiben.
Am 15.5.1964 Ausscheiden aus dem aktiven Dienst am Museum of Comparative Zoology in Cambridge. Nach einem langwierigen Entschädigungsverfahren erhielt E. seit 1961 (rückwirkend ab 1.1.1958) eine Rente des Landes Hessen. Während sie für ihre Vermögensverluste aufgrund der Verfolgung in der NS-Zeit im Laufe der 1950er Jahre entschädigt worden war, waren ihre Ansprüche auf Entschädigung wegen Schadens im beruflichen Fortkommen unter Hinweis auf ihre „ehrenamtliche“ (weil unbezahlte) Tätigkeit am Senckenbergmuseum zunächst abgelehnt worden. Erst mittels einer Klage hatte sie, unterstützt durch den Ffter Rechtsanwalt
Jacob Flesch, die Rentenzahlung durchsetzen können. Auch nach ihrer Pensionierung arbeitete E. weiter im Museum of Comparative Zoology, insbesondere an der Bibliographie zur Paläoneurologie, die posthum erschien („Paleoneurology 1804-1966. An Annotated Bibliography“, vollendet von Bryan Patterson und Joan Echols, 1975).
1967 Tod infolge eines Verkehrsunfalls. Am Morgen des 26.5.1967 wurde E. auf dem kurzen Fußweg von ihrer Wohnung zum Museum von einem Lieferwagen erfasst und schwer verletzt. Vermutlich hatte sie ihr Hörgerät abgeschaltet und daher das herannahende Fahrzeug nicht hören können. Sie wurde, schon nicht mehr bei Bewusstsein, ins Cambridge City Hospital gebracht, wo sie am folgenden Tag starb. Zu der nächsten Fft.reise, die sie anlässlich der 150-Jahr-Feier der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft im Herbst 1967 geplant hatte, kam es somit nicht mehr. Beim Jubiläumsempfang der SNG am 27.10.1967 wurde symbolisch ein Ehrenplatz für E. freigehalten. Dem Wunsch der Verstorbenen gemäß wurde die Urne mit ihrer Asche im November 1967 im Grab der Eltern auf dem Ffter Hauptfriedhof beigesetzt. Anlässlich des 70. Geburtstags von E. am 13.11.1967 gedachte die SNG ihrer am Grab und legte einen Kranz nieder.
Seitdem sie die Paläoneurologie während ihrer Zeit am Senckenbergmuseum in den 1920er Jahren begründet und zu definieren begonnen hatte, brachte Tilly E. „ihre“ neue Disziplin in der Paläontologie kontinuierlich voran. Als international führende Wissenschaftlerin hat sie die Paläoneurologie nicht nur zeitlebens dominiert, sondern auch nachhaltig geprägt.
Seit 1921 Mitglied der Paläontologischen Gesellschaft. Seit 1921/22 Mitglied des Oberrheinischen Geologischen Vereins. Von 1922/23 bis ca. 1925/26 Mitglied der Geologischen Vereinigung. 1940 Mitbegründerin, 1962/63 Vizepräsidentin und 1963/64 Präsidentin der Society of Vertebrate Paleontology (SVP). Seit 1951 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Seit 1953 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.
1947 Ernennung zum Ehrenmitglied der SNG. 1950 Ehrendoktorwürde des Wellesley Colleges. 1957 Ehrendoktorwürde der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Gießen. 1962 Ernennung zum Ehrenmitglied der Paläontologischen Gesellschaft. 1964 Ernennung zum Ehrenmitglied („Honorary Associate“) der Harvard University. 1964 Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Ffm.
Seit 2024 Stolperstein für E. an der Stelle ihres Eltern- und Wohnhauses Leerbachstraße 27 (kriegszerstört; Grundstück heute im Zugangsbereich des Gebäudekomplexes „Die Welle“ gegenüber dem Haus Leerbachstraße 32) im Westend. Grabstätte auf dem Ffter Hauptfriedhof (Gewann II GG 21).
In der 2025 eröffneten Dauerausstellung „Gehirne“ im Senckenberg Naturmuseum in Ffm. wird E. als Begründerin der Paläoneurologie vorgestellt und der gipserne Schädelausguss eines Triceratops aus ihrem Besitz gezeigt.
Tilly-E.-Platz (bis 2014: Theodor-W.-Adorno-Platz) in Bockenheim. Tilly-E.-Preis, verliehen seit 2004 von der Paläontologischen Gesellschaft an junge Forschende für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Paläontologie und verwandter Wissenschaften mit einem paläontologischen Fokus.
Der von E. im Rahmen ihrer Studien über Nothosaurus 1922 erstmals erwähnte Schädelfund aus dem Keuper wurde durch Hans-Peter Schultze 1970 als neue Art unter dem Namen „Nothosaurus edingerae“ (zu Ehren von E.) beschrieben. Ein Krater („Edinger“) auf der Venus wurde 1994 nach E. benannt.
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