Tochter des Kaufmanns Samuel H. (1848-1924) und seiner aus Koblenz stammenden Ehefrau Caroline (auch: Cerlina, Cerline), gen. Lina, geb. Salomon (1859-1943). Schwester von
Nini H.H. wuchs mit ihrer älteren Schwester
Nini in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Die Familie wohnte seit 1903 (Adressbucheintrag ab 1904) in der Miquelstraße (heute: Siesmayerstraße) 7 in unmittelbarer Nähe des Palmengartens. Über den schulischen und beruflichen Ausbildungsweg H.’ ist bislang nichts bekannt. 1912 gewann sie eine Silbermedaille in der Kategorie „Künstlerische Photographie (Zeitgemäße Photographische Bestrebung)“ auf der Allgemeinen Deutschen Photographischen Ausstellung in Heidelberg. Im Protokoll der 38. Generalversammlung des Vereins zur Pflege der Photographie und verwandter Künste in Ffm. vom 8.10.1913 wurden u. a. „die Fräuleins
Ninny und Carry Heß, Photographinnen, Ffm.“ als neu angemeldete Mitglieder begrüßt [Photographische Korrespondenz 50 (1913), Nr. 639, S. 576]. Bei der von diesem Verein ausgerichteten Allgemeinen Photographischen Ausstellung (8.-22.10.1913) wurden sie mit einem „Diplom zur Silbernen Medaille“ ausgezeichnet. In jenem Jahr hatten die Schwestern H. gerade ihr eigenes Fotostudio gegründet, das ab 1914 im Ffter Adressbuch unter „Heß, Nini u. Carry, Photographisches Atelier“ verzeichnet war. Die großzügigen und gut ausgestatteten Räumlichkeiten befanden sich in der fünften Etage des kurz zuvor errichteten Siegmund-Strauß-Hauses in der Börsenstraße 2 (spätere Hausnummer: 2-4). Unter der äußerst zentral gelegenen Adresse firmierten auch der Kunstsalon Ludwig Schames, der Kunstmaler
Friedrich Ernst Morgenstern und das Büro des Architekten Fritz Epstein. Das Fotoatelier von
Nini und Carry H. konzentrierte sich auf Porträtfotografie und rekrutierte seine Kundschaft aus gut- und großbürgerlichen Kreisen, aus Kunst und Kultur (
Max Beckmann, Katia und
Thomas Mann, Alfred Döblin,
Hans Flesch,
Carl Zuckmayer,
Fritz von Unruh), aber auch aus Sport (
Helene Mayer), Wissenschaft (
Friedrich Dessauer) und Politik (
Ludwig Landmann).
Offenbar knüpften die Schwestern H. bereits früh Kontakte zu den Theatern der Stadt. Das überregionale Renommee, das das Atelier in den 1920er Jahren erlangte, stand in engem Zusammenhang mit dem fulminanten Aufschwung der Ffter Bühnen unter den Intendanten
Karl Zeiß und
Richard Weichert sowie dem Bühnenbildner
Ludwig Sievert. Mit der Dokumentation von deren Inszenierungen im expressionistischen bis avantgardistisch-sachlichen Aufführungsstil gehörten die Geschwister bald zu den gefragtesten Theaterfotografen, die es sich, anders als ihre männlichen Konkurrenten vor Ort (Gábor Hirsch, Fritz Nippold, Martin Pietsch und Karl Bauermann), leisten konnten, auf Werbeanzeigen in Branchenverzeichnissen oder in Programmheften zu verzichten. Sie inserierten jedoch bereits in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit ihre Ab- und Anwesenheit, wie: „Von der Reise zurück. Nini & Carry Hess. Werkstätte für die Lichtbildkunst“ (FZ, Nr. 218, 9.8.1917, Zweites Morgenblatt, S. 4). Ihre Aufnahmen von Schauspielerinnen und Schauspielern (Elisabeth Bergner, Käthe Dorsch,
Carl Ebert,
Heinrich George), Intendanten (
Richard Weichert), Regisseuren (Fritz Kortner), Tänzerinnen und Tänzern (
Niddy Impekoven, Mary Wigman) sowie Sängerinnen und Sängern (Claire Waldoff), Komponisten (
Paul Hindemith) und Dirigenten (
Wilhelm Furtwängler) wurden u. a. für Aushänge in den Theaterschaukästen und Autogrammkarten verwendet. Konzentrierten sich die Schwestern anfangs auf Porträts von Schauspielern in Zivil und im Rollenkostüm, nahm die Szenenfotografie – auch dank verbesserter technischer Möglichkeiten – im Laufe der Jahre zu. Diese Aufnahmen nutzten z. B. die Städtischen Bühnen, die den beiden Fotografinnen vertraglich eine Monopolstellung eingeräumt hatten, für die Öffentlichkeitsarbeit, so von 1924/25 bis 1933 zur Gestaltung umfangreicher Programmhefte. Ihre Mitarbeit am „Ffter Theater-Almanach“ kann bereits ab 1917/18 nachgewiesen werden, setzte eventuell sogar früher ein und endete 1929. Bemerkenswert ist der exklusive Hinweis in den Ausgaben von 1917/18 bis 1920/21, dass die meisten Aufnahmen aus der Werkstätte H. stammen würden, obwohl zahlreiche Fotografen an den Heften beteiligt waren. Freilichttheaterfestivals wie die Heidelberger Schlossfestspiele (1927) und die Ffter Römerbergfestspiele (1932) wurden von den Schwestern vor und hinter der Bühne fotografisch begleitet. Eine besondere Rolle in ihrer Arbeit spielte auch die Dokumentation der Entwicklung des Ausdruckstanzes in zahlreichen Porträts von Tänzerinnen und Tänzern, die vor allem in der Zeit von 1920 bis 1926 Gastspiele in Ffm., vorrangig im privat geführten Neuen Theater, gaben. Die Schwestern H. gehörten damit zum kleinen Kreis der auf Tanzfotografie spezialisierten Fotografen.
