Hess (auch: Heß), Sara Stefanie, gen. Nini. Fotografin. Diese Angaben konnten anhand von Dokumenten zweifelsfrei bestätigt werden.* 21.8.1884 Ffm., † vermutlich Januar 1943 KZ Auschwitz (ermordet).
Tochter des Kaufmanns Samuel H. (1848-1924) und seiner aus Koblenz stammenden Ehefrau Caroline (auch: Cerlina, Cerline), gen. Lina, geb. Salomon (1859-1943). Schwester von
Carry H.H. wuchs mit ihrer jüngeren Schwester
Carry in einem großbürgerlichen jüdischen Elternhaus auf. Die Familie wohnte seit 1903 (Adressbucheintrag ab 1904) in der Miquelstraße (heute: Siesmayerstraße) 7 in unmittelbarer Nähe des Palmengartens. Über den schulischen und beruflichen Ausbildungsweg H.’ ist bislang nichts bekannt. Im Protokoll der 38. Generalversammlung des Vereins zur Pflege der Photographie und verwandter Künste in Ffm. vom 8.10.1913 wurden u. a. „die Fräuleins Ninny und
Carry Heß, Photographinnen, Ffm.“ als neu angemeldete Mitglieder begrüßt [Photographische Korrespondenz 50 (1913), Nr. 639, S. 576]. Bei der von diesem Verein ausgerichteten Allgemeinen Photographischen Ausstellung (8.-22.10.1913) wurden sie bereits mit einem „Diplom zur Silbernen Medaille“ ausgezeichnet. In jenem Jahr hatten die Schwestern H. gerade ihr eigenes Fotostudio gegründet, das ab 1914 im Ffter Adressbuch unter „Heß, Nini u. Carry, Photographisches Atelier“ verzeichnet war. Die großzügigen und gut ausgestatteten Räumlichkeiten befanden sich in der fünften Etage des kurz zuvor errichteten Siegmund-Strauß-Hauses in der Börsenstraße 2 (spätere Hausnummer: 2-4). Unter der äußerst zentral gelegenen Adresse firmierten auch der Kunstsalon Ludwig Schames, der Kunstmaler
Friedrich Ernst Morgenstern und das Büro des Architekten Fritz Epstein. Das Fotoatelier von Nini und
Carry H. konzentrierte sich auf Porträtfotografie und rekrutierte seine Kundschaft aus gut- und großbürgerlichen Kreisen, aus Kunst und Kultur (
Max Beckmann, Katia und
Thomas Mann, Alfred Döblin,
Hans Flesch,
Carl Zuckmayer,
Fritz von Unruh), aber auch aus Sport (
Helene Mayer), Wissenschaft (
Friedrich Dessauer) und Politik (
Ludwig Landmann).
Offenbar knüpften die Schwestern H. bereits früh Kontakte zu den Theatern der Stadt. Das überregionale Renommee, das das Atelier in den 1920er Jahren erlangte, stand in engem Zusammenhang mit dem fulminanten Aufschwung der Ffter Bühnen unter den Intendanten
Karl Zeiß und
Richard Weichert sowie dem Bühnenbildner
Ludwig Sievert. Mit der Dokumentation von deren Inszenierungen im expressionistischen bis avantgardistisch-sachlichen Aufführungsstil gehörten die Geschwister bald zu den gefragtesten Theaterfotografen, die es sich, anders als ihre männlichen Konkurrenten vor Ort (Gábor Hirsch, Fritz Nippold, Martin Pietsch und Karl Bauermann), leisten konnten, auf Werbeanzeigen in Branchenverzeichnissen oder in Programmheften zu verzichten. Sie inserierten jedoch bereits in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit ihre Ab- und Anwesenheit, wie: „Von der Reise zurück. Nini & Carry Hess. Werkstätte für die Lichtbildkunst“ (FZ, Nr. 218, 9.8.1917, Zweites Morgenblatt, S. 4). Ihre Aufnahmen von Schauspielerinnen und Schauspielern (Elisabeth Bergner, Käthe Dorsch,
Carl Ebert,
Heinrich George), Intendanten (
Richard Weichert), Regisseuren (Fritz Kortner), Tänzerinnen und Tänzern (
Niddy Impekoven, Mary Wigman) sowie Sängerinnen und Sängern (Claire Waldoff), Komponisten (
Paul Hindemith) und Dirigenten (