Eine wesentliche Einnahmequelle bot den Schwestern H. die Veröffentlichung von Fotografien in regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. Berliner Morgenpost, Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung, „Das Illustrierte Blatt“, „Das Leben“, „Der Querschnitt“, „Die Dame“, „Scherl’s Magazin“, „Tempo“, „Uhu“. Häufig dienten die Aufnahmen als Ausgangsmaterial zur Gestaltung von Titelseiten und fanden Verwendung in Büchern, etwa in „Briefe an eine Tänzerin“ von Fred Hildenbrandt (mit Aufnahmen der Tänzerin
Niddy Impekoven ausschließlich von
Nini und Carry H., 1922) und in dem Band „Das deutsche Theater der Gegenwart“, herausgegeben von Max Krell (1923). 1928 erschien „Habima. Hebräisches Theater“, ein Bildband mit 32 Fotografien der Schwestern H. und einem Einführungstext des angesehenen Theaterkritikers
Bernhard Diebold. Dieser hatte bereits Mitte der 1920er Jahre in „Deutsche Kunst und Dekoration“ über die Arbeit der beiden Fotografinnen berichtet. Die Bücherschau der in Berlin herausgegebenen Jüdisch-liberalen Zeitung lobte an dem Theaterbuch „Habima“ weniger den Text als die sich stark einprägenden Fotografien. Immer wieder wurden Porträtaufnahmen von
Nini und Carry H. in zeittypischen Anthologien veröffentlicht, u. a. in „Das Frauengesicht der Gegenwart“ (Text von Lothar Brieger, 1930), „Menschen der Zeit. Hundert und ein Lichtbildnis wesentlicher Männer und Frauen aus deutscher Gegenwart und jüngster Vergangenheit“ (in der Reihe „Die Blauen Bücher“, 1930) und „Unsere Zeit in 77 Frauenbildnissen“ (1930). Ein kontinuierliches Interesse hatten die Schwestern offenbar am Frauenporträt. Neben der Theater- und Porträtfotografie, die selbstverständlich das Kinderbildnis einschloss, entstanden Aufnahmen gesellschaftlicher Ereignisse (wie Kostümfesten), gelegentlich Fotografien von Tieren, Stillleben, Akte, Dokumentar- und Reportagefotografien (Familie Ludwig Wilhelm von Gans und ihre Villa in Oberursel, 1926; Hagenbecks Indienschau, 1927; Kongress der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Ffm., 1929) sowie Stadt- und Architekturbilder (Kloster Eberbach).
Bereits 1920 war H. in die erst ein Jahr zuvor gegründete Gesellschaft Deutscher Lichtbildner (GDL) berufen worden und zählte damit zu den wenigen Frauen der ersten Stunde. Die Schwestern beteiligten sich gemeinsam an den Ausstellungen der GDL und publizierten regelmäßig ab 1914 in „Das Atelier des Photographen“, dem späteren Organ der Gesellschaft. 1926 stellten sie in der Deutschen Photographischen Ausstellung in Ffm. aus, wo sich die GDL ebenfalls werbewirksam und geschlossen präsentierte. Sie saßen zudem mit
Hans Leistikow,
Ernst May und
Fritz Wichert in der Kommission zur Auswahl des Ausstellungsplakats. Weitere Ausstellungsbeteiligungen (in Auswahl): 1930 internationale Ausstellung „Das Lichtbild“ in München, 1932 Jahresschau „Das deutsche Lichtbild“ in Berlin; außerdem Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Galerien in Berlin (Kunsthandlung Reuß & Pollack, 1926; Kunstsalon Martha Göstel, 1929) und Ffm. (Galerie Ludwig Schames, 1930).
Wie die Schwestern ihre Arbeit organisierten, ist nicht mehr auszumachen. Eine langjährige Mitarbeiterin war Ottilie Berger (1905-1996), und 1927/28 beschäftigten sie Elisabeth Röttgers (1908-?) für drei Monate als Assistentin; weitere Assistenten sind wahrscheinlich. Die Aufnahmen wurden in der Regel mit beiden Namen „Nini & Carry Hess“ oder neutral mit „Hess“ gekennzeichnet; dennoch findet sich gelegentlich nur Carry H. als Urheberin in einer Bildunterschrift [etwa in: Deutsche Kunst und Dekoration 61 (1927-28), S. 142]. H.’ alleinige Mitgliedschaft in der GDL und selbstständige Veröffentlichungen [wie der Artikel: Wenn ich photographiere. Mit sechs Aufnahmen der Verfasserin. In: Das Leben 3 (1925-26), H. 11, S. 1177-1180] könnten den zurückhaltenden Hinweis des Ffter Fotofachhändlers Paul Knabenschuh von 1952 unterstützen, dass beide Schwestern zwar ausgebildete Fotografinnen gewesen seien, jedoch „H. mehr als Künstlerin anzusprechen“ sei, während „
Nini H. die kaufmännische Seite des Ateliers betreut habe“ (Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Best. 518 Nr. 15256, Bl. 111).
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Fotoateliers dramatisch. H. wurde nach 1936 nicht mehr im Mitgliederverzeichnis der GDL geführt. Ob sie tatsächlich, wie ein GDL-Mitglied später aussagte, auf eigenen Wunsch aus der Gesellschaft ausschied, lässt sich nicht belegen. Aufträge von Zeitschriften und Zeitungen, die die Hälfte des Geschäfts ausmachten, entfielen ebenso wie die gesamten Einnahmen aus dem nicht überlieferten Vertrag mit den Städtischen Bühnen. Lag der reine Gewinn in den besten Zeiten um 25.000-30.000 Mark im Jahr, sank er nun rapide ab. H. verließ Ffm. noch 1933 in Richtung Paris, um einer Verfolgung zu entgehen. Sie wollte den Versuch unternehmen, für sich und ihre Schwester eine neue berufliche Existenz in Frankreich aufzubauen. Im September 1938 wurde das Ffter Atelier nicht mehr unter ihrem Namen geführt. Wenig später, nach 25 Jahren des Bestehens, fiel es mitsamt seiner wertvollen fototechnischen Ausstattung und dem umfangreichen Negativ- und Bildarchiv – dem Lebenswerk der Schwestern H. – den Zerstörungen der Pogromnacht vom 9./10.11.1938 zum Opfer. Im Mai 1940 wurde Carry H. im Lager Gurs interniert, aus dem sie Anfang 1941 aufgrund ihres sich verschlechternden Gesundheitszustands entlassen wurde. Sie schlug sich – bis 1942 gemeinsam mit ihrem dann deportierten Verlobten – als Putzfrau und als Fahrradbotin für eine Apotheke in Südfrankreich durch. Ihre Mutter wurde 1942 aus Ffm. deportiert und kam in Theresienstadt ums Leben. Das Schicksal ihrer Schwester
Nini H. ist nicht bekannt; vermutlich wurde sie im gleichen Jahr nach Auschwitz verschleppt und dort 1943 ermordet. Carry H. hatte mit großen gesundheitlichen Problemen (u. a. Krebsoperation, 1945, und Entfernung des linken Auges wegen eines fortgeschrittenen grünen Stars, 1950) zu kämpfen. 1949 kehrte sie nach Paris zurück, mit dem Ziel, einen Bilderdienst aufzubauen. Dort lebte sie in äußerst ärmlichen Verhältnissen, z. T. nur mit der Unterstützung von Freunden. Seit ihrem Antrag auf Wiedergutmachung 1950 kämpfte H. beharrlich für eine Entschädigung durch die deutschen Behörden. Zur Klärung der Sachverhalte, zum Besuch von Freunden und offenbar mit der Absicht, eine Rückkehr nach Deutschland zu prüfen, hielt sie sich wiederholt in Ffm. auf (vgl. FAZ, 26.1.1952, und FR, 15.12.1956). Erst Ende 1956 wurde das Entschädigungsverfahren abgeschlossen, und H. erhielt nun Wiedergutmachungszahlungen und eine monatliche Rente. Sie starb während einer Urlaubsreise im folgenden Jahr im Rätischen Kantons- und Regionalhospital in Chur (Schweiz), wo sie seit dem 2.8.1957 behandelt werden musste. In Paris wohnte sie zuletzt in der Rue de Dunkerque 51 im 9. Arrondissement in der Nähe des Gare du Nord.