Wilhelm Furtwängler) wurden u. a. für Aushänge in den Theaterschaukästen und Autogrammkarten verwendet. Konzentrierten sich die Schwestern anfangs auf Porträts von Schauspielern in Zivil und im Rollenkostüm, nahm die Szenenfotografie – auch dank verbesserter technischer Möglichkeiten – im Laufe der Jahre zu. Diese Aufnahmen nutzten z. B. die Städtischen Bühnen, die den beiden Fotografinnen vertraglich eine Monopolstellung eingeräumt hatten, für die Öffentlichkeitsarbeit, so von 1924/25 bis 1933 zur Gestaltung umfangreicher Programmhefte. Ihre Mitarbeit am „Ffter Theater-Almanach“ kann bereits ab 1917/18 nachgewiesen werden, setzte eventuell sogar früher ein und endete 1929. Bemerkenswert ist der exklusive Hinweis in den Ausgaben von 1917/18 bis 1920/21, dass die meisten Aufnahmen aus der Werkstätte H. stammen würden, obwohl zahlreiche Fotografen an den Heften beteiligt waren. Freilichttheaterfestivals wie die Heidelberger Schlossfestspiele (1927) und die Ffter Römerbergfestspiele (1932) wurden von den Schwestern vor und hinter der Bühne fotografisch begleitet. Eine besondere Rolle in ihrer Arbeit spielte auch die Dokumentation der Entwicklung des Ausdruckstanzes in zahlreichen Porträts von Tänzerinnen und Tänzern, die vor allem in der Zeit von 1920 bis 1926 Gastspiele in Ffm., vorrangig im privat geführten Neuen Theater, gaben. Die Schwestern H. gehörten damit zum kleinen Kreis der auf Tanzfotografie spezialisierten Fotografen.
Eine wesentliche Einnahmequelle bot den Schwestern H. die Veröffentlichung von Fotografien in regionalen und überregionalen Zeitungen und Zeitschriften, u. a. Berliner Morgenpost, Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung, „Das Illustrierte Blatt“, „Das Leben“, „Der Querschnitt“, „Die Dame“, „Scherl’s Magazin“, „Tempo“, „Uhu“. Häufig dienten die Aufnahmen als Ausgangsmaterial zur Gestaltung von Titelseiten und fanden Verwendung in Büchern, etwa in „Briefe an eine Tänzerin“ von Fred Hildenbrandt (mit Aufnahmen der Tänzerin
Niddy Impekoven ausschließlich von Nini und
Carry H., 1922) und in dem Band „Das deutsche Theater der Gegenwart“, herausgegeben von Max Krell (1923). 1928 erschien „Habima. Hebräisches Theater“, ein Bildband mit 32 Fotografien der Schwestern H. und einem Einführungstext des angesehenen Theaterkritikers
Bernhard Diebold. Dieser hatte bereits Mitte der 1920er Jahre in „Deutsche Kunst und Dekoration“ über die Arbeit der beiden Fotografinnen berichtet. Die Bücherschau der in Berlin herausgegebenen Jüdisch-liberalen Zeitung lobte an dem Theaterbuch „Habima“ weniger den Text als die sich stark einprägenden Fotografien. Immer wieder wurden Porträtaufnahmen von Nini und
Carry H. in zeittypischen Anthologien veröffentlicht, u. a. in „Das Frauengesicht der Gegenwart“ (Text von Lothar Brieger, 1930), „Menschen der Zeit. Hundert und ein Lichtbildnis wesentlicher Männer und Frauen aus deutscher Gegenwart und jüngster Vergangenheit“ (in der Reihe „Die Blauen Bücher“, 1930) und „Unsere Zeit in 77 Frauenbildnissen“ (1930). Ein kontinuierliches Interesse hatten die Schwestern offenbar am Frauenporträt. Neben der Theater- und Porträtfotografie, die selbstverständlich das Kinderbildnis einschloss, entstanden Aufnahmen gesellschaftlicher Ereignisse (wie Kostümfesten), gelegentlich Fotografien von Tieren, Stillleben, Akte, Dokumentar- und Reportagefotografien (Familie Ludwig Wilhelm von Gans und ihre Villa in Oberursel, 1926; Hagenbecks Indienschau, 1927; Kongress der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Ffm., 1929) sowie Stadt- und Architekturbilder (Kloster Eberbach).