Weitere Publikationen, in denen Fotografien von
Nini und Carry H. veröffentlicht wurden (in chronologischer Reihenfolge): „
Niddy Impekoven. Lotte Pritzel-Puppe,
Erna Pinner-Puppe, Das Leben der Blume“ (mit Fotografien von
Nini und Carry H. und Hanns Holdt, 1920), „Mary Wigman“ (Text von Rudolf von Delius, 1925), Führer der Deutschen Photographischen Ausstellung in Ffm. (1926), „Das Deutsche Lichtbild“ (Jahresschau, hg. v. Hans Windisch, 1927), „Elisabeth Bergner“ (Text von Arthur Eloesser, 11.-16. Aufl. 1927), „Funkköpfe. 46 literarische Porträts“ (hg. v. Karl Wilczynski, 1927), „Der künstlerische Tanz unserer Zeit“ (Text von Hermann und Marianne Aubel, erschienen in der Reihe „Die Blauen Bücher“, 1928), „
Niddy Impekoven und ihre Tänze“ (Text von Hans Frentz, 1929), „Tänzerinnen der Gegenwart“ (hg. v. Emil Schaeffer, Bildtexte von Fred Hildenbrandt, 1931), „Männer vor der Kamera. Geschildert von ihren Fotografinnen (mit Bildbeispielen)“ [in: Uhu 9 (1932/33), H. 5, S. 29-31], „Weg und Entfaltung
Niddy Impekovens“ (Text von Hans Frentz, 1933), „Von
Bismarck bis Picasso“ (Text von Wilhelm Uhde, 1938).
Bronzene Porträtmedaille (von Helene Cornill-Dechent, 1921) im Besitz des HMF.
Seit 23.6.2014 Stolpersteine für
Nini, Carry und Lina H. vor dem Haus Unter den Eichen 7 in Sachsenhausen. Dort, in einem der Einfamilienhäuser der damals neu erbauten Heimatsiedlung, wohnten die beiden Schwestern mit der seit 1924 verwitweten Mutter von 1930 bis 1933 (Emigration von Carry H. nach Frankreich) bzw. 1935 (Umzug von Lina und
Nini H. in die Eschersheimer Landstraße 20).
Originale Fotoabzüge und Briefe von
Nini und Carry H. liegen verstreut in Museumssammlungen und Archiven sowie in Nachlässen der Porträtierten, u. a. im HMF, im ISG und in der UB Ffm. (dort in der Porträtsammlung Manskopf), in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln (dort ca. 150 Originalabzüge, 1919-33), im Archiv der Akademie der Künste in Berlin (dort Fotografien und Briefe u. a. im Elisabeth-Bergner-, im
Carl-Ebert- und im Mary-Wigmann-Archiv) und im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie in Zeitungs- und Zeitschriftenarchiven (z. B. bei „ullstein bild“).
Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen posthum (in Auswahl): „Fotografie 1919-1979 made in Germany. Die GDL-Fotografen“ im Fotomuseum des Münchener Stadtmuseums (1979/80), „‚Im Grunde hasse ich Erinnerungen’. Rundfunk und jüdische Mitarbeiter in Ffm. 1923-1945“ im Funkhaus des Hessischen Rundfunks am Dornbusch in Ffm. (1993), „Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik“ im Museum Folkwang in Essen (1994/95), bei der Stiftung „La Caixa“ in Barcelona (1995) und im Jewish Museum in New York City (1995), „Und sie haben Deutschland verlassen... müssen. Fotografen und ihre Bilder 1928-1997“ im Rheinischen Landesmuseum in Bonn (1997), „Auf geradem Weg zwischen Bildnerei und Technik: Fotografien von
Nini & Carry Hess 1920-1933“ in Schloss Wahn in Köln (2002), „Künstlerinnen im Dialog“ im Verborgenen Museum in Berlin (2017), „Moderne am Main 1919-1933“ im Museum Angewandte Kunst in Ffm. (2019) und die umfangreiche monographische Ausstellung „Die Fotografinnen
Nini und Carry H.“ (2022) im Museum Giersch der Goethe-Universität in Ffm.
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