Anders als ihre Schwester
Carry war Nini H. nicht Mitglied in der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner (GDL). Dennoch beteiligten sich die Schwestern gemeinsam an den Ausstellungen der GDL und publizierten regelmäßig ab 1914 in „Das Atelier des Photographen“, dem späteren Organ der Gesellschaft. 1926 stellten sie in der Deutschen Photographischen Ausstellung in Ffm. aus, wo sich die GDL ebenfalls werbewirksam und geschlossen präsentierte. Sie saßen zudem mit
Hans Leistikow,
Ernst May und
Fritz Wichert in der Kommission zur Auswahl des Ausstellungsplakats. Weitere Ausstellungsbeteiligungen (in Auswahl): 1930 internationale Ausstellung „Das Lichtbild“ in München, 1932 Jahresschau „Das deutsche Lichtbild“ in Berlin; außerdem Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Galerien in Berlin (Kunsthandlung Reuß & Pollack, 1926; Kunstsalon Martha Göstel, 1929) und Ffm. (Galerie Ludwig Schames, 1930).
Wie die Schwestern ihre Arbeit organisierten, ist nicht mehr auszumachen. Eine langjährige Mitarbeiterin war Ottilie Berger (1905-1996), und 1927/28 beschäftigten sie Elisabeth Röttgers (1908-?) für drei Monate als Assistentin; weitere Assistenten sind wahrscheinlich. Die Aufnahmen wurden in der Regel mit beiden Namen „Nini & Carry Hess“ oder neutral mit „Hess“ gekennzeichnet; im Gegensatz zu Nini trat
Carry H. gelegentlich als alleinige Urheberin auf. Dieser Umstand könnte den zurückhaltenden Hinweis des Ffter Fotofachhändlers Paul Knabenschuh von 1952 unterstützen, dass beide Schwestern zwar ausgebildete Fotografinnen gewesen seien, jedoch
Carry H. „mehr als Künstlerin anzusprechen“ sei, während „Nini H. die kaufmännische Seite des Ateliers betreut habe“ (Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Best. 518 Nr. 15256, Bl. 111).
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage des Fotoateliers dramatisch. Aufträge von Zeitschriften und Zeitungen, die die Hälfte des Geschäfts ausmachten, entfielen ebenso wie die gesamten Einnahmen aus dem nicht überlieferten Vertrag mit den Städtischen Bühnen. Lag der reine Gewinn in den besten Zeiten um 25.000-30.000 Mark im Jahr, sank er nun rapide ab. Während
Carry H. noch 1933 Deutschland verließ, um den Versuch zu unternehmen, für sich und ihre Schwester eine neue berufliche Existenz in Frankreich aufzubauen, blieb Nini H. mit der seit 1924 verwitweten Mutter in Ffm. Nini H. führte das Atelier unter gleichem Namen weiter und begann 1935, im Ffter Israelitischen Gemeindeblatt (seit 1937: Jüdisches Gemeindeblatt für die Israelitische Gemeinde zu Ffm.) zu inserieren. Neben Porträtaufnahmen bot sie anfangs noch Fotografien für Reklame und Industrie an. Dieser Bereich verschwand bald aus den Inseraten, deren Offerten sich im Laufe der Zeit, den bedrückenden Gegebenheiten entsprechend, immer stärker minimierten. 1935 folgte der vermutlich erzwungene private Umzug aus dem Einfamilienhaus Unter den Eichen 7 in die Eschersheimer Landstraße 20, da Juden zu dieser Zeit aus gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften ausgeschlossen wurden. Lina H. wohnte laut Adressbuch 1940 im Anschluss in der Eschersheimer Landstraße 20. Ob Nini H. direkt mit ihr dorthin zog oder erst 1939 bzw. spätestens 1940 folgte, ist nicht eindeutig belegt. Im September 1938 inserierte H. die „Photographische Werkstätte“ nur noch unter ihrem Namen „Nini Hess (vorm. Nini & Carry Hess)“. In derselben Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatts gratulierte ein kurzer Beitrag zum 25-jährigen Bestehen des Ateliers. Wenige Wochen später, in der Pogromnacht vom 9./10.11.1938, wurde das Atelier mitsamt der wertvollen fototechnischen Ausstattung sowie dem umfangreichen Negativ- und Bildarchiv – dem Lebenswerk der Schwestern H. – komplett zerstört. Eine kleine Anzahl von Kameras, die in der Wohnung in einem Safe aufbewahrt worden waren, wurde bald von der Gestapo abgeholt. Am 1.9.1942 wurde die Mutter Lina H. nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 6.1.1943 starb. Nini H. wurde vermutlich ebenfalls 1942 nach Auschwitz deportiert und dort wahrscheinlich im Januar 1943 ermordet.
Weitere Publikationen, in denen Fotografien von Nini und
Carry H. veröffentlicht wurden (in chronologischer Reihenfolge): „
Niddy Impekoven. Lotte Pritzel-Puppe,
Erna Pinner-Puppe, Das Leben der Blume“ (mit Fotografien von Nini und
Carry H. und Hanns Holdt, 1920), „Mary Wigman“ (Text von Rudolf von Delius, 1925), Führer der Deutschen Photographischen Ausstellung in Ffm. (1926), „Das Deutsche Lichtbild“ (Jahresschau, hg. v. Hans Windisch, 1927), „Elisabeth Bergner“ (Text von Arthur Eloesser, 11.-16. Aufl. 1927), „Funkköpfe. 46 literarische Porträts“ (hg. v. Karl Wilczynski, 1927), „Der künstlerische Tanz unserer Zeit“ (Text von Hermann und Marianne Aubel, erschienen in der Reihe „Die Blauen Bücher“, 1928), „
Niddy Impekoven und ihre Tänze“ (Text von Hans Frentz, 1929), „Tänzerinnen der Gegenwart“ (hg. v. Emil Schaeffer, Bildtexte von Fred Hildenbrandt, 1931), „Männer vor der Kamera. Geschildert von ihren Fotografinnen (mit Bildbeispielen)“ [in: Uhu 9 (1932/33), H. 5, S. 29-31], „Weg und Entfaltung
Niddy Impekovens“ (Text von Hans Frentz, 1933), „Von
Bismarck bis Picasso“ (Text von Wilhelm Uhde, 1938).
Namensblöcke für Lina und Nini H. im Namenfries der Gedenkstätte Neuer Börneplatz (eröffnet 1996). Auf der Gedenktafel (von Clemens M. Strugalla, 2005) der Städtischen Bühnen für ihre Angehörigen, die der Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime zum Opfer fielen, ist auch der Name von Nini H. genannt. Seit 23.6.2014 Stolpersteine für Nini,
Carry und Lina H. vor dem Haus Unter den Eichen 7 in Sachsenhausen. Dort, in einem der Einfamilienhäuser der damals neu erbauten Heimatsiedlung, wohnten die beiden Schwestern mit ihrer Mutter Lina H. von 1930 bis 1933 (Emigration von
Carry H. nach Frankreich) bzw. 1935 (Umzug von Lina und später Nini H. in die Eschersheimer Landstraße 20).
Originale Fotoabzüge und Briefe von Nini und
Carry H. liegen verstreut in Museumssammlungen und Archiven sowie in Nachlässen der Porträtierten, u. a. im HMF, im ISG und in der UB Ffm. (dort in der Porträtsammlung Manskopf), in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität Köln (dort ca. 150 Originalabzüge, 1919-33), im Archiv der Akademie der Künste in Berlin (dort Fotografien und Briefe u. a. im Elisabeth-Bergner-, im
Carl-Ebert- und im Mary-Wigmann-Archiv) und im Deutschen Literaturarchiv Marbach sowie in Zeitungs- und Zeitschriftenarchiven (z. B. bei „ullstein bild“).
Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen posthum (in Auswahl): „Fotografie 1919-1979 made in Germany. Die GDL-Fotografen“ im Fotomuseum des Münchener Stadtmuseums (1979/80), „‚Im Grunde hasse ich Erinnerungen’. Rundfunk und jüdische Mitarbeiter in Ffm. 1923-1945“ im Funkhaus des Hessischen Rundfunks am Dornbusch in Ffm. (1993), „Fotografieren hieß teilnehmen. Fotografinnen der Weimarer Republik“ im Museum Folkwang in Essen (1994/95), bei der Stiftung „La Caixa“ in Barcelona (1995) und im Jewish Museum in New York City (1995), „Und sie haben Deutschland verlassen... müssen. Fotografen und ihre Bilder 1928-1997“ im Rheinischen Landesmuseum in Bonn (1997), „Auf geradem Weg zwischen Bildnerei und Technik: Fotografien von Nini &
Carry Hess 1920-1933“ in Schloss Wahn in Köln (2002), „Künstlerinnen im Dialog“ im Verborgenen Museum in Berlin (2017), „Moderne am Main 1919-1933“ im Museum Angewandte Kunst in Ffm. (2019) und die umfangreiche monographische Ausstellung „Die Fotografinnen Nini und
Carry H.“ (2022) im Museum Giersch der Goethe-Universität in Ffm.
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